Sollen wir heute noch beten „Und führe uns nicht in Versuchung“?
Matthäus 6,13

Stephan Isenberg

© SoundWords, online seit: 18.02.2016, aktualisiert: 29.04.2022

 Leitvers: Matthäus 6,13

Mt 6,13: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen.

Frage: Es wird manchmal gefragt, was diese Bitte für uns heute bedeutet. Ja, sollen wir diese Bitte heute ebenfalls vor dem Vater beten? Schließlich ist es doch Bestandteil des Vaterunsers.

Antwort: Die Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ war den damaligen Umständen der Jünger völlig angepasst. Es geht nicht darum, dass Gott die Jünger zum Bösen (oder zur Sünde) versuchen würde. Denn in Jakobus 1,13 heißt es: „Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht; denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand.“ Es kann sich hier nur um eine Versuchung handeln, die eine Erprobung des Glaubens zur Folge hatte. So war es zum Beispiel bei Abraham: „Und es geschah nach diesen Dingen, dass Gott Abraham prüfte [versuchte]“ (1Mo 22,1). Abraham ging damals gestärkt aus dieser Prüfung hervor. Lot wurde ebenfalls versucht (geprüft), als er „die ganze Ebene des Jordan“ sah; aber er fiel in dieser Versuchung. Es war eine Erprobung des Glaubens, aber er fiel dabei in Sünde (in das Böse); deshalb heißt es auch im zweiten Teil des obigen Verses: „sondern errette uns von dem Bösen“. Petrus war ein Apostel, er war wiedergeboren und doch vertraute er auf sich selbst und fiel, als die Versuchung kam. Im Garten Gethsemane schlief er ein und am Kohlenfeuer verleugnete er seinen Herrn. Wie angemessen war dieses Gebet damals für die Jünger!

Ist dieses Gebet denn heute für uns nicht mehr angemessen? Stehen wir nicht in der Gefahr, in der Versuchung (Prüfung) zu versagen? Doch! Jeder, der sich nur ein wenig kennengelernt hat, wird davon berichten können, dass er in der Prüfung nicht standgehalten hat. Wie oft waren wir schläfrig, als wir hätten wachen und beten sollen, und wie oft haben wir den Herrn nicht bekannt, wo ein Zeugnis für Ihn angebracht gewesen wäre. Und doch sagt Jakobus: „Haltet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Prüfungen fallt“ (Jak 1,2).

Wie bitte? Ich soll es für lauter Freude halten, wenn ich in eine Prüfung komme? Da finde ich mich in dem Gebet des Vaterunsers aber eher wieder! Dennoch, so steht es nun einmal in Gottes Wort. Wir können uns nun dagegen wehren oder wir können uns fragen, was sich denn zu der Zeit verändert hat, als die Jünger dazu ermutigt wurden, dafür zu beten, nicht in Versuchung geführt zu werden. Denn von einem Widerspruch wird ein ernsthafter Christ nicht ausgehen.

Zwischen der Aufforderung an die Jünger, sie sollten beten, dass sie „nicht in Versuchung geführt werden“, und dem Brief des Jakobus, wo er schreibt: „Haltet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallt“, liegen das Kreuz und die Gabe des Heiligen Geistes. Das Werk des Herrn, seine Auferstehung, seine Verherrlichung und die Herabsendung des Heiligen Geistes haben die Situation gänzlich verändert. Bereits in den letzten Tagen seines Erdenlebens sagte der Herr Jesus zu seinen Jüngern: „Es ist euch nützlich, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7). Offensichtlich muss es dieses Ereignis gewesen sein, das Jakobus, geleitet durch den Heiligen Geist, sagen lässt: „Haltet es für lauter Freude.“ Übrigens sagt Jakobus nicht, dass wir nun beten sollten: „Bitte führe uns in Versuchung.“ Aber wenn Gott uns eine Erprobung sendet, dann dürfen wir wissen, dass in uns eine Kraft wohnt, in der es möglich ist, in der Erprobung auszuharren. Jeder Hochmut und jede Form der Selbstüberschätzung sind hier fehl am Platz. Aber es wäre eine Missachtung des gewaltigen Wandels, der durch die Herabsendung des Geistes stattgefunden hat. Auch heute noch finden wir die Kraft nicht in uns selbst, sondern allein im Anschauen der Person des Herrn Jesus Christus.

Der Heilige Geist hat die eine große Aufgabe übernommen, dass wir dem Herrn Jesus gleichgestaltet werden. Der Herr Jesus gibt uns das Beispiel, wie wir es in einer Prüfung für lauter Freude halten sollen: Er verließ zu keiner Zeit die Gemeinschaft mit dem Vater und nahm alles aus seiner Hand an. So konnte Er den Vater preisen, obwohl Er gerade von der Volksmenge abgelehnt wurde: „Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater … Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“ (Mt 11,25.26). In der Parallelstelle in Lukas 10,21 heißt es sogar: „In derselben Stunde frohlockte er im Geist.“

Das Vaterunser entsprach damals genau dem, was die Jünger nötig hatten. Manchmal wird gefragt: Heißt das jetzt, dass das Gebet gar nicht für Christen geschrieben wurde? Es ist doch in der Christenheit das Standardgebet! – Richtig, es ist nicht für Christen geschrieben worden, sondern für Jünger, die vor dem Kreuz in einer ganz bestimmten Situation waren – möglicherweise wird es eine ähnliche Situation erneut geben, wenn die Gemeinde und damit der Heilige Geist von der Erde weggenommen sein wird (durch die Entrückung).

Es gibt viele Bibelstellen in den Evangelien, die offensichtlich nicht für Christen geschrieben wurden. Denken wir zum Beispiel an Matthäus 10,5.6: „Geht nicht auf einen Weg der Nationen, und geht nicht in eine Stadt der Samariter; geht aber vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Niemand würde auf die Idee kommen, diese Aufforderung auf Christen anzuwenden. Allerdings können Christen von allem, was sie in der Schrift lesen, etwas lernen, und sie finden sicher auch im Vaterunser Aussagen und Bitten, die ein Muster für ihr Gebetsleben sein können.

In den folgenden Artikeln wird der obige Gedanke näher ausgeführt:
An wen richtet sich die Bergpredigt in erster Linie? (D. Schürmann)
Das Gebet des Herrn (W. Kelly)

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