Gnade und Versagen der sogenannten Brüderbewegung

Franz Kaupp

online seit: 10.12.2001, aktualisiert: 05.07.2022

Die geistliche Bewegung, die vor etwa hundertzwanzig Jahren[1] zunächst in England einsetzte, hat ein Bruder treffend mit den Worten gekennzeichnet: „die Wirksamkeit, die Gottes Heiliger Geist in den letzten Tagen auslöste“. Die Wirkung des Geistes ging dahin, die Gläubigen aus dem Wirrwarr der Formen und Überlieferungen auf kirchlichem Gebiet heraus- und zu den einfachen Wahrheiten der Heiligen Schrift zurückzuführen. Die Wirkung, die nicht ausbleiben konnte, war, dass eine Anzahl von Gläubigen sich von allen Systemen trennte, die Menschen zusätzlich zu dem System errichtet hatten, das Gott und Christus selbst zum Urheber hat, womit nach dem Wortlaut des Neuen Testamentes die Ekklesia, die Versammlung Gottes und des Christus gemeint ist.

Die Heilige Schrift gibt denen, die in Wahrheit durch die Geburt aus Gott zu der Ekklesia gehören, verschiedene Namen, Benennungen oder Titel. Sie sind Jünger, sind „die Freunde“, sind Heilige und Geliebte und noch etliches mehr. Die allgemeine Benennung aber ist „Brüder“. Der Herr selbst hat diese Benennung eingeführt: „Ihr alle aber seid Brüder …“ – „Gehe hin zu meinen Brüdern und sage ihnen …“; und die Apostel gebrauchen diese Bezeichnung allgemein in der Apostelgeschichte und in den Briefen.

Soll es uns wundern, dass bei den Gläubigen der Bewegung, von der wir reden, jeder Rangunterschied, wie solche in der Christenheit üblich sind, verpönt war und sie sich einfach „Brüder“ nannten? Das war so auffallend und eigenartig, dass Außenstehende von ihnen als von „den Brüdern“ redeten, zum Unterschied von den Gläubigen in den Benennungen, die doch auch Brüder sind.

Der Heilige Geist war außerordentlich wirksam, diese Brüder zu einem demütigen und eingehenden Studium der ganzen Heiligen Schrift anzuregen. Da sie dies mit intensiver Hingabe taten und die meisten auch die wünschenswerte Gelehrsamkeit und die Kenntnis des Griechischen und Hebräischen besaßen ebenso die Geduld, auf weiteres Licht zu warten, wenn ihnen ein Abschnitt oder eine Wahrheit noch unverständlich war, so ist leicht einzusehen, dass Gott sich zu solch gutem Willen bekannte und dass der Heilige Geist sie von einer Kenntnis zur anderen führte; zumal bei den meisten tiefe Herzens- und Gewissensübungen vorausgegangen waren und die Person Jesu ihnen über alles teuer geworden war. Einer von ihnen, der wohlbekannte G.V. Wigram, sagte später:

Wir mussten die teuren Wahrheiten auf den Knien erwerben; heute sind sie wohlfeil zu haben.

Es hatte sich schon damals, als er dies vor mehr als siebzig Jahren[2] sagte, viel Übles unter den Brüdern zugetragen, so dass er ihr Zeugnis als zu Ende gekommen beurteilte. Ist es zu verwundern, dass es in den letzten Jahren in unserer Mitte bergab ging, nachdem Gott doch so reichlich gesegnet hatte? Ist es zu verwundern, dass vom Menschen aus ein Rücklauf einsetzte und noch im Gange ist? Nein, es ist nicht zu verwundern, denn wir müssen mit betrübten Herzen bekennen: Der Mensch ist immer und überall derselbe; er verdirbt, was Gott ihm anvertraut hat.

Soviel bekannt ist, war das Erste, was der Heilige Geist wirkte – und zwar an verschiedenen Orten in Einzelpersonen, als noch keine Rede von den „Brüdern“ war –, dass das teure Vermächtnis, das „des Herrn Abendmahl“ heißt, ein und dasselbe wie „Brotbrechen“ oder der „Tisch des Herrn“, wieder erkannt wurde. Der Erkenntnis folgte das Verwirklichen, wenn auch anfangs in ganz kleinen Kreisen. Hand in Hand mit der Erkenntnis, dass, wo zwei oder drei zu dem Namen des Herrn Jesu hin versammelt sind, Er in ihrer Mitte ist, ging die Verwirklichung dieser Tatsache. Wir, die wir das von jeher kennen, machen uns wohl kaum einen Begriff davon, was das für die war, die das vorher nicht gekannt hatten! Es zog weiter nach sich, dass der von Menschen eingesetzte sogenannte „geistliche Stand“ abgelehnt wurde und dem freien Wirken des Heiligen Geistes zu Danksagung, Anbetung, Erbauung usw. Raum gegeben wurde.

Es ging zwar alles nicht von heute auf morgen. Es brauchte seine Zeit, wie auch die weiterfolgenden Wahrheiten und Tatsachen nicht mit einem Schlag erkannt wurden:

  • dass der Herr Jesus wiederkommt, zuerst zur Entrückung seiner Heiligen und dann mit ihnen in Herrlichkeit;
  • dass eine vollkommene Annahme „in Christus“ vor Gott das Teil aller Gläubigen ist;
  • dass alle Gläubigen das ewige Leben besitzen und dessen gewiss sind (Joh 5,24; 20,31; 1Joh 5,13);
  • dass sie durch den in jedem Einzelnen wohnenden Heiligen Geist untereinander und mit Christus in der Herrlichkeit als dem Haupt zu einer Einheit, zu einem Leib verbunden sind (1Kor 12,13; Eph 4,4);
  • dass es für sie
    • eine himmlische Berufung (Heb 3,1),
    • eine himmlische Hoffnung (Kol 1,15),
    • ein himmlisches Vaterland (Heb 11,16),
    • ein himmlisches Erbteil (1Pet 1,4),
    • ein himmlisches Bürgertum (Phil 3,20),
    • ein himmlisches Vaterhaus (Joh 14,2.3) gibt.

Diese Gläubigen lernten begreifen, dass die Versammlung oder Gemeinde von Juden und Nationen wohl unterschieden werden muss (1Kor 10,32). Ferner wurden ihnen die drei Anschauungsweisen klar, in denen die Versammlung in der Schrift vorgeführt wird, nämlich

  1. als lokale Versammlung, indem sie alle Gläubigen einer Örtlichkeit in sich schließt (Apg 8,1; 13,1; 1Kor 1,2);
  2. als der Leib des Christus und die allgemeine Versammlung Gottes auf der Erde, deren Haupt Christus im Himmel ist (Kol 2,19);
  3. in ihrem zukünftigen vollendeten Zustand als verherrlichte Ekklesia (Eph 5,25-27), die alle Gläubigen vom Tag der Pfingsten an bis zur Entrückung umfasst.

Klarer, als es von irgendeiner Seite früher geschehen war, erkannten diese Brüder die Tragweite des Werkes Christi am Kreuz in dessen stellvertretender und sühnender Kraft. Desgleichen die Unterscheidung zwischen der alten und der neuen Natur in jedem Gläubigen.

Als eine weitere Besonderheit wurde das allgemeine Priestertum aller Gläubigen (1Pet 2,5.9; Off 1,5.6; 20,6) und deren Freiheit zum Zutritt in einem Geist zu dem Vater (Eph 2,18) und ihr Vorrecht als Anbeter im Heiligtum (Joh 4,19-24; Heb 10,19-22) herausgestellt; und anlehnend daran der Unterschied im Dienst zwischen Gaben und Ämtern (Eph 4,11; 1Tim 3,1).

Da in jenen Jahrzehnten der rationalistische Unglaube auf den Lehrstühlen der theologischen Fakultäten mehr und mehr sein Haupt erhob, auch sonst vielerlei alte und neue Irrungen sich ausbreiteten, hatten die Begabten unter den Brüdern ein weites Feld der Betätigung und taten ihr Möglichstes, Bezeuger der Wahrheiten der Heiligen Schrift zu sein. Es gab wohl kaum etwas Falsches in der Lehre, das nicht öffentlich von ihnen ins Licht der Schrift gerückt worden wäre. Unter anderem wurde auch die Wiederbringungs- oder Allversöhnungslehre bloßgestellt als das, was sie ist, nämlich ein Irrtum, der ins Verderben führt.

In dem Maß, wie die Zahl der Brüder weltweit wuchs und die Versammlungen sich vermehrten und vergrößerten, trat auch die Notwendigkeit ein, sich mit unguten und zum Teil bösen Dingen in ihrer Mitte zu befassen und sich klarzuwerden über das, was die Heilige Schrift über die Zucht sagt. Dieser Punkt wurde und ist besonders ernst, wenn der Feind hinterhältig die Person des Sohnes angreift und Grundwahrheiten der Lehre antastet, wie es schon in Korinth geschah, dass zum Beispiel die Auferstehung geleugnet wurde (1Kor 15,12), oder wenn später ein Hymenäus und ein Phyletus lehrten, dass sie schon geschehen sei (2Tim 2,18).

Gibt uns das alles nicht Anlass, dass wir uns allen Ernstes besinnen auf das, was der Wille Gottes und was seine Wahrheit in der Schrift ist? Wer unter uns das tun will, tut wohl, zurückzukehren zu dem, was der Geist Gottes vor mehr als hundert Jahren wirkte, weil das nichts anderes war als das, was Er selbst, der Heilige Geist, durch Paulus, Petrus, Judas festgelegt hat, als der Verfall sich schon zu deren Lebzeiten bemerkbar machte, sowohl hinsichtlich des Verderbens in der Lehre als auch in moralischer Hinsicht.

Es blieb schon in früheren Zeiten nicht aus, dass die Lehre von der Einheit der Kinder Gottes nach den Worten des Herrn in Johannes 17 und ihrer Einheit als Glieder des einen Leibes nach der Lehre des Apostels Paulus von dem „Geheimnis des Christus“ besonders auffiel und Schule machte, leider aber in den meisten Kreisen nicht im Sinn der Heiligen Schrift, wie die „Brüder“ es erkannt hatten. Denn eine Einheit, die besteht, kann man nicht machen; ein Leib ist von vornherein etwas Vollkommenes, er braucht das nicht erst zu werden. Die „Brüder“ hatten erkannt, dass es sich nur darum handelt, die von Gott und Christus durch die Sendung des Heiligen Geistes gemachte Einheit anzuerkennen und sich dementsprechend einzustellen.

Gläubige, die das nicht wollen, suchten und suchen der Einheit so Ausdruck zu geben, dass sie aus ihren verschiedenen Benennungen heraus einmal im Jahr für vielleicht eine Woche brüderlich zusammenkommen, nachher aber bis zum nächsten Jahr sich wieder in ihre Kreise zurückziehen. Ist das nicht Selbstbetrug und in Bezug auf den Herrn, das Haupt der einen Versammlung, Vorspiegelung einer falschen Tatsache? Als der Schreiber dieser Zeilen vor etwa fünfzig Jahren durch Schriften darauf hingewiesen wurde, war ihm das sofort klar. Er war selbst in zweien solcher Kreise gewesen. Abgesehen davon, dass, wie in den Landeskirchen so auch in diesen Kreisen – wenn auch nicht in dem Maß wie dort –, der Heilige Geist gehindert ist, zum Dienst am Wort zu gebrauchen, wen Er will, ist auch die Art und Weise, wie das Abendmahl gefeiert wird, zu beanstanden. Ein von einer menschlichen Institution dazu bestellter Mann ist allein berechtigt, es auszuteilen; und wenn ein außerhalb des betreffenden Kreises Stehender daran teilnehmen will, braucht er sich nur beim Prediger zu melden. Der Schreiber hat das miterlebt. Wo bleibt da der feierliche Ernst der Verantwortlichkeit aller Beteiligten darüber, dass niemand teilnimmt, der nicht wirklich ein Erlöster des Christus ist und es durch seinen Wandel beweist? Zum Mindesten müsste man, was diese beiden Punkte betrifft, ihn gut kennen, ehe er zugelassen wird.

In der Christenheit wurden und werden die Wahrheiten, die Gott den „Brüdern“ neu in Erinnerung rief, im Großen und Ganzen nicht gelehrt. Dafür aber dürfen die gröbsten Irrtümer gelehrt werden, Christus darf seiner Gottessohnschaft entkleidet und die Heilige Schrift durch Bibelkritik verunglimpft und in Fetzen gerissen werden. Formen und Zeremonien hüllen das Ganze ein, auch einen großen Teil von den wenigen, die wirklich Kinder Gottes sind. Ist das nicht Ungerechtigkeit; ist nicht jeder, der den Namen des Herrn nennt, verantwortlich, davon abzustehen (vgl. 2Tim 2,19-22)?

Die Christenheit ist ein großes Haus geworden, in dem vielerlei Gefäße sind, wie in jedem großen Haus. Der Hausherr ist Gott und Christus. Echte und unechte Bekenner machen das Haus aus. Einzelpersonen und Zusammenschlüsse von Personen in Systeme sind die Gefäße oder Geräte des Hauses. Wenn echte Bekenner des Christus, die bemüht sind, das Werk und die Person des Christus bekanntzumachen, sich von den großen religiösen Systemen getrennt haben, so erhebt sich die Frage: Inwieweit richten sie selbst wieder Systeme auf, die dann neben das System Gottes, das die Versammlung (Ekklesia) ist, zu der sie doch gehören, gestellt werden? Warum lassen sie sich nicht an der einfachen Wahrheit genügen? Wohl zunächst aus Unkenntnis. Wenn ihnen aber die Kenntnis nahegebracht wird und sie nicht darauf achten wollen, dann ist das Eigenwille. Ich verwehre mich gegen den Vorwurf, eine Bewertung der Freikirchen aufzustellen. Gewiss haben die „Brüder“ nach dem, was sie geworden sind, am allerwenigsten Ursache, sich als Gefäß irgendeinen Wert beizulegen.

Haben aber die Brüder zur Zeit der Wiederherstellung des Zeugnisses nicht recht daran getan, sich auch von den kleinen Gebilden menschlicher Planung getrennt zu halten, wenn sie gewillt waren, den Willen des Hausherrn in allem zu respektieren, nachdem ihnen der Herr darüber das Licht gegeben hatte, was in aller Einfachheit getan werden konnte, ohne selbst Systeme zu bilden? Wenn man dem Hausherrn ganz gefallen will, ist es notwendig, sich auch von weniger missfälligen Gefäßen zu reinigen, das heißt auch von solchen auf menschliche Satzungen sich stützenden Systemen.

Gewiss, die vorhergehenden Gedankengänge des Apostels in 2. Timotheus 2 von Vers 1 an haben zunächst allgemein gesunde Lehre, Treue und Nüchternheit im Auge. Indem der Apostel aber in 2. Timotheus 2,17 auf irreführende Lehrer gekommen ist, weitet er den Horizont bis dahin, dass er auf die grundsätzliche Reinigung weg von den Gefäßen der Unehre in einem großen Hause zu sprechen kommt. Es muss schon unguter Wille vorhanden sein, wenn man seine Augen vor dieser Erkenntnis verschließt.

Doch es sei so, dass mit den Gefäßen zur Unehre nur Einzelpersonen gemeint sind. Steht deswegen nicht wie ein granitener Fels in Vers 19: „Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“ (2Tim 2,19)? Ist Ungerechtigkeit (a-dikia) nicht alles – und erst recht im zweiten Timotheusbrief –, was dem Willen und den Gedanken Gottes zuwider, was nicht in Übereinstimmung damit ist? Ist es in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes, Systeme eigener Prägung innerhalb der einen Versammlung zu machen?

Ist es nicht so, dass die Bemühungen der sogenannten „Allianz“, eine Einheit unter den Kindern Gottes herzustellen, erstens den Darlegungen des Apostels Paulus über die Einheit entgegenstehen, zweitens diese Allianzkreise das Tun der „Brüder“, die sich in Absonderung von allem Bösen, auch vom religiösen Bösen, auf den Namen Jesu hin versammeln, sogar als verkehrt hinstellen? Zudem, nie könnten und würden auf diesem Weg alle Glieder des Leibes des Christus in die zu machende Einheit einbezogen werden. Wenn es gelänge, zwei oder drei Kreise zu überreden, in die angebahnte Vereinigung einzutreten, was ist mit den anderen Kreisen? Was mit den einzelnen Gläubigen, die unzweifelhaft in den evangelischen Landeskirchen und der römisch- und der griechisch-katholischen Kirche sind? Und die in den fremden Ländern? Und besteht denn überhaupt die Versammlung Gottes aus zusammengeschlossenen gläubigen Kreisen oder Gemeinschaften? Nicht vielmehr aus dem Haupt und den einzelnen Gliedern, die als Einzelpersonen den Leib bilden, weil sie direkt „dem Herrn hinzugetan werden“ (Apg 11,24)? Ist es darum nicht eine Groteske, was geplant und hergestellt wird? Ist es nicht offenbarer Widerspruch gegen die Schrift?

Wenn in dem einen oder anderen der Kreise, die sich zusammenschließen, um die Einheit darzustellen, Männer sind, die zum Beispiel die Allversöhnungslehre festhalten und verbreiten, sind diese nicht „von der Wahrheit abgeirrt … und verkehren den Glauben etlicher“? Gilt da nicht das Wort, abzustehen von der Ungerechtigkeit? Sind diese Männer und der Kreis, der sich nicht von ihnen reinigt, sondern sie beherbergt, Gefäße zur Ehre des Hausherrn?

Wenn die Stelle 2. Timotheus 2,19-22 abgelehnt wird, so steht es freilich denen, die sie ablehnen, frei, die Ungerechtigkeit zu tun. Bleiben noch 1. Korinther 5,13 und Titus 3,9-11. (1. Korinther 5 hat es mit moralisch Bösem zu tun und hat mit dem hier entwickelten Gedanken nichts gemein.) Zu Titus 3,10.11 sagt jemand ganz richtig:

Die Sekten trennten die Heiligen der Versammlung Gottes von jeher. Der Mensch aber, der die Trennungen verursachte, sollte ohne Schonung behandelt werden. Er suchte eine gewisse Anzahl von Gläubigen um sich zu gruppieren, indem er sich selbst zum Mittelpunkt eines gesammelten Kreises machte. Praktisch verleugnete er die Einheit des Leibes des Christus und den einen Mittelpunkt dieser Einheit, der der Herr Jesus selbst ist.

Die Lehren eines solchen Menschen mögen so weit nicht schriftwidrig sein. Es genügte, eine Wahrheit von ihrem Platz wegzunehmen und sie eine überragende Rolle im Gesamtbild der Schrift spielen zu lassen. Man versammelte Christen um einen Grundsatz, ob wahr oder falsch, und um den Menschen, der ihn verkörperte – und die Sekte, die die Versammlung spaltete, war da. Derjenige, der diesen Platz einnimmt und dadurch das Haupt einer Partei oder einer Kirche nach seinem Zuschnitt wird, soll schonungslos abgewiesen werden, denn er hat die Einheit gebrochen und Christus, dem Haupt des Leibes, Schmach angetan. Nur darf er nicht abgewiesen werden ohne vorherige Zurechtweisung.

Ein alter, erfahrener Bruder sagt zu dieser Stelle:

Wenn jemand seine eigene Meinung geltend machen wollte und dadurch versuchte, Parteien in der Versammlung zu bilden, so sollte man ihn nach einer ein- oder zweimaligen Ermahnung abweisen als einen, der sündigt … Ein solcher begnügt sich nicht mit der Versammlung Gottes und der Wahrheit Gottes; er will seine eigene Wahrheit darstellen. Warum ist er ein Christ, wenn das Christentum, wie Gott es gegeben hat, ihm nicht genügt? Indem er seine Partei für seine eigene Meinung zu gewinnen sucht, verurteilt er sich selbst.

Wie nimmt sich das im Licht der Lehren des Apostels Paulus über die Versammlung Gottes aus?

Es sei in diesem Zusammenhang noch angeführt, was ein englischer Bruder den Brüdern über ihren Ursprung und ihr Zeugnis zu sagen sich gedrungen fühlte. Es ist wichtig und interessant genug, dass es auch heute noch zur Kenntnis aller Brüder gebracht werde. Vorher ein Bruchstück aus einem Brief von G.V. Wigrams:

Das Zeugnis unserer Zeit ist der Ausdruck der Treue und Gnade Gottes – trotz des Verfalls von allem auf Erden – vermittels derer, die den Verfall fühlen und sich darüber demütigen. In dieser Stellung waren die Brüder von Gott gesegnet. Sie haben zu viel an ihre Stellung, an ihr Zeugnis gedacht; sie waren stolz darauf. Und nun eins von beiden: Entweder werden sie beiseitegesetzt und das Zeugnis wird anderen gegeben, oder sie demütigen sich, damit sie das Zeugnis behalten können. Die Demütigung kann die Folge des Einwirkens Gottes durch das Wort auf ihre Herzen sein. Gott schenke ihnen die Gnade, die sie brauchen. Wenn sie sich aber nicht demütigen, so werden sie durch die mächtige Hand Gottes gedemütigt werden.

Der Herr wird treu sein; davon mögen die Brüder überzeugt sein. Er schenke uns Gnade, dass wir uns selbst richten, damit Er uns nicht richten muss. Der „Kommende“ wird bald kommen und wir werden bei Ihm sein. Möge Er uns bei seiner Wiederkehr sowohl mit seiner Gnade erfüllt als an seiner ganzen Wahrheit festhaltend finden.

Und nun das Wort des Bruders aus England über den Ursprung und das Zeugnis der „Brüder“ aus Die Brüder, ihr Ursprung, ihre Vermehrung, ihr Zeugnis, von A.P. Cecil aus dem Jahr 1879:

Brüder, ertragt ein Wort der Ermahnung! Der Herr hat einen Rechtsstreit mit uns. Gerade in dem Augenblick, da wir uns „Brüder“ nennen und von unserem Ursprung, unserem Wachstum und unserem Zeugnis reden, schüttelt uns der Herr bis ins Innerste.

Ich erschrecke darüber, dass manche von uns keinen höheren Gedanken haben als den, dass wir zu den „Brüdern“ gehören, die vor fünfzig Jahren [1879 geschrieben!] mit der Absonderung begonnen haben. Wenn wir solch einen Gedanken mit der Heiligen Schrift vergleichen, so können wir ihn nur als einen solchen bezeichnen, wie ihn 1. Korinther 1 hinstellt: als eine erbärmlich sektiererische Weisheit, die durch das Kreuz gerichtet werden muss.

In unseren Unterhaltungen reden wir leichthin von dem uns beigelegten Sektierernamen „Plymouthbrüder“; und bald, fürchte ich, gehen wir weiter und finden uns damit ab, als ob nichts dabei wäre – es ist ja nur ein Name! Es genüge zu sagen, dass 1. Korinther 1 das ganz und gar verurteilt; es trifft die Grundlagen des Christentums und ist ein Abdruck der menschlichen Weisheit der Philosophen (siehe 1Kor 1 und 2). Es trifft die Wurzel der wahren Natur der Versammlung, wie sie uns in 1. Korinther 3 gezeigt wird.

„Aus Gott aber seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung“ (1Kor 1,30). Wir sind keinem noch so gesegneten Lehrer oder ebensolcher Lehrerschaft verschrieben, sondern gehören zum Tempel Gottes, und Gottes Heiliger Geist wohnt in uns.

Wir sind nicht „die Brüder“, bei Sektierern und der Welt als „Plymouthbrüder“ geschmäht, deren Ursprung auf die Zeit vor fünfzig Jahren zurückgeht; sondern wir sind „Brüder“ inmitten der vielen Brüder der großen Familie Gottes, die schon vorher bestand; Brüder, die durch die Gnade Gottes aus der gleichsam viele Jahre währenden babylonischen Gefangenschaft der Versammlung (Ekklesia) befreit worden und zu dem ursprünglichen Boden der Versammlung zurückgekehrt sind, die in Christus in die himmlischen Örter versetzt ist; um den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus als die Quelle der Einheit zu bekennen – den Gott und Vater der ganzen zerstreuten gesammelten Familie Gottes (Eph 1,1-23); Christus zu bekennen als das Haupt seines Leibes (Eph 1,19-23; 2,1-18) und den Heiligen Geist zu bekennen als den Erbauer und Bewohner des Hauses Gottes (Eph 2,19-22).

Wir stammen nicht von Lehrern her, so gesegnet und von Gott anerkannt sie sein mögen, vor fünfzig Jahren von Ihm erweckt und mächtiglich gebraucht, um lange unter den Trümmern der bekennenden Kirche begrabene Wahrheiten wieder aufleben zu lassen, sondern von dem Gott, der durch seine unumschränkte Gnade Petrus, Andreas und Johannes berief, der Christus für unsere Übertretungen dem Tod überlieferte und unserer Rechtfertigung wegen auferweckte (Röm 4,25), der später von der Herrlichkeit aus den Saulus von Tarsus berief, ihn aus der jüdischen und heidnischen Welt, die Christus verworfen hatte, heraus befreite und ihn von der Herrlichkeit aus als einen mit Christus einsgemachten Menschen aussandte, um von der Herrlichkeit des Christus und von dem Einssein der Heiligen mit Ihm als seinem Leib und seiner Braut zu zeugen.

Unsere Stellung ist nicht in einer Körperschaft, deren Ursprung fünfzig Jahre zurückliegt, sondern in dem Christus, der, nachdem Er der Maria die in den Worten „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott“ geformte neue Beziehung kundgetan hatte, in die Mitte seiner versammelten Brüder kam, ihnen „Friede euch“ zurief und in sie hauchte. Es war der Friede, den Er in seinem Sterben am Kreuz für sie gemacht hatte, wovon Er ihnen in seinen verwundeten Händen und in seiner durchbohrten Seite den Beweis gab.

Wir sind in dem Christus, der ein zweites Mal „Friede euch“ zu ihnen sprach als der vom Vater gesandte Sohn, indem Er sein eigenes Auferstehungsleben in sie hauchte, sie also mit sich selbst als dem auferstandenen Haupt der neuen Schöpfung verbindend.

Wir sind in dem Christus, der nach diesem hinaufstieg als Mensch und den Heiligen Geist als die Verheißung des Vaters herabsandte, damit Er in ihnen wohne, so dass nun die neue, volleingeführte Familie Gottes rufen konnte: „Abba, Vater!“ (Joh 20,19-23; Apg 1,4).

Gleichzeitig taufte der Heilige Geist sie alle zu einem Leib und baute sie zusammen auf, damit sie seine Behausung auf der Erde seien. Dergestalt ist unser Ursprung, dergestalt unsere Stellung. Zu dieser Familie, zu diesem Leib und zu diesem Haus allein gehören wir; und wir sind berufen, dem Zeugnis zu geben, ebenso dem Einen, der der Gott und Vater ist. O edler Ursprung! O hehre Abstammung! Brüder, vergesst es nicht! Lasst niemand eure Krone nehmen!

Die Fortschritte, die die Versammlung Gottes machte, kennt ihr ja; ich brauche also nicht dabei zu verweilen. Sie breitete sich wunderbar aus. Aber, o weh! In dem Maß, wie sie sich ausbreitete, sank sie von ihrer Höhe herab. Eifrig darauf aus, das Böse wegzutun, verließ sie leider ihre erste Liebe, und der Herr musste drohen, den Leuchter wegzunehmen. Das durch Verfolgung eingehaltene Böse brach neu hervor in der Verbindung, die die Kirche mit der Welt durch die besoldeten Leiter der Christenheit einging. Ein böses System tauchte inmitten des Hauses Gottes selbst auf; es lehrte Götzendienst; eine babylonische Gefangenschaft breitete sich über die ganze Kirche aus. Die Wahrheit von der Einheit des Leibes und vom Kommen des Herrn ging verloren und es herrschte gleichsam eine mitternächtliche Finsternis.

Der Schrei der Reformation erscholl; es gab ein teilweises Herauskommen aus der Gefangenschaft, doch nur, um wiederum in etwas Verhängnisvolles zu fallen: in etwas, „das den Namen hat, dass es lebe“, obwohl moralischer Tod über dem Bekenntnis lag. Dann ließ sich die Stimme des Heiligen und Treuen vernehmen und ein Überrest der Schafe leistete dem Rufen Folge und kehrte um zu Christus allein. Aber denkt daran, Brüder, es war ein Überrest, der zurückkam, nicht das Ganze. Wir sind „Brüder“, ein zu Christus zurückgekehrter Überrest, aber nicht „die Brüder“, viel weniger „Plymouthbrüder“ als eine neue Körperschaft.

Das ist die traurige Geschichte der „Brüder“ und des Hauses Gottes. Und bedenkt, Brüder, dass eine traurige Zukunft vor dem Haus Gottes liegt! Laodizeische Lauheit soll folgen, parallel neben philadelphischer Herzenstreue, bis Er kommt! Welches ist das große unterscheidende Merkmal bei beiden Kreisen? Bei den Philadelphiern ist es dies: Christus und sein Wort ist alles. Bei den Laodizeern ist es dies: „Die Brüder“ sind alles, da sie sagen: „Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts.“ Es ist ein hässliches, korporatives „Ich“ bei ihnen vorhanden, das durch 1. Korinther 1 gerichtet werden muss, so gut wie das individuelle „Ich“, der alte Mensch im Brief an die Römer.

Also denn, lasst euer Zeugnis einfach Christus und sein Wort sein, ohne etwas auszulassen; ohne das Zeugnis des Petrus über den verworfenen Jesus zu vernachlässigen, der jetzt erhöht und bereit ist, sich auf Davids Thron zu setzen; der in der Zwischenzeit zum Herrn und zum Christus gemacht ist, Heil und Vergebung der Sünden gebend, und also dem Reich der Himmel in seiner jetzigen Form Bestand gibt. (Siehe Apostelgeschichte 2,30-38; 4,10-12; 5,30-32 und viele andere Stellen.)

Ebenso haltet das Zeugnis des Paulus fest, wie viele unter euch gesegneterweise es tun, indem sie einen geöffneten Himmel verkündigen; den zweiten Menschen als dort sitzend; Gerechtigkeit und den Heiligen Geist als von dort aus im Dienst verwaltet und als herniedergekommen, der die Gläubigen mit Christus im Himmel und miteinander auf der Erde zu einer Einheit verbindet; mit der glückseligen Hoffnung der Wiederkunft des Sohnes Gottes vom Himmel, des Bräutigams seiner Versammlung, um sie vor den Gerichten in das Haus einzuführen und sie dann mit sich zum Herrschen über die erneuerte Erde zurückzuführen.

Brüder! Lasst uns nicht von unserem Zeugnis reden, sondern es verkündigen als Zeugnis Gottes, und der freundliche Blick des „Heiligen“ und „Treuen“ wird weiter auf uns ruhen. Die Bruderliebe, Philadelphia, wird in Wirklichkeit in unserer Mitte gegen alle zerstreuten Brüder herrschen. Wir werden weiterhin die geöffnete Tür haben, die niemand zu schließen vermag, und den Kreis von Menschen nach den Gedanken Gottes darstellen, der, gekennzeichnet durch diese Schriftwahrheit, allein den Gerichten entrinnen wird. Alle anderen Gläubigen der gegenwärtigen Haushaltung, die sich nicht zu uns halten, werden ebenfalls den Gerichten entrinnen, aber als Einzelne; und in der Herrlichkeit werden dann alle zusammen kraft der Gnade Gottes das darstellen, was hier versäumt wurde. Mit diesem Entrinnen wird „Philadelphia“ auf dieser Erde aufgehört haben zu bestehen, wenn der Herr Jesus Christus wiederkommt (Off 3,11).

Oh, so haltet denn fest an dem Namen des Christus; lasst euch vonseiten der Menschen keine falsche und anmaßende Benennung aufdrängen! Der schöne Name Christus, des Heiligen und Treuen, genügt, der Name dessen, der sich nicht schämt, uns „seine Brüder“ zu nennen; aber denkt daran, unter vielen anderen zerstreuten Brüdern, die geradeso gut „Brüder“ sind wie wir, wenn sie es auch nicht als eine Gesamtheit kundgeben!

Noch einmal sage ich: Ertragt das Wort der Ermahnung! Und möge der treue Gott, der uns in die Gemeinschaft seines Sohnes berufen hat, das Licht seines Angesichts auf uns leuchten lassen!

Dergestalt ist unser Ursprung, dem wir, wenn wir anders treue Zeugen sind, Zeugnis geben werden. Dergestalt ist fortschreitend die Geschichte der Versammlung gewesen, zu der wir gehören, und dergestalt ihr Zeugnis. Aber wir sind nur „Brüder“ (unter vielen anderen zerstreuten Brüdern), die zu Christus zurückgekehrt sind, um der Gnade Zeugnis zu geben, die uns zurückgerufen hat und die gegen das Ganze Nachsicht übt und die jeden Bruder, ob zerstreut oder gesammelt, zur Herrlichkeit führen wird.

Die Versammlung von Philadelphia ist im prophetisch-geschichtlichen Sinn der Ausdruck der Treue in den letzten Tagen des Weilens der Ekklesia auf der Erde, alle die Gläubigen umfassend, denen der Herr zuerkennen kann, was Er lobend in Offenbarung 2,10 sagt.

In einer alten Betrachtung lese ich die folgenden wichtigen Sätze:

In Philadelphia sehen wir die treuen, von Gott anerkannten Bekenner als eine bestimmt getrennte Körperschaft vor das Auge des „Heiligen und Wahrhaftigen“ gestellt. Dieses ist ohne Frage ein hervorragender Charakterzug der Gegenwart, wo die göttliche Ermahnung, sich von den Gefäßen zur Unehre zu reinigen und sich im Namen Jesu zu versammeln mit denen, die „den Herrn anrufen aus reinem Herzen“, immer mehr zu einer ernsten Frage in den Herzen der Gläubigen zu werden beginnt. Wie in den Tagen der Reformation die große Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben dem Dunkel der Vergessenheit entrissen und auf den Leuchter gestellt wurde, so tritt, während das Böse in der bekennenden Kirche fortschreitet und zum Gericht heranreift, die Person des Christus selbst, als der Mittelpunkt der Vereinigung der Kinder Gottes, und seine baldige Wiederkunft als der Gegenstand ihrer Erwartung, immer bestimmter in den Vordergrund. Der kirchliche Zustand kommt daher hier durchaus nicht in Frage. Alles bezieht sich auf das, was Christus ist oder sein wird für die, die zwar schwach, aber treu sind. Ihre Verbindung mit Ihm ist unauflöslich, wenn auch alle kirchlichen Bekenntnisformen in ihr in Nichts versunken sind …

Kein einsichtiger Bruder wird auf den Gedanken kommen, dass wir Philadelphia seien – wir sind es nur in Verbindung mit allen Gläubigen und nur insoweit wie wir das, was Philadelphia kennzeichnet, verwirklichen.

Lasst uns nicht vergessen, dass wir nicht das geblieben sind, was wir am Anfang waren. Die Hand Gottes lastet auf uns. Aber sollen wir deswegen zu dem zurückkehren, was wir aus klarer Erkenntnis heraus verlassen haben? Ändert sich die Wahrheit Gottes durch das Versagen des Menschen? Was sagt Gottes Wort:

  • Gal 2,18: Wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wiederum aufbaue, so erweise ich mich selbst als Übertreter.

  • Röm 3,3: Wird etwa ihr Unglaube die Treue Gottes aufheben?

  • Röm3,8: Sollen wir das Böse tun, damit das Gute komme?

  • Eph 6,24: Die Gnade Gottes mit allen denen, die unseren Herrn Jesus Christus lieben in Unverderblichkeit!


Erstauflage 1956 im Müller-Kersting-Verlag, Zürich.
Dieser Aufsatz wurde unter dem Titel Absonderung zuletzt von R. Mohncke 1973 veröffentlicht.

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red: Dieser Aufsatz wurde erstmals 1956 veröffentlicht.

[2] Anm. d. Red.: Gegen Endes des 19. Jahrhunderts.

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