Das Matthäusevangelium (5)
Kapitel 5

William Kelly

© J. Das, online seit: 17.06.2003, aktualisiert: 06.07.2023

Leitverse: Matthäus 5

Die Bergpredigt – eine Predigt?

Das Gleiche gilt auch für die sogenannte Bergpredigt, über die ich jetzt einige Worte sagen möchte. Es ist ein totales Missverständnis, wenn wir annehmen, dass Matthäus 5 bis 7 in einer einzigen, ununterbrochenen Predigt gebracht worden ist. Es waren bestimmt die weisesten Absichten, die den Heiligen Geist veranlassten, diese Predigt ohne Erwähnung von Unterbrechungen, Anlässen, usw. zusammenzustellen und uns mitzuteilen. Aber es ist eine nicht zu verantwortende Schlussfolgerung, daraus zu entnehmen, dass unser Herr Jesus sie einfach so, wie sie im Matthäusevangelium steht, gehalten hat. Der Beweis dafür liegt darin, dass wir im Lukasevangelium gewisse Teile, die eindeutig zu dieser Predigt gehören, mit den besonderen Umständen, die ihre Verkündigung veranlassten, finden. Damit meine ich nicht ähnliche oder gleiche Wahrheiten, die zu einer anderen Zeit gepredigt worden waren, sondern dieselbe Predigt. Nehmen wir als Beispiel das Gebet, das hier den Jüngern vorgestellt wird (Mt 6). Diesbezüglich finden wir in Lukas 11, dass eine Bitte der Jünger zu seinem Ausspruch führte. Auch in Hinsicht auf andere Belehrungen, die Lukas sowie Matthäus und manchmal auch Markus gemeinsam bringen, waren es oft Ereignisse und Fragen, wie Lukas schreibt, welche die Bemerkungen des Herrn hervorriefen.

Die Bergpredigt als Ganzes

Nehmen wir also für gewiss an, dass der Heilige Geist mit Absicht durch Matthäus diese und andere Predigten als Ganzes gibt, indem Er die Anlässe dazu, die wir anderswo finden, weglässt. Dann ist es eine schöne und interessante Untersuchung, festzustellen, warum Er eine solche Methode des Zusammenstellens und Weglassens verwendet. Ich denke, die Antwort lautet so: Der Geist Gottes liebt es, durch Matthäus Christus als einen Mann wie Mose, auf den das Volk hören sollte (5Mo 18,18), vorzustellen. Er präsentiert Jesus nicht nur als einen gesetzgebenden Prophetenkönig wie Mose, sondern als einen weit Größeren. Denn es wird niemals vergessen, dass der Nazarener der Herr-Gott ist. Deshalb hören wir in dieser Bergpredigt überall den Ton einer Person, die sich bewusst war, dass sie als Gott unter den Menschen weilte. Wenn Jehova Mose auf die Spitze des einen Berges rief, dann saß der, der damals die zehn Gebote aussprach, jetzt auf einem anderen Berg und lehrte Seine Jünger den Charakter des Reiches der Himmel. Die Grundsätze dieses Reiches werden als ein Ganzes eingeführt, indem sie, wie wir gesehen haben, auf die Wirksamkeit Seines Dienstes und dessen Folgen eingehen, ohne die Unterbrechungen oder Zusammenhänge zu berücksichtigen. So wie wir Seine Wunder sozusagen alle in einen Abschnitt zusammengefasst finden, so ist es hier mit Seinen Predigten. Wir sehen also in beiden Fällen den gleichen Grundsatz. Die wesentliche Wahrheit wird uns, ohne die unmittelbaren Anlässe, wie Ereignisse, Bitten usw., zu beachten, vorgestellt. Nach Matthäus wird also das, was der Herr geredet hat, als ein Ganzes gegeben. Dadurch wirkt die Predigt, weil sie nicht unterbrochen wird, umso ernster und majestätischer. Der Geist Gottes drückt hier absichtlich diesen Charakter auf die Rede des Herrn zur, wie ich nicht bezweifle, besonderen Belehrung Seines Volkes. Kurz gesagt, erfüllt der Herr hier einen Teil Seiner Mission nach Jesaja 53, 11, wo Sein Werk als ein zweifaches geschildert wird. (…)[1]

In der Belehrung auf dem Berg unterweist Er tatsächlich die Jünger in Gerechtigkeit. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir hier kein Wort von der Erlösung hören. Wir finden nicht die kleinste Andeutung Seines Leidens am Kreuz, keinen Hinweis auf Sein Blut, Seinen Tod oder Seine Auferstehung. Er belehrt aber nicht bloß über Gerechtigkeit. Den Erben des Reiches entfaltet der Herr die Grundsätze des Reiches. Es sind gesegnete und reichhaltige Belehrungen, doch solche in Gerechtigkeit. Ohne Zweifel finden wir hier auch, soweit es damals möglich war, die Vorstellung des Vaternamens. Doch alles geschieht in Form einer Unterweisung in Gerechtigkeit. (…)[2]

Glückselig die …

Auf die Einzelheiten der Bergpredigt kann ich jetzt nicht im besonderen eingehen; aber ich möchte noch einige wenige Worte dazu sagen, bevor ich heute Abend schließe. Ihre Einleitung offenbart eine Methode, die häufig vom Geist Gottes verwendet wird und unseres Studiums wert ist. Jedes Kind Gottes kann selbst durch einen flüchtigen Blick darauf Segen empfangen. Wenn wir uns jedoch damit etwas eingehender beschäftigen, wächst die Belehrung gewaltig. Zunächst nennt Jesus gewisse Menschengruppen glückselig. Diese Glückseligkeiten sind in zwei Klassen aufgeteilt. Die erste betrifft die Gerechtigkeit, die zweite die Barmherzigkeit. Das sind auch die beiden großen Gegenstände der Psalmen, die beide hier aufgegriffen werden. „Glückselig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land ererben. Glückselig die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,3-6). Im vierten Fall wird die Gerechtigkeit ausdrücklich erwähnt und schließt diesen Teil des Gegenstandes. Doch es ist klar genug, dass alle diese vier Gruppen im Wesentlichen aus Menschen bestehen, die der Herr deshalb glückselig nennt, weil sie in der einen oder anderen Form gerecht sind. Die nächsten drei Gruppen sind auf die Barmherzigkeit gegründet. Deshalb lesen wir gleich bei der ersten: „Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren. Glückselig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen“ (Mt 5,7-9).

Es ist natürlich unmöglich, jetzt mehr als eine kleine Skizze zu versuchen. Hier tritt also die gewöhnliche Zahl in all diesen systematischen Teilen der Schrift auf; wir finden die übliche und komplette Zahl Sieben der Bibel. Die beiden zusätzlichen Seligpreisungen am Ende bestätigen dies, obwohl sie auf dem ersten Blick in Widerspruch dazu stehen. Aber es ist nicht so. Der scheinbare Widerspruch liefert einen überzeugenden Beweis der Regel. Denn in Vers 10 finden wir: „Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten“ (Mt 5,10); dies entspricht den ersten vier Seligpreisungen. Dann folgt in den Versen 11 und 12: „Glückselig seid ihr … um meinetwillen“, welches der höheren Barmherzigkeit der letzten drei entspricht. „Glückselig seid ihr [hier ist ein Wechsel, denn es steht eine persönliche Anrede], wenn sie euch schmähen und verfolgen und jedes böse Wort lügnerisch wider euch reden werden um meinetwillen“ (Mt 5,11.12). Das ist die höchste Vollendung der leidenden Gnade, denn es geschieht um Christi willen.

Die zweifache Verfolgung der Verse 10-12 stimmt mit ihrem doppelten Charakter in den Briefen überein, nämlich dem Leiden um der Gerechtigkeit willen und dem Leiden um Christi willen. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge; denn bei der Frage der Gerechtigkeit ist nur eine einzige Person betroffen. Wenn ich hier nicht standhaft bin und leide, wird mein Gewissen befleckt. Das ist jedoch kein Leiden um Christi willen. Kurz gesagt, wo es sich um eine Frage der Gerechtigkeit handelt, ist das Gewissen betroffen; wo allerdings um Christi willen gelitten wird, handelt es sich nicht um offenbare Sünde, sondern um Seine Gnade und ihre Anrechte auf mein Herz. Wenn ich nach Seiner Wahrheit und nach Seiner Herrlichkeit verlange, dann betrete ich einen Pfad, der mich Leiden aussetzt. Ich kann auch einfach meine Pflicht an dem Platz erfüllen, auf den ich gestellt bin; aber die Gnade ist nie damit zufrieden, eine bloße Pflicht zu erfüllen. Ich gebe völlig zu, dass nichts so geeignet ist, eine Pflicht zu erfüllen, wie die Gnade; und das Erfüllen der Pflicht ist gut für einen Christen. Doch Gott verhüte, dass wir uns nur auf die Pflicht beschränken und nicht frei sind für ein Überfließen der Gnade, welche das Herz mitreißt! Im ersten Fall versagt der Gläubige; wenn er nicht widersteht, dann ist das Sünde. Im zweiten Fall fehlt das Zeugnis für Christus. Die Gnade erfüllt uns dann mit Freude, wenn wir gewürdigt werden, um Seines Namens willen zu leiden. Die Gerechtigkeit ist jedoch nicht betroffen.

Das sind also die beiden unterschiedlichen Klassen oder Gruppen von Glückseligkeiten. Zuerst haben wir die Glückseligkeit der Gerechtigkeit, zu der das Leiden um der Gerechtigkeit willen gehört, danach die Glückseligkeit der Barmherzigkeit oder Gnade. Christus unterweist entsprechend der Prophetie in Gerechtigkeit; aber Er beschränkt sich nicht darauf. Eine solche Einschränkung konnte nie mit der Herrlichkeit Seiner Person zusammenpassen. Deshalb finden wir hier neben der Lehre der Gerechtigkeit die Einführung dessen, was sie übertrifft und stärker ist, und die zugehörige Glückseligkeit der Verfolgung um Christi willen. Dann ist alles Gnade; und das zeigt einen ganz offensichtlichen Fortschritt an.

Salz der Erde und Licht der Welt 

Das Gleiche gilt auch für das Folgende. „Ihr seid das Salz der Erde“ (Mt 5,13), das heißt das, was das Reine rein erhält. Salz teilt dem, was unrein ist, keine Reinheit mit; doch es wird wie die Gerechtigkeit als bewahrende Kraft verwendet. Aber Licht ist anders. Deshalb hören wir in Vers 14: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). Licht bewahrt nicht einfach das, was gut ist, sondern es ist eine aktive Kraft, welche ihren hellen Schein in das Dunkle wirft und die Dunkelheit vor sich austreibt. Es ist also klar, dass der Herr in diesen weiteren Worten, die Fragen, auf die wir schon eingegangen sind, beantwortet.

Zusammenfassung 

Wir finden vieles von tiefster Bedeutung in dieser Predigt; wir haben jedoch jetzt nicht die Gelegenheit, in die Einzelheiten zu gehen. Es wird, wie üblich, die Gerechtigkeit entsprechend der Person Christi entwickelt, welche sich mit der Bosheit des Menschen unter den Häuptern Gewalttat und Verdorbenheit beschäftigt. Danach folgen andere, neue Grundsätze der Gnade, die viel höher sind als das, was unter dem Gesetz gegeben wurde. So verrät in einem frühen Vers (Mt 5,22) sozusagen ein einziges Wort den Durst nach Blut; gleichzeitig zeigt sich die Verdorbenheit in einem Blick oder einer Begierde. Denn es werden nicht länger nur die Taten beurteilt, sondern auch der Zustand der Seele. Das behandelt das fünfte Kapitel. Wenn in den frühen Versen 17 und 18 das Gesetz in all seiner Autorität völlig aufrechterhalten wird, so haben wir später (Mt 5,21-48) die höheren Grundsätze der Gnade und tiefere Wahrheiten, die hauptsächlich darauf beruhen, dass der Name des Vaters – des Vaters, der im Himmel ist – offenbart wird. Infolgedessen handelt es sich nicht mehr nur um eine Frage zwischen Mensch und Mensch, sondern um den Teufel auf der einen und Gott auf der anderen Seite. Dabei enthüllt und beweist Gott als Vater den selbstsüchtigen Zustand des gefallenen Menschen auf der Erde.

 


Aus Lectures Introductory to the Study of the Gospels
Heijkoop, Winschoten, NL, 1970
(im Deutschen herausgegeben und übersetzt von J. Das)
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Anmerkungen

[1] Siehe Fußnote 1: „Es ist nicht richtig, wie es die Authorized Version gibt: ,Durch seine Erkenntnis wird mein gerechter Knecht die Vielen gerecht machen‘; denn zweifellos macht Seine Erkenntnis niemanden gerecht. Rechtfertigung ist, wie wir wissen, durch den Glauben an Christus. Und das wirksame Werk, worauf sie beruht, besteht natürlich Kraft dessen, was Christus für die Sünde und die Sünden vor Gott erlitten hat. Aber ich halte fest, dass die wirkliche Bedeutung dieser Stelle ist: ,Durch seine Erkenntnis wird mein gerechter Knecht die Vielen zur Gerechtigkeit weisen.‘ Der Text verlangt hier nicht die Rechtfertigung im normalen juristischen Sinn, sondern vielmehr, wie auch in Daniel 12, die Weisung zur Gerechtigkeit, obwohl der hebräische Text beide Sinnbedeutungen enthält. Aber es muss sich hier um die Unterweisung zur Gerechtigkeit handeln“ (W.K.).

[2] Siehe Fußnote 1: „Ich möchte hinzufügen, dass der Rest des Verses (Jes 53,11) auch damit übereinstimmt. Denn es heißt nicht ,denn‘, sondern ,und ihre Missetaten wird er auf sich laden‘. Das ist die wahre Aussage. Das eine geschah während Seines Lebens, als Er die Seinen belehrte, das andere in Seinem Tod, als Er die Missetaten vieler trug“ (W.K.).

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