Liebe, die mich nicht lassen wird
Lukas 7,36-39.47; Lukas 10,38-42; Johannes 11

Hamilton Smith

© EPV, online seit: 06.06.2005, aktualisiert: 28.12.2022

Leitverse: Lukas 7,36-39.47; Lukas 10,38-42; Johannes 11

Einleitung

Wie gesegnet ist es, in Christus einen Freund gefunden zu haben, der uns mit einer Liebe liebt, die uns nicht loslässt, wie es in dem Wort heißt: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende“ (Joh 13,1).

Solche Liebe – die ewige Liebe Christi, die uns niemals aufgibt – kann nicht befriedigt sein, bis sie unsere Liebe als Antwort auf seine Liebe geweckt hat. Die Antwort auf seine Liebe wird in ihrer Fülle erst dann gesehen werden, wenn wir schließlich die Heimstatt der ewigen Liebe erreicht haben. Nichtsdestoweniger ist schon jetzt auf dem Weg zur ewigen Heimat die Liebe, mit der wir Christus an dem Platz und in der Zeit seiner Verwerfung wertschätzen, seinem Herzen sehr köstlich. Das sehen wir ganz deutlich aus dem Wert, den der Herr der Liebe Marias beimisst, die sie dazu brachte, seine Füße mit der sehr kostbaren Salbe zu salben.

Es ist sehr ermutigend und nützlich für unsere Seelen, die gnädigen Wege des Herrn mit seinem Volk zu sehen, damit in unseren Herzen Liebe erweckt, Liebe aufrechterhalten und Liebe vertieft wird. Diesen gnädigen Wegen des Herrn möchten wir kurz in den Begebenheiten des Neuen Testaments bei zwei Frauen nachgehen, die Ihm sehr zugetan waren.

I. Das Aufwecken der Liebe (Lk 7,36-39.47)

Lk 7,36-39.47: Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen; und er ging in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau, die in der Stadt war, eine Sünderin, erfuhr, dass er in dem Haus des Pharisäers zu Tisch liege, und brachte ein Alabasterfläschchen mit Salböl, und hinten zu seinen Füßen stehend und weinend, fing sie an, seine Füße mit Tränen zu benetzen; und sie trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küsst seine Füße und salbte sie mit dem Salböl. Als aber der Pharisäer es sah, der ihn geladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagt: Wenn dieser ein Prophet wäre, so würde er erkennen, wer und was für eine Frau es ist, die ihn anrührt, denn sie ist eine Sünderin. … Deswegen sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.

Bei der einmaligen Szene, die sich in dem Haus Simons des Pharisäers abspielte, sehen wir das Aufwecken der Liebe für den Heiland in dem Herzen einer Sünderin. Der Herr hatte in der Vollkommenheit seines Weges sich herabgelassen, das Festmahl, das der Pharisäer bereitet hatte, mit seiner Gegenwart zu beehren. Während sie zu Tisch lagen, tritt ein ungeladener Gast ein, von dem der Herr sagen kann: „Sie hat viel geliebt.“ Wie war diese Liebe in ihrer Seele erwacht?

In Bezug auf den Charakter dieser Frau gibt es keine Frage. Der Geist Gottes hat sie als „eine Frau in der Stadt, die eine Sünderin war“, beschrieben. Überdies war ihr schlechter Ruf bekannt, denn auch Simon wusste, dass sie „eine Sünderin“ war. Sie war eine Sünderin und wusste es, und Simon wusste es und jeder wusste es. Außerdem war sie eine schuldbeladene Sünderin und hatte möglicherweise die wunderbaren Worte des Herrn gehört: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben.“ Wie dem auch sei, es ist jedenfalls keine Frage, dass sie in Jesus die Gnade sah, die auch die segnen konnte, die es nicht verdient hatten. Sie fühlt sich von ihrer Not getrieben und von seiner Gnade gezogen; sie kommt mit der Kühnheit des Glaubens in das Haus des Pharisäers und tritt von hinten zu den Füßen Jesu.

Der Geist Gottes lenkt mit einem „Siehe“ die Aufmerksamkeit auf die dann folgende Szene. Er will unsere Aufmerksamkeit fesseln und uns beiseitenehmen, damit wir dieses „große Gesicht“ betrachten – die Begegnung eines vom Teufel gebundenen Sünders mit dem Heiland, den Gott vom Himmel gesandt hatte. Zweifellos verstummten alle Anwesenden vor Verwunderung, als sie die Szene beobachteten, die sich vor ihren Augen abspielte. Sie konnten sich mit Recht fragen, was jetzt wohl geschehen würde. Würde der Herr ihren Charakter bloßstellen, ihre Sünden verurteilen und sie aus seiner heiligen Gegenwart wegschicken? Ach nein! Mochte der stolze Pharisäer auch die Sünderin verurteilen, er musste erleben, dass er selbst durch den Heiland bloßgestellt wurde; einen Sünder jedoch, der seine Sünden bekennt, wird der Herr nicht verurteilen.

Die Weisheit seines Handelns ist so vollkommen wie die Gnade seines Herzens. Zunächst wird kein Wort gesprochen. Die Gäste sind still vor Staunen, der Herr ist still in Gnade, die Frau ist still vor Kummer. Kein Laut ist in der Stille zu vernehmen als nur das Schluchzen einer weinenden Sünderin. Wenn nun auch nichts gesprochen wird, so geschieht doch viel, denn das Herz der Sünderin wurde zerbrochen, und das Herz der Sünderin wurde gewonnen. Sie stand „hinten zu seinen Füßen … weinend … und küsste seine Füße sehr“. Die Tränen reden von einem Herzen, das zerbrochen, und die Küsse von einem Herzen, das gewonnen ist.

Was war es denn, was ihr Herz zerbrach und ihr Herz gewann? War es nicht so, dass sie etwas von der Gnade und der Heiligkeit des Heilands sah und in dem Licht seiner Herrlichkeit die Sündhaftigkeit ihres Lebens und ihres Herzens erkannte wie nie zuvor und dass dies ihr Herz zerbrach? Aber noch mehr, sie erkannte, dass Er, obwohl sie eine Sünderin voller Sünde war, dennoch ein Heiland voller Gnade für solch einen sündigen Menschen war. Sie fand sich in der Gegenwart Dessen, der ihr schändliches Leben durch und durch kannte und sie dennoch liebte, und dadurch wurde ihr Herz gewonnen.

Es ist gut für jeden von uns, wenn auch wir als Beladene und Elende wegen unserer Sünden in seiner Gegenwart gewesen sind, um dort zu entdecken, dass wir in Ihm Einen gefunden haben, der das Schlimmste über uns weiß und uns dennoch liebt. Auf diese Weise sollte Liebe zu Christus in unseren Herzen geweckt werden.

II. Die Aufrechterhaltung der Liebe (Lk 10,38-42)

Lk 10,38-42: Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf; eine gewisse Frau aber mit Namen Martha, nahm in in ihr Haus auf. Und diese hatte eine Schwester, genannt Maria, die sich auch zu den Füßen Jesu niedersetzte und seinem Wort zuhörte. Martha aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen; sie trat aber hinzu und sprach: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun, dass sie mir helfen soll. Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha! Du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge; eins aber ist nötig. Denn Maria hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird.

Wir haben gesehen, wie Liebe zu Christus geweckt wird, und es ist in der Tat eine gesegnete Sache, wenn zu Beginn eines christlichen Lebens das Herz für Christus gewonnen worden ist. Wir müssen nun lernen, wie das Herz, in dem die Liebe geweckt worden ist, in der Frische der ersten Liebe erhalten werden kann.

Wissen wir nicht alle, dass sich im Lauf der Zeit mancherlei Dinge zwischen die Seele und Christus drängen wollen? Nicht immer grobe Dinge, die durch die Verdorbenheit, die sie mit sich bringen, die Seele aufhalten, sondern kleine und scheinbar harmlose Dinge – „die kleinen Füchse, welche die Weinberge verderben“ und das Leben unfruchtbar machen. Wenn wir diese kleinen Dinge zulassen, wird sich Kälte auf unsere Zuneigungen legen und allmählich eine Eiskruste über dem Herzen bilden, und der Herr muss uns sagen: „Du hast deine erste Liebe verlassen.“ Nachdem wirkliche Liebe zu Christus in Seelen geweckt worden ist, sehen wir oft, dass etliche aus diesem oder jenem Grund in ihrem geistlichen Verständnis wenig Fortschritte machen, während andere in tieferer Bekanntschaft mit dem Herrn und in seiner Gesinnung wachsen. Wie kann die Liebe, die geweckt worden ist, aufrechterhalten werden?

Gibt uns nicht das Haus in Bethanien die Antwort? Bei den beiden Schwestern haben wir zwei Heilige, in denen wirkliche Liebe zu Christus geweckt worden ist; doch in der einen Schwester sehen wir eine Gläubige, die in der Gnade und Erkenntnis des Herrn Jesus wächst, während wir in der anderen Schwester eine Heilige sehen, die durch das Ich und durch ihren Dienst im geistlichen Wachstum gehemmt wird.

Marthas Liebe zeigte sich darin, dass sie den leiblichen Bedürfnissen des Herrn als Mensch zu begegnen suchte. Marias Liebe wurde darin sichtbar, dass sie seinem Wort zuhörte und dadurch das tiefe Verlangen seines Herzens zu befriedigen suchte.

Martha war mit den „vielen Dingen“ beschäftigt, die alle im Tod ihr Ende finden. Maria war mit dem „einen“ beschäftigt, das der Tod ihr nicht nehmen konnte. Es hat jemand gesagt: „Keine Aufmerksamkeit, die Ihm im Fleisch hätte erwiesen werden können, und sei es auch von einem Menschen, der Ihn liebte und den Er liebte, hätte das ersetzen können. Die ‚vielen Dinge‘ enden nur in Enttäuschung und Tod, statt in das ewige Leben hineinzuführen, wie es die Worte Jesu tun, die ein zerbrochenes Herz dahin bringen, den Strom des Lebens hervorfließen zu lassen.“

Wenn wir also wissen wollen, wie die Liebe geweckt wird, müssen wir im Geist das Haus Simons aufsuchen; wenn wir aber wissen wollen, wie die Liebe aufrechterhalten wird, so lasst uns das Haus in Bethanien besuchen. Zu den Füßen des Heilands im Haus Simons stehend, wurde die Liebe in dem Herzen einer Sünderin geweckt; zu den Füßen des Meisters in dem Haus Marthas sitzend, wurde die Liebe aufrechterhalten. Zu seinen Füßen sind wir in seiner Gesellschaft; in seiner Gesellschaft hören wir seine Worte, und seine Worte offenbaren sein Herz. Dort lernen wir in der Schule der Liebe. Wie viel kennen wir von dem guten Teil, das Maria erwählte – dem Abwenden von dem geschäftigen Treiben des Lebens und den Tätigkeiten des Dienstes, um mit dem Herrn Jesus allein zu sein, und mehr noch, das Hinzunahen zu Ihm in Liebe, um Ihm nahe zu sein? Der Herr liebt unsere Gesellschaft; Er hat Wohlgefallen daran, uns in seiner Gegenwart zu haben. Er kann ohne unseren geschäftigen Dienst auskommen, aber Er kann gewissermaßen nicht ohne uns auskommen. Nur so wird erste Liebe aufrechterhalten werden und, wenn sie verlorengegangen ist, wiedererlangt. Wir können nicht von der Vergangenheit leben. Vergangene Erfahrungen haben vielleicht die Liebe geweckt, aber nur gegenwärtige Gemeinschaft kann Liebe aufrechterhalten.

III. Das Vertiefen der Liebe (Joh 11)

Joh 11,1-6.32-36: Es war aber ein Gewisser krank, Lazarus von Bethanien, aus dem Dorf der Maria und ihrer Schwester Martha. (Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl salbte und seine Füße mit ihren Haaren abtrocknete; deren Bruder Lazarus war krank.) Da sandten die Schwestern zu ihm und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank. Als aber Jesus es hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde. Jesus aber liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. … Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben. Als nun Jesus sie weinen sah und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, seufzte er tief im Geist und erschütterte sich und sprach: Wo habt ihn hin hingelegt? Sie sagen zu ihm: Herr, komm und sieh! Jesus vergoss Tränen. Da sprachen die Juden: Siehe, wie lieb hat er ihn gehabt!

Wenn wir uns nun einer anderen Begebenheit in der Geschichte der Maria von Bethanien zuwenden, werden wir eine weitere Lektion in der Geschichte der Liebe lernen. In Lukas 10 haben wir gesehen, wie Liebe in dem allgemeinen Getriebe des Lebens aufrechterhalten wird, und in Johannes 11 werden wir nun sehen, wie Liebe in den Kümmernissen des Lebens vertieft wird. Dort ging das Leben seinen gewohnten Gang, hier ist das tägliche Leben von großem Leid betroffen worden. Krankheit ist in den Kreis von Bethanien eingedrungen, und der Schatten des Todes liegt über der Familie. Wie werden die Schwestern sich in der Prüfung, die über sie gekommen ist, verhalten? Durch Gnade getrieben, tun sie das Bestmögliche. Sie stützen sich auf die Liebe Christi. In Lukas 10 erfährt Maria die Liebe Christi in der Stille eines ruhigen Lebens; in Johannes 11 rechnet sie mit der Liebe inmitten der Stürme des Lebens. Dort genießt sie seine Liebe in seiner Gesellschaft; hier zählt sie auf seine Liebe in ihrem Kummer. All das ist klar in der Bitte enthalten, die diese beiden Frauen an den Herrn richten. Sie senden zu Ihm und lassen Ihm sagen: „Der, den du lieb hast, ist krank“ (Joh 11,3). Wie erstrahlen der Glaube und das Vertrauen dieser beiden Schwestern zu ihrem Herrn in dieser kurzen Botschaft! Sie wenden sich an die richtige Person, denn sie senden „zu ihm“. Sie tragen die Bitte in rechter Weise vor, denn sie sagen: „Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank.“ Sie berufen sich in ihrer Bitte nicht auf die schwache Liebe des Lazarus zum Herrn, sondern auf die vollkommene und nie versagende Liebe des Herrn zu Lazarus. Sie bitten also den Herrn in der richtigen Weise, denn sie machen dem Herrn keine Vorschriften, was Er tun soll; sie bitten den Herrn weder zu heilen noch zu kommen noch selbst ein Wort zu ihren Gunsten zu sprechen. Sie breiten einfach ihren Kummer vor Ihm aus und verlassen sich auf die grenzenlosen Hilfsquellen einer grenzenlosen Liebe. Wird die Liebe sie enttäuschen? O nein! Denn Liebe antwortet gern auf eine Bitte, die aus Herzen kommt, die durch Liebe bewegt werden.

Göttliche Liebe wird jedoch ihren vollkommenen Weg gehen, einen Weg, der dem natürlichen Menschen in der Tat fremd erscheinen mag. Die Schwestern haben sein Herz erfreut, indem sie sich auf seine Liebe stützten; nun will Er ihre Herzen erfreuen, indem Er in ihren Seelen das Bewusstsein seiner Liebe vertieft und damit auch ihre Liebe zu Ihm vertieft. So wird es immer sein: Je tiefer unser Bewusstsein seiner Liebe ist, desto tiefer wird die Antwort unserer Liebe sein. Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat.

Um sein gnädiges Werk zu vollenden, muss Er die Kümmernisse des Lebens benutzen; und damit seine Liebe in ihren Seelen vertieft wird, muss Er zuerst den Kummer vertiefen. Die Heiligen sind zur Herrlichkeit Gottes berufen, nachdem sie „eine kleine Zeit gelitten“ haben (1Pet 5,10); so nehmen wir auf unserem Weg zur Herrlichkeit oft hellere Strahlen seiner Herrlichkeit wahr, nachdem wir eine Zeit gelitten haben. So war es auch bei den Schwestern. Sie hatten eine kleine Zeit zu leiden, denn der Herr lässt sie noch warten, und es kommt auch kein Wort von dem Herrn an sie. Die Tage vergehen, Lazarus wird immer schwächer, und der Schatten des Todes breitet sich über das Haus. Schließlich ist der Tod gekommen; Lazarus ist gestorben. Sie haben eine kleine Weile gelitten, nun werden sie seine Herrlichkeit sehen – denn „diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“. Das menschliche Auge sah nur den Tod; in Wirklichkeit sollte der Tod benutzt werden, um die Herrlichkeit Christi zu entfalten und den Triumph seines Sieges über den Tod groß zu machen. Wie vollkommen ist doch der Weg, den Er beschreitet, um diese großen Resultate hervorzubringen!

Menschliche Liebe, die nur an Hilfe für den Kranken denkt, hätte sich sofort nach Bethanien auf den Weg begeben. Menschliche Vorsicht, die nur an sich selbst denkt, wäre überhaupt nicht gegangen, wie auch die Jünger sagen: „Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum gehst du dahin?“ Der Herr erhebt sich über menschliche Liebe und menschliche Vorsicht und handelt gemäß göttlicher Liebe, die durch göttliche Weisheit geleitet wird. „Gott – sein Weg ist vollkommen.“

Nachdem das Ausharren sein vollkommenes Ergebnis erreicht hat, kommt der Herr zu der Zeit, die seiner Liebe entsprach, zu den Schwestern nach Bethanien, die ihres Bruders durch den Tod beraubt waren, und offenbart die tiefe Liebe seines Herzens, indem Er mit ihnen redet und mit ihnen wandelt und mit ihnen weint. Er möchte ihre Liebe durch seine Worte der Liebe, seine Wege der Liebe und seine Tränen der Liebe vertiefen. Welche Tiefen der Liebe liegen in diesen erhabenen Worten: „Jesus vergoss Tränen.“ Es war ein wunderbarer Anblick, einen Sünder in der Gegenwart seiner Liebe weinen zu sehen, aber es ist noch wunderbarer, den Heiland angesichts unseres Kummers weinen zu sehen. Wenn wir wegen unserer Sünden weinen, ist das ein kleines Wunder; aber wenn Er wegen unseres Kummers weint, ist das ein großes Wunder – ein Wunder, das enthüllt, wie nahe Er gekommen ist und wie nahe Er einem bekümmerten Heiligen ist.

Wir mögen fragen, warum diese Tränen? Die Juden, die um das Grab her standen, missdeuten die Tränen, denn sie sagen: „Siehe, wie lieb hat er ihn gehabt!“ Der Herr hatte Lazarus wirklich geliebt, aber diese Tränen waren nicht der Ausdruck seiner Liebe zu Lazarus. Die Schwestern weinten wegen des Verlustes ihres Bruders, für den Herrn bestand jedoch keine Notwendigkeit, wegen eines Menschen zu weinen, den Er gleich auferwecken wollte. Er weinte nicht im Blick auf den Toten, sondern auf die Lebenden – nicht wegen des Verlustes von Lazarus, sondern wegen des Kummers der Maria und Martha. In wenigen Augenblicken wird die Liebe den Lazarus auferwecken, aber zuerst möchte die Liebe mit Martha und Maria weinen. Er zeigt uns sein Herz, um unsere Herzen aufzurichten, und vergießt Tränen, um unsere Tränen zu trocknen. Indem Er so handelt, offenbart Er seine Liebe und vertieft unsere Liebe. So benutzt Er die Prüfungen, Kümmernisse und rauen Wege des Lebens, um die Schätze seiner Liebe zu entfalten und unsere Liebe zu Ihm hervorzubringen.

Nach dieser großen Prüfung haben die Schwestern sicher gesagt: „Wir wussten, dass Er uns liebte, aber vor dieser Prüfung haben wir nicht gewusst, dass Er uns so sehr liebte, dass Er mit uns ging und mit uns in der Prüfung weinte.“

In Lukas 10 lernte Maria zu seinen Füßen seine Liebe schätzen; in Johannes 11 stützt sie sich auf die Liebe, die sie erfahren hat, und wird in der Liebe vertieft, auf die sie sich gestützt hat.

Welche heiligen, glückseligen Erfahrungen können wir doch im Zusammenhang mit diesen verschiedenen Szenen machen! Wir erfahren, dass zu den Füßen Jesu bei dem Sünder Liebe geweckt wird, dass zu den Füßen Jesu in einem Lernenden Liebe aufrechterhalten und dass zu den Füßen Jesu in unserem Kummer die Liebe vertieft wird.


Originaltitel: „Liebe, die mich nicht lassen wird“
aus Hilfe und Nahrung, Ernst-Paulus-Verlag, 1988, S. 356–366


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