Psalm 69

Hamilton Smith

© SoundWords, online seit: 15.12.2013, aktualisiert: 18.10.2016

Die persönlichen Leiden Christi, als Er in die Not der Gottesfürchtigen in Israel eintrat, die aufgrund der Sünden des Volkes über sie gebracht war, wegen derer sie unter der Herrschaft Gottes geschlagen wurden

Die Erfahrungen, die in dem Psalm beschrieben werden, wurden, obwohl sie auch auf andere übertragbar sind, in ihrer Gänze nur von Christus gemacht. Wenn wir sehen, dass diese Erfahrungen bis zu einem gewissen Grade auch anderen vertraut sein können, wird deutlich, warum die Leiden haltmachen vor der Sühne mit dem darauffolgenden Verlassenwerden von Gott, welches Christus allein ertragen kann, wie es in Psalm 22 beschrieben ist.

Während der Herr die beschriebenen Leiden zum Teil im Laufe seines Lebens erfuhr, so gipfeln sie doch am Kreuz, denn nur dort kann es von dem Herrn heißen, dass Er von Gott geschlagen wurde [s. Ps 69,27]. Doch während auf die Schläge Gottes als etwas, was Israel verdient, eingegangen wird, so steht doch das Leiden unter der Feindschaft des schuldigen jüdischen Volkes im Vordergrund. Solche Bosheit verdient das Gericht; daher finden wir in diesem Psalm nicht die Suche nach der Gnade, die dem Menschen Segen bringt, sondern vielmehr den Ruf nach dem Gericht. Dennoch bereitet das Gericht über das schuldige Volk der Wiederherstellung Israels den Weg, mit der der Psalm schließt.

Verse 2-4

Ps 69,2-4: 2 Rette mich, o Gott, denn die Wasser sind bis an die Seele gekommen! 3 Ich bin versunken in tiefen Schlamm, und kein Grund ist da; in Wassertiefen bin ich gekommen, und die Flut überströmt mich. 4 Ich bin müde vom Rufen, entzündet ist meine Kehle; meine Augen schwinden hin, während ich auf meinen Gott harre.

Die Anfangsverse beschreiben das persönliche Leiden des Herrn am Kreuz. Später in dem Psalm hören wir von der Feindschaft der Menschen, die Er auf dem Weg, der zum Kreuz führte, ertrug. Hier wird uns das äußerste Leiden erstmals vor Augen gestellt: das, welches der Herr in seiner eigenen Seele ertrug. All das, was die Gottesfürchtigen in Israel in gewissem Maße fühlten, fühlte Er zur Gänze, wie es nur ein vollkommener Mensch konnte. Das Volk hatte keinen Stand, keinen „festen Grund“ vor Gott; in diese Stellung trat der Herr am Kreuz im Geiste ein. Doch in dieser Stellung wartete der gläubige Überrest auf Gott; und dieses zuversichtliche Vertrauen wurde von Christus vollkommen ausgedrückt, der inmitten seiner Not sagen kann: „Ich harre auf meinen Gott“ [zitiert nach der englischen Übersetzung].

Vers 5

Ps 69,5: Mehr als die Haare meines Hauptes sind derer, die ohne Ursache mich hassen; mächtig sind meine Vertilger, die mir ohne Grund feind sind; was ich nicht geraubt habe, muss ich dann erstatten.

Den Hass des jüdischen Volkes gegenüber dem gottesfürchtigen Überrest fühlte der Herr am Kreuz auf vollkommene Weise. Seine unendliche Vollkommenheit befähigte Ihn dazu, uneingeschränkt zu sagen, dass sie Ihn „ohne Ursache“ hassten und dass diejenigen, die Ihn verderben wollten, zu Unrecht seine Feinde war. Überdies waren seine Feinde viele und sie waren stark. Ihm schlug nicht einfach die Feindschaft eines Einzelnen entgegen, sondern am Kreuz der Hass eines ganzen Volkes, geführt von seinen mächtigen Anführern. Auf Ihn traf das Sprichwort zu: „Ich erstattete, was ich nicht geraubt hatte“ [zitiert nach der englischen Übersetzung]. Jemand hat einmal erklärt, dies sei dasselbe, als wenn man sagen würde: „Ich werde als schuldig behandelt, obwohl ich unschuldig bin“ (vgl. Jer 15,10).

Vers 6

Ps 69,6: Du, o Gott, weißt um meine Torheit, und meine Vergehungen sind dir nicht verborgen.

Von dem Wüten der Völker um das Kreuz herum wendet sich der heilige Leidende an Gott. Unter der Herrschaft Gottes litt Israel für seine Sünden. In dieses Leiden tritt der Herr ein. Er kann sich an Gott wenden als jemand, der die wahre Ursache seiner Leiden kennt: die Sünden des Volkes, die Er bekennt, als wären es seine eigenen. Hier jedoch haben wir das Bekenntnis der Sünden und nicht das Gericht über die Sünden, das die Sühne bewirkt, wie in Psalm 22.

Vers 7

Ps 69,7: Lass nicht durch mich beschämt werden, die auf dich harren, Herr, HERR der Heerscharen! Lass nicht durch mich zuschanden werden, die dich suchen, Gott Israels!

Er hofft und harrt auf den Herrn (vgl. Ps 69,3); aber es gibt noch andere, die auf den Herrn der Heerscharen hoffen. Für diese schaut Er auf Gott und erwartet, dass sie nicht beschämt und verwirrt werden durch die Leiden desjenigen, von dem sie ihre Erlösung erwarteten (vgl. Lk 24,19-24).

Verse 8-13

Ps 69,8-13: 8 Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Angesicht. 9 Entfremdet bin ich meinen Brüdern, und ein Fremder geworden den Söhnen meiner Mutter. 10 Denn der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. 11 Als ich weinte und meine Seele fastete, da wurde es mir zu Schmähungen; 12 als ich mich in Sacktuch kleidete, da wurde ich ihnen zum Sprichwort. 13 Die im Tor sitzen, reden über mich, und ich bin das Saitenspiel der Zecher.

Nun wird uns gestattet, die Leiden des Herrn auf dem Weg, der zum Kreuz führte, zu sehen. Aufgrund seiner Treue zu Gott erlitt Er Hohn und Schande von einer Welt, die die Dunkelheit mehr liebte als das Licht. Mehr noch: In seinem eigenen Land und in seinem eigenen Haus wurde Er wie ein Fremder und ein Ausländer behandelt (vgl. Mt 13,54-58). Des Weiteren brachte Ihm der Eifer um Gottes Haus – der Ihn zu zwei Gelegenheiten dazu führte, dieses Haus zu reinigen – die Schmähungen der Menschen ein, deren Hass auf Gott sich über Christus entlud (Joh 2,13-17; Lk 19,45-48).

Selbst wenn Er weinte und seine Seele fastete, weil Er das Unheil vorhersah, das das Volk durch seine Sünden über sich bringen würde, führte das nur zu Schmähungen gegen Ihn. Außerhalb ihrer Stadt weinte Er über die Sünder, die sich zur gleichen Zeit innerhalb der Stadt gegen sein Leben verschworen (Lk 19,41-48). Wenn die Sünden des Volkes Ihn zu einem „Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“ [Jes 53,3] machten, so nahmen die Menschen diese Schmerzen und diesen Kummer, die hier durch das Sacktuch symbolisiert werden, zum Anlass, um ein Sprichwort über Ihn zu dichten, um andere davor zu warnen, in seine Fußstapfen zu treten. Sein öffentlicher Protest gegen die Gottlosigkeit zog Ihm den Hass der Anführer zu – derjenigen, die im Tor saßen – und machte Ihn zur Zielscheibe des Gespötts der Verkommenen, denn über Ihn sangen die Zecher ihre Spottlieder.

Verse 14-20

Ps 69,14-20: 14 Ich aber, mein Gebet ist zu dir, HERR, zur Zeit der Annehmung. O Gott, nach der Größe deiner Güte, erhöre mich nach der Wahrheit deines Heils! 15 Zieh mich heraus aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke! Lass mich errettet werden von meinen Hassern und aus den Wassertiefen! 16 Lass die Flut der Wasser mich nicht überströmen und die Tiefe mich nicht verschlingen; und lass die Grube ihren Mund nicht über mir verschließen! 17 Erhöre mich, HERR, denn gut ist deine Güte; wende dich zu mir nach der Größe deiner Erbarmungen! 18 Und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knecht, denn ich bin bedrängt; eilends erhöre mich! 19 Nahe dich meiner Seele, erlöse sie; erlöse mich um meiner Feinde willen! 20 Du kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande; vor dir sind alle meine Bedränger.

Der Herr hat uns bisher von seinen Leiden durch Menschenhand erzählt. Nun dürfen wir zusehen, wie sie Ihm zum Anlass dienen, die Vollkommenheit seines Vertrauens auf Gott zu offenbaren. Da war nichts in Ihm, wie es in uns ist, was Ihn dazu verleitet hätte, Verbitterung oder Verzweiflung zu äußern. Die Bosheit der Menschen bringt Ihn nur dazu, sich an Gott zu wenden. „Ich aber richte mein Gebet an dich, Herr.“ Er wendet sich an Gott in dem vollen Bewusstsein, dass Er erhört wird, denn Er wendet sich an Gott zur Zeit des Wohlgefallens. Als Er durch Gottes Hand für die Sünde litt, rief Er, wie wir aus Psalm 22 wissen, und wurde nicht erhört. Hier, wo es um die Leiden aus Menschenhand geht, wird sein Ruf angenommen. Sein Vertrauen auf die grenzenlose Barmherzigkeit und auf die Wahrhaftigkeit von Gottes rettender Macht wird durch all das, was Er durchmacht, nicht getrübt. Er blickt auf Gott und erwartet von Ihm die Errettung aus seiner Not, aus der Hand derjenigen, die Ihn hassen, und aus der Gewalt des Todes.

Er spricht als Einer, der aus Erfahrung die liebende Güte des Herrn und die Größe seiner Erbarmungen kennt, und als Einer, der diese Erbarmungen braucht als Knecht Gottes, der von Feinden umgeben ist. Sein Trost ist, dass Gott alles bekannt ist. Der voller Güte und Erbarmungen ist, ist derjenige, der seine Schmähungen, seine Schande und seine Schmach kennt; sogar seine Bedränger sind alle vor Gott.

Verse 21.22

Ps 69,21.22: 21 Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden. 22 Und sie gaben in meine Speise Galle, und in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken.

So blickt Er auf Gott allein an dem Tag, an dem der Hohn der Menschen sein Herz gebrochen hat. Anderswo nach Trost zu suchen, wäre nutzlos, denn in dieser Welt wäre keiner, der Mitleid empfunden hätte. Tatsächlich suchte Er und wartete auf jemanden, der Mitleid empfände, oder auf einen Tröster, aber Er fand keinen. Weit entfernt von Mitleid oder Trost beantworteten sie seinen Schrei nur mit Galle und Essig.

Verse 23-29

Ps 69,23-29: 23 Ihr Tisch werde vor ihnen zur Schlinge, und ihnen, den Sorglosen, zum Fallstrick! 24 Lass ihre Augen dunkel werden, damit sie nicht sehen; und lass ihre Lenden beständig wanken! 25 Schütte deinen Grimm über sie aus, und die Glut deines Zorns erreiche sie! 26 Verwüstet sei ihr Zeltlager, in ihren Zelten sei kein Bewohner! 27 Denn den du geschlagen hast, haben sie verfolgt, und vom Schmerz deiner Verwundeten erzählen sie. 28 Füge Ungerechtigkeit zu ihrer Ungerechtigkeit, und zu deiner Gerechtigkeit lass sie nicht kommen! 29 Lass sie aus dem Buch des Lebens ausgelöscht und nicht mit den Gerechten eingeschrieben werden!

Die Ablehnung der Gnade des Erlösers und der grundlose Hass, der Ihn an das Kreuz nagelte, gibt die Menschen schutzlos dem Gericht preis, denn sie haben den Einzigen verworfen, der sie vor dem Gericht beschützen konnte. Daher folgt hier nun der Ruf nach dem vergeltenden Gericht, dass es über die hereinbrechen möge, die sich grundlos als Feinde Christi erzeigt haben. Es ist ein Gericht, das die Menschen in dieser Welt ereilt, wenngleich es in der Folge tatsächlich auch zum ewigen Gericht führen kann. Vor diesem Gericht warnte der Herr die Stadt Jerusalem; darüber unterrichtete Er seine Jünger und warnte die Töchter Jerusalems (Lk 19,42-44; 21,20-24; 23,28-31).

Der irdische Reichtum der Welt wird ihr zum Fallstrick werden; und mit dem Scheitern all dessen, worauf die Menschen vertrauten, wird die Welt in geistige Dunkelheit getaucht werden. Ohne zu wissen, wie sie handeln sollen, wird über die Erde eine Angst der Völker und Ratlosigkeit kommen [Lk 21,25]. Ihre Hüften werden beständig wanken [Ps 69,24], und „die Menschen verschmachten vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen“ [Lk 21,26]. Gott wird seinen Zorn über sie ausschütten und ihr Wohnort wird zerstört werden. Ihr Haus wird verlassen dastehen und ihre Stadt wird von den Heiden zertreten werden.

Das Gericht, das die Menschen einholt, kommt aufgrund der mitleidlosen Grausamkeit, der es Spaß machte, denjenigen, den Gott geschlagen hatte, zu verfolgen. An diesem Leiden haben auch andere teil. So ist es gerade der Kummer derjenigen, die von der Sünde des Volkes im Geist verwundet sind, der die Verfolgung durch das Volk hervorruft. Die Ablehnung der Gnade Christi ist die Sünde, die ihre Verfehlungen krönt. Solche Leute können keinen Teil haben an der Gerechtigkeit Gottes, die Erlösung bringt, keinen Teil am Buch des Lebens oder am Erbteil der Gerechten.

Verse 30-32

Ps 69,30-32: 30 Ich aber bin elend, und mir ist wehe; deine Rettung, o Gott, setze mich in Sicherheit! 31 Rühmen will ich den Namen Gottes im Lied und ihn erheben mit Lob. 32 Und es wird dem HERRN wohlgefälliger sein als ein Rind, ein Stier mit Hörnern und gespaltenen Hufen.

Wenn die Leiden Christi aus Menschenhand jedoch zum Gericht über das Volk führen, so werden sie auch eine glorreiche Antwort in der Erhöhung Christi erhalten. Daher kann der Herr, wenn Er auch elend und voller Schmerzen ist, sagen: „Deine Rettung, o Gott, bringe mich in Sicherheit!“ Mit seiner Erhöhung wird der Lobpreis Gottes kommen, den Christus anführen wird und der die Opfer von früher ersetzen wird.

Verse 33-37

Ps 69,33-37: 33 Die Sanftmütigen werden es sehen, sie werden sich freuen; ihr, die ihr Gott sucht, es lebe euer Herz! 34 Denn der HERR hört auf die Armen, und seine Gefangenen verachtet er nicht. 35 Ihn sollen loben Himmel und Erde, die Meere und alles, was in ihnen wimmelt! 36 Denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen; und sie werden dort wohnen und es besitzen. 37 Und die Nachkommenschaft seiner Knechte wird es erben; und die seinen Namen lieben, werden darin wohnen.

Wenn der Herr den Lobpreis anführt, werden die demütigen Nachfolger Christi, die Gott suchen, froh sein, weil sie die Antwort auf den Schrei der Bedürftigen sehen und erfahren werden, dass, wenn auch Menschen sie verfolgen mögen, der Herr seine Gefangenen doch nicht verachten wird.

Des Weiteren wird das Lob, das mit dem erhöhten Messias beginnt, vom Himmel und von der Erde und von den Meeren und allem, was in ihnen wimmelt, aufgenommen werden. Zion wird gerettet werden, die Städte Judas werden wieder aufgebaut und bewohnt werden und die Nachkommen der Knechte Gottes werden das Land erben. Die seinen Namen lieben, werden darin wohnen.

So erfahren wir, dass das Leiden Christi durch das schuldige Volk, während es das Gericht über das Volk bringt, auch zur Erhöhung Christi führt. Überdies bereitet die Vollstreckung des Gerichts über das Volk den Weg für die Segnung des gottesfürchtigen Überrestes und das Wiederherstellen Israels.

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Übersetzung: S. Bauer


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