Müssen wir auch die andere Wange hinhalten?
Matthäus 5,38-42

David R. Reid

© SoundWords, online seit: 13.09.2002, aktualisiert: 03.12.2023

Leitverse: Matthäus 5,38-42

Mt 5,38-42: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Widersteht nicht dem Bösen, sondern wenn jemand dich auf deine rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar; und dem, der mit dir vor Gericht gehen und dein Unterkleid nehmen will, dem lass auch den Mantel. Und wenn jemand dich zwingen wird, eine Meile zu gehen, mit dem geh zwei. Gib dem, der dich bittet, und weise den nicht ab, der von dir borgen will.

Einleitung

Die Bergpredigt (Mt 5–7) wurde schon immer als einer der schönsten und bewegendsten Abschnitte der Bibel angesehen. Kein Wunder, denn diese Worte hat unser Herr selbst gesprochen! Welch einen gewaltigen Einfluss hätte die Kirche auf die ungläubige Welt, wenn wir Christen mehr von den Grundsätzen, die uns in dieser wunderbaren Predigt gegeben werden, praktizierten.

Aber wie leben wir diese Grundsätze aus? In diesem Abschnitt aus dem Wort Gottes gibt es einige „unmögliche“ Gebote. Lesen wir zum Beispiel Matthäus 5,38-42. Bedeutet das etwa, dass ich jedes Mal „die andere Wange hinhalten“ soll, wenn mir jemand ins Gesicht schlägt? Darf ich mich nicht selbst verteidigen und „dem, der böse ist, widerstehen“? Darf ich nicht wenigstens weglaufen und „meine andere Wange“ nicht hinhalten?! Und was ist mit dem Unterkleid und dem Mantel in Matthäus 5,40 gemeint? Soll das heißen, dass ich jemand, der mir mein Autoradio stiehlt, auch noch mein Auto geben soll? Das soll wohl ein Scherz sein! Auch wenn ich statt eine Meile zwei Meilen mitgehe (Mt 5,41), muss ich das doch wohl missachten. Ständig überreden und beeinflussen mich Leute. Würde ich nicht irgendwo die Grenze ziehen, dann hätte ich nicht einmal Zeit, meine Bibel zu lesen und zu beten! Und der Herr erwartet bestimmt nicht von mir, jedem zu geben, der mir die offene Hand entgegenhält (Mt 5,42). Es gäbe so viele „Schwindler“ und „Bettler“ in meinem Schlafzimmer, dass ich über Nacht ein armer Mann wäre, wenn ich dieses Prinzip in die Tat umsetzte.

Entspricht diese Argumentation deinem eigenen Gedankenmuster, wenn du mit solch fordernden Geboten des Herrn konfrontiert wirst? Es ist ganz natürlich, so zu denken. Aber sollen wir diese schwierigen Aussagen in der Bergpredigt wirklich auf diese Art und Weise auslegen? Wie legen wir diese Schriftstelle korrekt aus, und wie wenden wir sie heute richtig an?

Den Kontext berücksichtigen

Eine der wichtigsten Regeln biblischer Auslegung ist: Versuche niemals, die Bedeutung einer Textstelle herauszufinden, ohne die umgebenden Textstellen zu berücksichtigen. Das bedeutet: Reiße die Bibelstelle nicht aus ihrem Zusammenhang. Der Kontext von Matthäus 5,38-42 ist eine Rede, die Christus im Verlauf der Bergpredigt über das alttestamentliche Gesetz des Mose gehalten hat (Mt 5,17-48). Die drängendsten Fragen in den Köpfen derer, die die neuen Lehren unseres Herrn hörten, betrafen offensichtlich jene alttestamentlichen Gesetze, die ihre Lebensweise waren. Setzte Jesus das mosaische Gesetz beiseite? Trat Er für eine radikale Abkehr von Gottes Absichten ein, die in den alttestamentlichen Schriften offenbart waren?

Derartige Überlegungen wies der Herr in Matthäus 5,17-20 zurück. Er war nicht gekommen, um das Gesetz und die Propheten (das Alte Testament) aufzuheben. Weder Gottes Maßstäbe für Rechtschaffenheit noch seine Absichten, wie sie in der Bibel offenbart sind, ändern sich. Und nicht nur das: Christus war sogar gekommen, um den ganzen Umfang des Gesetzes und der Propheten zu „erfüllen“ oder zu vollenden. Er allein konnte die wahre und volle Bedeutung der Schrift erklären und offenbaren. Deshalb würde seine Auslegung und Lehre des Gesetzes des Mose die richtige sein – und nicht die Lehren der Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich selbst zu Lehrern des Gesetzes ernannt hatten. Christi Verständnis der Anforderungen des mosaischen Gesetzes würde die von Gott ursprünglich beabsichtigte Auslegung sein.

Das Gesetz wurde im Laufe der Jahrhunderte verdreht

Die Tatsache, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer die Anforderungen und Absichten des Gesetzes missverstanden, ist der Grund für die Äußerungen unseres Herrn in Matthäus 5,20. Ihre Sicht lag weit unter der göttlichen Sicht. Im Laufe der Jahre war das mosaische Gesetz verdreht und entstellt, falsch ausgelegt und falsch angewendet, „verwässert“ und ihm etwas „hinzugefügt“ worden. Daher waren die Schriftgelehrten und Pharisäer in den Tagen Christi in ihrer Vorstellung, dass sie das Gesetz befolgten (s. Mt 15,1-3), vom Ziel weit entfernt. Sie waren so weit vom Ziel entfernt, dass sie ihren Überlieferungen die gleiche Autorität wie dem Gesetz gaben, und einige von ihnen dachten sogar, dass sie durch ihre nach außen getragene Frömmigkeit die gerechten Forderungen des Gesetzes erfüllen würden. Um diese falsche Auffassung richtigzustellen, wählte der Herr Jesus sechs Punkte aus dem Gesetz des Mose aus, die durch die mündliche Überlieferung der Schriftgelehrten und Pharisäer falsch ausgelegt worden waren. Diese Punkte werden in Matthäus 5,21-48 behandelt. Mord, Ehebruch, Scheidung, Schwur, Vergeltung und der Nächste – alle diese Punkte brauchten aufgrund der schwerwiegenden falschen Auslegung der Pharisäer eine neue Auslegung.

„Ihr habt gehört“ bedeutet nicht „Es steht geschrieben“

Es ist vielsagend, dass der Herr Jesus seine Erklärungen der sechs Punkte nicht mit den Worten „Es steht geschrieben“ beginnt, sondern vielmehr mit den Worten: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist“ (Mt 5,21.27.31.33.38.43). Mit anderen Worten: Unser Herr hat nicht nur die einzelne Schriftstelle im Sinn, sondern auch die falschen Vorstellungen, die um diese Schriftstelle herum aufgebaut worden waren. Er sagte zum Beispiel: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen“ (Mt 5,43). – „Den Nächsten zu lieben“ war natürlich Teil des mosaischen Gesetzes (4Mo 19,18), aber „den Feind zu hassen“ stand natürlich nicht im Gesetz. Dies war Teil der falschen mündlichen Überlieferung der Schriftgelehrten und Pharisäer. Dann korrigierte der Herr (Mt 5,44) diese falsche Auslegung, indem Er ihnen gebot, ihre Feinde zu lieben und für die zu beten, die sie verfolgten. Der Herr Jesus änderte also das Gesetz nicht oder fügte etwas Neues hinzu, sondern Er legte die Gesetzesforderung, „den Nächsten zu lieben“, so aus, wie Gott dieses Gebot ursprünglich gemeint hatte.

In Matthäus 5,38-42 befasst sich der Herr mit dem, was als Lex Talionis (Gesetz der Vergeltung) bekannt war. Die Schriftgelehrten und Pharisäer hatten diese Stelle aus dem Gesetz genommen und zurechtgebogen, um selbstsüchtige Handlungen persönlicher Rache zu rechtfertigen. Die Anweisung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hatte Gott niemals für persönliche Rache und Vergeltung gegeben. Immer wenn dieses Gesetz im Alten Testament erwähnt wird (2Mo 21,24; 3Mo 24,20; 5Mo 19,21), ist im Zusammenhang von Zivilrecht die Rede, nicht von einem persönlichen „Wie du mir, so ich dir“. „Die Strafe muss dem Vergehen angemessen sein“ – dies war Gottes Anordnung für Zivilrecht und -ordnung. Das Gericht konnte dem Angeklagten, der einem anderen nur ein blaues Auge geschlagen hatte, nicht das Auge ausstechen. Der Richter konnte dem Mann, der seinem Vorgesetzten auf den Mund geschlagen hatte, nicht jeden Zahn ziehen! Gott gab dieses Gesetz als eine zivile Beschränkung und nicht als Erlaubnis für persönliche Freiheit. Aber im Laufe der Jahre wurde dieses Gesetz immer mehr falsch ausgelegt und von den Schriftgelehrten und Pharisäern benutzt, um ihre persönliche Rache auszuüben.

Die andere Wange hinhalten

An diesem Punkt tadelt der Herr die Schriftgelehrten und Pharisäer (und auch uns!) sehr ernst. Er erklärt, dass wir in den persönlichen Beziehungen „die andere Wange hinhalten“ und „die zweite Meile gehen“ müssen. Wie weit setzen wir das Prinzip, „die andere Wange hinzuhalten“, um, wenn wir diese Schriftstelle heute auf unsere persönlichen Beziehungen anwenden? Bestimmt erlauben wir uns nicht die „Freude“ persönlicher Vergeltung. Die Einstellung „Das werde ich dir heimzahlen!“ oder „Warte, bis ich dich in die Finger kriege!“ ist keine Alternative für einen Christen. Gott verspricht uns, dass Er sich auf seine Weise um diese Probleme kümmern wird (Röm 12,19).

Aber was ist, wenn ein Dieb in mein Haus einbricht, meine Familie überfällt und das Haus vollständig ausräumt? Sollte ich „die andere Wange hinhalten“ und nicht versuchen, mich selbst und meine Familie zu verteidigen? Sollte ich „die zweite Meile gehen“, ihm die 100 Euro zeigen, die oben auf dem Wandschrankregal versteckt sind, und ihm dann helfen, meine Möbel auf seinen Lastwagen aufzuladen? Natürlich nicht! Zur Erinnerung: Der Zusammenhang dieser Schriftstelle betrifft persönliche Rache und Vergeltung, nicht Verteidigung bei einem Angriff oder Überfall und ebenso wenig rechtliche Angelegenheiten, wo zivile Gesetze gebrochen werden. In diesem Fall muss ein Dieb der staatlichen Justiz übergeben werden. Der Staat (unter Gott) muss nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ handeln. Unser Herr hat dieses Prinzip des Zivilrechts nicht im Entferntesten abgeändert. Man kann sich die Kriminalität und das Chaos vorstellen, das daraus resultieren würde, wenn unsere Gerichte nach dem Prinzip „Halte die andere Wange hin“ handeln würden. Zur Erinnerung: Wir sind sowohl Staatsbürger als auch Himmelsbürger. Wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ein Dieb zivile Gerechtigkeit erfährt. Wir wären dem Staat gegenüber unverantwortlich (und in gleicher Weise würden wir Böses unterstützen), wenn wir einfach nach dem Motto „Schwamm drüber!“ handelten.

Aber was ist, wenn jemand an meine Tür klopft und um eine Spende für sich selbst oder für eine unbiblische Sekte bittet? Hier ist wiederum der Kontext der Schriftstelle entscheidend, damit wir das Gebot des Herrn in Matthäus 5,42 richtig verstehen. Der Herr befürwortet es nicht, dass wir uns hereinlegen lassen und unsere Zeit und unser Geld wahllos jedem dahergelaufenen „Schnorrer“ geben (siehe 2Thes 3,10-12). Er spricht sich gegen Selbstsucht und Geiz aus – gegen eine Gesinnung, wie die Schriftgelehrten und Pharisäern sie an den Tag legten. Wenn sie mit wirklich bedürftigen Menschen konfrontiert wurden, gaben sie ungern und widerwillig – falls sie überhaupt gaben. Diese Art des Gebens sollte einen Christen nicht kennzeichnen. Wir sollten allen helfen, die uns um Hilfe bitten, solange ihre Bitte nicht im Widerspruch zur Schrift steht.

„Unmögliche“ Gebote sind doch möglich

Wir merken, dass die „unmöglichen“ Gebote aus Matthäus 5,38-42 doch möglich sind, wenn sie richtig ausgelegt werden. „Möglich“ ist jedoch nicht gleichbedeutend mit „leicht“. Oft wird der gehorsame Christ ausgenutzt; trotzdem sind wir aufgefordert, so etwas eher auf uns zu nehmen, als uns zu rächen. Wenn uns jemand ausnutzt oder beleidigt oder hinter unserem Rücken über uns spricht oder uns ausschließt, sollen wir „die andere Wange hinhalten“ und uns nicht rächen. Es mag uns verletzen (Mt 5,39), es mag uns etwas kosten (Mt 5,40), es mag uns Unannehmlichkeiten bereiten (Mt 5,41) oder uns zermürben (Mt 5,42). Es wird immer Grenzfälle geben, in denen wir Entscheidungen treffen müssen – manchmal sehr schmerzhafte Entscheidungen. Aber gerade in solchen Situationen, in denen es nicht eindeutig ist, dass wir „die andere Wange hinhalten“ sollen, denke daran: Gottes Richtlinie ist immer die Gnade.


Originaltitel: „Turning the other Cheek“
Quelle: www.growingchristians.org

Übersetzung: Gabriele Naujoks

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