Um den wahren Charakter von Laodizea sehen zu können, müssen wir zwei Dinge sorgfältig erwägen. Erstens, dass wirklich eine Versammlung in Laodizea war, an die, oder an ihren Engel, dieser Brief gerichtet wurde. Zweitens, dass diese wirklich in dem Augenblick bestehende Versammlung durch den Herrn Jesus genommen wird als ein Typus eines Zustandes von Dingen, so wie es am Ende der Geschichte der Versammlung auf Erden sein würde. Mit anderen Worten, es gibt ein geschichtliches und ein prophetisches Laodizea. Nicht zu reden über die Lektionen, die in diesem Sendschreiben für die Versammlung gefunden werden in jedem Jahrhundert, von dem Augenblick ab, als dieser Brief geschrieben wurde, bis zu dem Augenblick, wo sich das entwickelt hat, was hier prophetisch vorhergesagt wird.
Wenn wir dies gesehen haben, folgt daraus, dass der Charakter von Laodizea in dem Augenblick der Abfassung dieses Briefes wirklich der Charakter des prophetischen Laodizeas ist. Waren denn in den Tagen der Apostel Christen, wirkliche Heilige Gottes, in dieser Versammlung?
Es ist vollkommen wahr, dass der Dienst des Johannes weiter geht als der Dienst des Paulus. Aber diese Tatsache verbietet nicht, dass wir, um eine Antwort auf unsere Frage zu finden, auch die Schriften des Letzteren durchforschen. Und in dem Brief an die Kolosser finden wir dann, dass Paulus schreibt: „Ich will, dass ihr wisst, welch großen Kampf ich habe um euch und die in Laodizea“ (Kol 2,1).
Er erzählt uns auch, dass Epaphras viel Arbeit der Seele hatte für die Kolosser „und die in Laodizea“ sind. Er gibt den Auftrag, dass der Brief auch gelesen werden soll „in der Versammlung der Laodizeer“ (Kol 4,16). Man kann also unmöglich verneinen, dass Gott in dem Augenblick Heilige hatte in dieser Versammlung. Und dies ist ein ganz wichtiger Hinweis, wenn wir die Sachlage in den Tagen des Johannes feststellen wollen, da wir wissen, dass nur dreißig Jahre zwischen dem Brief von Paulus an die Kolosser und dem von Johannes an die sieben Versammlungen liegen.
Aber es ist gesagt worden, dass der Wortlaut des Sendschreibens selbst die Annahme, dass da auch Gläubige gefunden werden, verbietet. Lasst uns dies untersuchen.
Nimm erst die Warnung, dass der Herr im Begriff steht, die Versammlung gänzlich zu verwerfen wegen ihres lauen Zustandes. Man hat gefragt, ob der Herr sein eigenes Volk verwerfen kann. Eine solche Frage bedeutet, dass der besondere Zweck des Sendschreibens wie auch der Charakter des „Engels der Versammlung“, der hier angesprochen wird, nicht gesehen werden. Diese Versammlung – so wie die sieben – wird betrachtet als ein Lichtträger auf Erden. Der Herr handelt also mit ihr in ihrer Verantwortlichkeit als Gefäß des Zeugnisses. Auf diesem Weg verworfen zu werden, hat darum nichts zu tun mit dem Stand der einzelnen Personen, die zusammen die Versammlung bilden, denn es wird von Laodizea insgesamt, in ihrem korporativen Charakter, gesprochen. Niemand leugnet, dass die Gemeinde als solche in einem erschreckenden Gesamtzustand war durch ihren selbstzufriedenen Hochmut und ihre Prahlerei und dass sie als solche ekelhaft für den Herrn war. Aber dies anzuwenden auf den Stand jedes Einzelnen, kann man schwerlich eine gesunde Auslegung nennen.
Beachte ferner, dass bis zum Ende von Offenbarung 3,18 der Engel angesprochen wird, der sittliche Vertreter der Versammlung. Wenn wir daran denken, neben dem früher Gesagten, wird es kaum eine Schwierigkeit geben in der Erklärung der wohlbekannten Symbole von „Gold“ und „weißen Kleidern“. Ein Unterschied muss jedoch sorgfältig beachtet werden. Indem der Herr dem Engel den Rat gibt, Gold, geläutert im Feuer, und weiße Kleider zu kaufen, wird der Engel aufgeweckt, selbst seine Augen zu salben mit Augensalbe. Dieser Unterschied ist sehr bedeutungsvoll in diesem Zusammenhang.
Offenbarung 3,19 enthält den Ausspruch eines Grundsatzes von göttlicher Bedeutung: „Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe.“ Ist dieser Grundsatz anwendbar auf unbekehrte Bekenner des Christentums? In den Sprüchen lesen wir: „Mein Sohn, verwirf nicht die Unterweisung des HERRN, und lass seine Zucht dich nicht verdrießen. Denn wen der HERR liebt, den züchtigt er, und zwar wie ein Vater den Sohn, an dem er Wohlgefallen hat“ (Spr 3,11.12). Wie der Ausdruck „mein Sohn“ deutlich zeigt, werden diese Worte gesprochen zu jemand, der in einer bekannten Verbindung steht. So auch in Hebräer 12, wo diese Schriftstelle angeführt, angewandt und erweitert wird. Und so bestehen wir auch ohne irgendwelche Bedenken auf der gleichen Auslegung für diese Stelle.
Wahrlich, jeder mögliche Zweifel verschwindet durch die Worte „So viele ich liebe“ – „so viele“, eine bestimmte Gruppe, und „die ich liebe“ gibt einem speziellen Verhältnis zu dieser Gruppe Ausdruck, d.i. nämlich das eigene Volk des Herrn. Und es ist auf dieser Grundlage, dass die Ermahnung gegeben ist: „Sei nun eifrig und tue Buße!“ Ist dies die Weise, in der Gott zu den Unbekehrten spricht? Nein, in dieser Weise spricht der Herr diejenigen an, die in Verbindung mit Ihm gebracht sind. Und hier wendet Er das an auf die, die vermengt sind mit all dieser schrecklichen Förmlichkeit, Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit. Es ist die Warnung, die aus dem Tiefsten seines Herzens kommt, damit sein Volk darauf achten möge vor der vollständigen Verwerfung dieser Versammlung und sich selbst richtet, bevor Er in seiner Liebe genötigt sein würde, seine Rute aufzuheben, um in Zucht mit ihnen zu handeln, um ihnen auf diese Weise Wiederherstellung zu bringen.
Die Verse Offenbarung 3,20 und 21 werden zu besonders unterschiedenen Personen gesprochen.
- „Wenn jemand meine Stimme hört …“
- „Wer überwindet …“
Erst haben wir die Haltung des Herrn: „Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an.“ Ohne Zweifel ist der Herr hier draußen, indessen man sich drinnen in Ihm hätte erfreuen sollen. Aber sucht Er hier zum ersten Mal Aufnahme in das Herz eines Unbekehrten, mit anderen Worten, wird hier das Evangelium vorgestellt? Der ganze Zweck, den das Sendschreiben erstrebt, verbietet diesen Gedanken wie auch der gesamte Zusammenhang, worin der Brief in diesem Sinne steht. Dass man das gebrauchen kann, um das Evangelium zu verkündigen an jemand, der behauptet, ein Christ zu sein, aber es nicht wirklich ist, ist klar. Aber die Frage ist: „Ist dies die Haltung, in der der Herr sich den Unbekehrten als ein Heiland vorstellt?“ Wenn ja, dann wäre dies die einzige Stelle in der Schrift.
Man sagt, dass das Abendmahl in Lukas 14,15-24 damit übereinstimme. Da ist jedoch ein bedeutender Unterschied. In Lukas 14,15-24 ist es Gottes Abendmahl, und das ist für alle, die die Einladung annehmen. Hier ist es der Herr, der anklopft, um hereingelassen zu werden, und verspricht, dass, wenn die Tür geöffnet wird, Er hereinkommen und das Abendbrot essen werde mit dem, der Ihn hereingelassen hat, und dieser mit Ihm.
In jedem Teil ist das der Gegensatz zu Lukas 14,15-24. Überdies setzt das Kraft voraus bei dem Unbekehrten; denn die Tür zu öffnen geht weit über einfachen Glauben an das Evangelium hinaus. Nein, was der Herr hier verspricht, ist ein Geheimnis, eine persönliche Freude. In seiner zärtlichen Gnade will Er hereinkommen zu jedem, der die Tür für Ihn öffnen will, und mit ihm das Abendbrot essen, und dann sollen sie essen mit Ihm – Gemeinschaft mit Ihm haben in diesen Dingen; seinerseits der Ausdruck seiner größten Gnade und aufseiten dessen, der mit Ihm isst, die schönste Freude.
Darauf folgt die Verheißung für den Überwinder. Wenn keine wahren Gläubigen in Laodizea gefunden werden, woher sollen dann die Überwinder kommen? Es ist möglich, zu behaupten, dass da nicht einer sei, aber das heißt sicher sowohl den Charakter des Herzens als der Wege des Herrn vergessen. Die Überwinder sind diejenigen, die die Stimme des Herrn hören und die, nachdem sie die Tür geöffnet haben, eingehen in die Freude der Gemeinschaft des Herrn und der Gemeinschaft mit Ihm, im Gegensatz zu der Weltgesinntheit, dem Hochmut und der Selbstgenügsamkeit der Versammlung als solcher. Von der Zeit ab wohnt Er durch den Glauben in ihrem Herzen, und sie werden ermutigt durch die Verheißung der Verbindung mit dem Herrn auf seinem Thron. Dies ist sicher eine viel niedrigere Segnung, als die Verheißung an den Überwinder in Philadelphia es ist. Aber wenn sie gewürdigt wird in dem Licht der vorhergegangenen Gleichgültigkeit und Untreue derer, an die die Verheißung gerichtet wird, wird ihre Gnade und ihre Kraft zu ermutigen und zu unterstützen gesehen.
Der Brief endigt mit: „Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt.“ Wenn die obengenannte Annahme, dass keine Gläubige in Laodizea sind, wahr sein würde, so würde dieser Weckruf ohne Zweck und Ziel sein, was Laodizea betrifft. Wir können nur wiederholen, dass so etwas nicht die Handlungsweise des Geistes Gottes ist. Und wir fügen dem hinzu, dass die behandelte Behauptung (dass keine Gläubigen in Laodizea seien) den Geist von Laodizea hervorbringen wird, der sich selbst auf allen Seiten geltend macht. Denn wenn die Warnungen in diesem Sendschreiben lediglich nur Bezug haben auf ein leeres Bekenntnis, können wir uns selbst betrügen mit dem Gedanken, dass wir nicht in Gefahr sind, in das Böse zu fallen, das hier beschrieben wird.
Originaltitel: „Laodizea“
aus Hilfe und Nahrung , Ernst-Paulus-Verlag, 1979, S. 191–195