Abigail
1. Samuel 25

Hamilton Smith

© SoundWords, online seit: 22.06.2001, aktualisiert: 16.02.2022

Leitverse: 1. Samuel 25

In die Geschichte des so bewegten Lebens Davids sind viele schöne Charaktere eingewoben, von denen Jonathan, die drei Helden, die Wasser aus der Quelle schöpften, sowie Mephiboseth und Ittai glänzende Vorbilder sind. Unter allen diesen ist aber vielleicht keiner, der schönere sittliche Kennzeichen hat als Abigail, die Karmelitin. Bedeutungsvoll ist schon ihr Name, der „Quelle“ oder „Ursache des Ergötzens“ bedeutet, und sicherlich beweist ihre Geschichte, dass sie für das Herz Davids eine Ursache des Ergötzens war.

Zu der Zeit als sie auf dem Schauplatz erscheint, war David, obwohl er der Gesalbte des HERRN, der kommende König und der Mann nach dem Herzen Gottes war, ein Verfolgter, der, geschmäht und verachtet, sich in den Höhlen der Erde verbergen musste; ein besitzloser Wanderer in der Wüste, umringt von einer Schar Getreuer, die sich ihm angeschlossen hatten. Im Laufe seines Umherirrens taten sowohl er als auch seine Genossen Gutes, denn die Hirten eines Nabal mussten anerkennen, dass David und seine Männer „sehr gut zu ihnen gewesen waren“ (1Sam 25,15). Sie schützten die Hirten und ihre Herden Nacht und Tag, so dass ihnen nichts verlorenging, solange David und seine Männer in ihrer Nähe waren.

Dieser Nabal, der Wohltaten solcher Art von David und jenen, die mit ihm waren, empfangen hatte, wird uns als ein sehr vermögender Mann von hoher gesellschaftlicher Stellung beschrieben. Er war in den Augen der Welt einer ihrer Großen, der sogar ein königliches Mahl bereiten konnte. In den Augen Gottes war er ein geiziger Mann, „boshaft in seinen Handlungen“ (1Sam 25,3), einer, der keine Fürsprache anderer ertragen konnte. Scheinbar war ihm sein Wohltäter nicht bekannt, denn er sagte: „Wer ist David und wer der Sohn Isais?“ (1Sam 25,10). Wohl mochte er von dem großen Sieg Davids über den Riesen Goliath gehört haben und wie die Frauen ihn deshalb besungen hatten, doch allem Anschein nach hielt er ihn für einen, den seine Heldentaten und sein Ruhm nach dem Königsthron trachten ließ. Er sah in David einen empörerischen Knecht, der seinem Herrn, dem König Saul, entflohen war. Wenn irgendein Gerücht darüber, dass Samuel ihn zum König gesalbt hatte, sein Ohr erreicht hatte, so behandelte er dies augenscheinlich als eine ihm völlig gleichgültige Sache. Er legte keinerlei Wert darauf; für Nabal war David nur ein davongelaufener Knecht.

Und so geschah es, dass Davids Knaben mit Beschimpfung weggetrieben wurden, als David sich an einem Tag des Überflusses an Nabal wendet, um eine Entschädigung für die geleisteten Dienste zur erlangen. David, durch eine solche Behandlung in Zorn versetzt, bereitet sich vor, Rache zu üben. Dies bringt Abigail auf den Schauplatz. Sie wird als eine Frau schöner Gestalt beschrieben und, was noch mehr wert ist, „von guter Einsicht“ (1Sam 25,3). Augenscheinlich hat sie auf das Volk und die Ereignisse des Tages achtgehabt, und der Herr hatte ihr Verständnis gegeben, gemäß dem Wort eines Apostels, das viel später gesprochen wurde: „Bedenke, was ich sage; denn der Herr wird dir Verständnis geben in allen Dingen“ (2Tim 2,7). Sie hörte von einem der Knaben die törichte Handlungsweise ihres Gatten. Sofort wirkt der Glaube in ihr, und sie ergreift deshalb Maßnahmen, ohne Nabal zu befragen. Der natürliche Mensch konnte in David nur einen entlaufenen Knecht sehen; der Glaube, der nicht allein auf die äußerlichen Dinge blickt, sieht in dem verfolgten und Mangel leidenden David den kommenden König. Deshalb nimmt Abigail ihm gegenüber den Platz einer ihm Ergebenen ein und behandelt ihn mit Ehrerbietung als einen solchen. Sie bereitet ein Geschenk für David zu, und nachdem sie ihm begegnet ist, fällt sie zu seinen Füßen nieder und erkennt ihn als ihren Herrn an. Sie nimmt Stellung für David, sowohl ihrem Gatten als auch dem König Saul gegenüber. Sie erkennt an, dass Nabal, obwohl ihr Gatte und ein Großer des Landes, in einer gottlosen und törichten Weise handelte und dass Saul, obwohl der herrschende König, „nur ein Mensch ist“, der gegen den Gesalbten des HERRN streitet. Sie sieht, dass David, obwohl gejagt und in Armut, „eingebunden ist in das Bündel der Lebendigen“ (1Sam 25,29) und zu einem herrlichen Erbteil kommen wird.

Gleich Jonathan hatte auch sie als die Frau eines sehr vermögenden Mannes eine Stellung in dieser Welt; im Gegensatz zu diesem aber war sie als Frau zunächst gehindert, sich mit David am Tag seiner Armut und Verwerfung einszumachen. Im Glauben blickt sie über den Tag seiner Leiden hinaus und sieht seine kommende Herrlichkeit. Indem diese vor ihrer Seele aufsteigt und im Vertrauen auf den König wendet sie sich mit den Worten an ihn: „Wenn der HERR meinem Herrn wohltun wird, so erinnere dich an deine Magd“ (1Sam 25,31).

Diese Worte erinnern uns in deutlicher Weise an eine andere weit größere Szene. Es war am Tag des Opfertodes Christi. Da sah der sterbende Räuber in dem neben ihm gekreuzigten Menschen „den Herrn der Herrlichkeit“, „den König der Könige“ und, über die schrecklichen Umstände hinwegblickend, den Tag der kommenden Herrlichkeit, und im Vertrauen auf den kommenden König sagt er: „Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reich kommst!“ (Lk 23,42). Auf dieselbe Weise blickte sowohl die vornehme Abigail als auch der tief gesunkene Räuber im Glauben über die Gegenwart hinweg. Beide handeln und reden im Licht der Zukunft, und die Zukunft rechtfertigt ihren Glauben.

Obwohl sich David in den Umständen der Wüste befindet, handelt er würdevoll wie ein König mit seinem Untertan. Er entlässt Abigail mit Worten des Segens, nachdem er ihr Geschenk angenommen, ihre Bitte erhört und ihre Person angesehen hat. Als Abigail zu ihrem Gatten zurückkehrt, findet sie diesen „über die Maßen betrunken“ (1Sam 25,36). Nachdem er wieder nüchtern geworden ist, erfährt er, was sich inzwischen zugetragen hat. Schnell schritt Gott ein: „Sein Herz erstarb in seinem Innern und er wurde wie ein Stein“ (1Sam 25,37). Ungefähr zehn Tage nachdem der HERR ihn geschlagen hatte, wurde er, um Abigails Bild zu gebrauchen, ins Gericht geworfen gleich einem Stein, der aus der Pfanne der Schleuder hinweggeschleudert wird.

Nachdem sie durch den Tod ihre Freiheit erlangt hat, wird sie die Frau Davids. Sie gibt ihre hohe Stellung und die Bequemlichkeit eines angenehmen Lebens, die naturgemäß das Teil einer so reichen Frau sind, auf, um sich David anzuschließen und seine Leiden und sein Umherirren zu teilen. Auf dem neuen Pfad wird sie in Wahrheit Leiden und Entbehrungen kennenlernen sowie die Gefangennahme durch die Feinde Davids in den Tagen Ziklags, aber sie wird auch an dem Thron teilhaben in den Tagen seiner Herrschaft zu Hebron (1Sam 30,5; 2Sam 2,2).

Haben wir nicht in dieser rührenden Geschichte eine Vorschattung von Davids größerem Sohn? Sehen wir nicht in dem verworfenen und verfolgten David ein Bild von dem, der verachtet und verworfen war von den Menschen? Gewiss war viel in David, was den Menschen von gleicher Gemütsbewegung wie wir verriet, doch als Vorbild stellt er sehr schön den dar, der auf dem ganzen Pfad seiner Verwerfung vollkommen war. David mag in einem unbewachten Augenblick sich sein Schwert umgürten, um Rache an seinem Feind zu nehmen, wie Petrus im gleichen Geist sein Schwert zog, um den Herrn zu verteidigen, aber Christus sagte angesichts seiner Feinde: „Stecke dein Schwert wieder an seinen Platz“ (Mt 26,52). In jedem Vorbild sind solche Gegensätze, die uns zeigen sollen, dass keines von ihnen die Vollkommenheit Jesu darstellen kann. Andere mögen uns zu gewissen Zeiten ein sehr schönes Bild des Kommenden geben, doch sie alle sind nur Schatten; Christus ist die Wirklichkeit, und Er allein ist vollkommen.

Wenn wir in David ein Vorbild von Christus, dem König der Könige, sehen, so in Nabal ein solches von der Haltung der Welt Christus gegenüber, sowohl in den Tagen seines Fleisches als auch in der gegenwärtigen Zeit, wo Er zur Rechten Gottes sitzt. Nabal zeigt uns, dass die Gedanken der Menschen dieser Welt nicht über die gegenwärtige Zeit hinausgehen. Wie damals so sind sie auch heute erpicht, Gewinn zu machen, Feste zu feiern und Vergnügungen zu genießen. Von solch einer Welt wird Christus verachtet und verworfen. Sie nimmt an Ihm keine Schönheit war, sie achtet Ihn für nichts, sie hat kein Verständnis dafür, wie sehr sie Ihn nötig hat. Sie mag ein christliches Bekenntnis haben, doch zu gleicher Zeit ist sie so mit sich zufrieden, dass sie sagt: „Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts“ (Off 3,17); auch Christus bedarf sie nicht. Sie hatten wohl Christi Namen angenommen, Christus selbst aber hatten sie zur Tür hinausgetan. Doch so groß ist seine langmütige Gnade, dass, wie David sich an Nabal wandte, auch Er an der Tür der bekennenden Christenheit steht und anklopft.

Wenn jedoch inmitten der Christus verwerfenden Christenheit einige sind, die seine Stimme hören und Ihm die Tür auftun, wie reich werden sie gesegnet sein. In der Gegenwart werden sie christliche Gemeinschaft mit Christus genießen – am Tag seiner Verwerfung –, denn der Herr sagt zu dem, der Ihm die Tür auftut, dass Er zu ihm eingehen und das Abendbrot mit ihm essen werde und er mit Ihm. Und in Zukunft, am Tag seiner Herrlichkeit, wird der, der mit Christus am Tag seiner Verwerfung das Abendbrot mit Ihm gegessen hat, mit Ihm herrschen. Der Herr sagt zu einem solchen: „Wer überwindet, dem werde ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen“ (Off 3,21).

War nicht von diesen allen Abigail ein hell leuchtendes Beispiel? Wenn die Welt in ihren Tagen die Tür vor Davids Angesicht zuschlug, sie öffnete sie und stellte ihre Habe ihm zur Verfügung. Sie fand großen Lohn und erfreute sich als seine Frau am Tag seiner Verwerfung köstlicher Gemeinschaft mit ihm, und am Tag seiner Herrlichkeit saß sie mit ihm auf seinem Thron.

Glücklich ist zu preisen, wer sich durch Nabal warnen lässt und dem Beispiel Abigails folgt. Glücklich, wenn wir mit ungeteilten Herzen uns von dem Verderben des christlichen Bekenntnisses trennen, um außerhalb des Lagers seine Schmach zu tragen. Die Christenheit macht gewaltige Anstrengungen, eine Einheit zustande zu bringen, in der jede lebensnotwendige Wahrheit geleugnet wird oder wo diese in einem Nebel menschlicher Theorien verlorengeht, eine Einheit, von der Christus selbst ausgeschlossen ist, um schließlich wahrnehmen zu müssen, dass sie aus seinem Mund ausgespien ist. Wie gut deshalb, als wahrer Christ durch den Ernst dieser Tage wachsam zu sein und die Stimme des Herrn zu hören: „Geht aus ihr hinaus, mein Volk, damit ihr nicht ihrer Sünden teilhaftig werdet und damit ihr nicht empfangt von ihren Plagen“ (Off 18,4).

Alle, die dem Wort des Herrn gehorchen wie Abigail in ihren Tagen, werden finden, dass die Bande der Natur, die gesellschaftliche Stellung und weltlich-religiöse Autoritäten überwunden werden müssen. Sind wir aber, wie Abigail, Überwinder, so werden wir einen Platz außerhalb mit Christus finden als einer der tiefsten gegenwärtigen Segnungen und der höchsten zukünftigen Herrlichkeit.


Originaltitel: „Abigail“
aus Edification, Jg. 7, 1933, S. 35–43


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