Abhängigkeit und Ausgewogenheit im Dienst für den Herrn
Muss jeder Christ ein Evangelist sein?

Stephan Isenberg

© SoundWords, online seit: 23.07.2013, aktualisiert: 30.05.2022

Leitverse: Epheser 4,11.12

Eph 4,11.12: Und er hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer, zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus.

Einleitung

Im Dienst für den Herrn kann man häufig eine gewisse Unausgewogenheit feststellen. Den einen liegt die Verkündigung des Evangeliums so sehr am Herzen, dass sie manchmal glauben, alle müssten diese Leidenschaft und diesen Drang teilen. Andere wiederum sind so sehr mit der gesunden Lehre beschäftigt, dass sie der Verkündigung des Evangeliums nur einen untergeordneten Platz einräumen. Und wieder andere sind so sehr mit verirrten Seelen beschäftigt, dass es ihnen nicht so sehr auf die gesunde Lehre ankommt, und nicht selten werden sogar in der Seelsorge klare Grenzen, von denen Gottes Wort spricht, übersprungen – natürlich immer mit dem Hinweis, dass es das Beste für die Seele ist.

Wenn wir diese Unausgewogenheit bei uns oder in unserer Umgebung feststellen, kann eine intensivere Beschäftigung mit dem Leben des Apostels Paulus helfen. Nicht nur seine Schriften sind in diesem Punkt sehr ausgewogen, sondern auch sein ganzes Leben.

Urheber, Quelle und Ziel der Gaben

Der eingangs erwähnte Bibelvers zeigt uns, dass jede Gabe „für das Werk des Dienstes“ eine gewaltige Rolle spielt und jede an ihrem Platz „für die Auferbauung des Leibes des Christus“ beiträgt. Der Herr Jesus ist selbst die Quelle und der Urheber jeder Gabe (Eph 4,8), und seine Verherrlichung ist das Ziel jeder Gabe. Wenn jemand meint, nur weil er selbst die Gnade bekommen hat, gut evangelisieren zu können, müssten nun auch alle anderen Christen Evangelisten sein, sollte er sich vielleicht daran erinnern, das der verherrlichte Herr noch weitere Gaben gegeben hat.

Apostel und Propheten

Die Zeit der Apostel und Propheten ist sicher vorbei, und dennoch sind uns ihre Schriften geblieben; wir profitieren heute noch von den Gaben, die Gott im Anfang des Christentums geschenkt hat. Ebenso verhält es sich mit den Propheten (gemeint sind hier die Propheten des Neuen Testamentes, wie zum Beispiel Lukas, Judas und Jakobus). Das Haus Gottes wurde „aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten“ (Eph 2,20). Wenn wir zum Beispiel die Briefe des Apostels Paulus geringschätzen oder wie die katholische Kirche den sogenannten Herrenworten (womit die Evangelien gemeint sind) den Vorzug geben, dann ziehen wir uns geradewegs das Fundament (die „Grundlage der Apostel und Propheten“) unter den Füßen weg.

Evangelisten, Hirten, Lehrer

In der heutigen Zeit kennen wir vor allen Dingen noch Evangelisten, Hirten und Lehrer. Dabei spielt es keine große Rolle, ob die Gaben, die der Herr Jesus gegeben hat, bereits beim Herrn sind oder noch leben. Wir profitieren auch heute noch von dem Dienst so mancher Evangelisten, Hirten und Lehrer, die längst beim Herrn sind – ähnlich der Apostel und Propheten der Anfangszeit. Es ist nicht von ungefähr, dass in Epheser 4,11.12 gesagt wird, dass die Gaben „zur Vollendung der Heiligen“ gegeben wurden. Es ist vielleicht etwas demütigend für unser stolzes Herz, dass wir nicht allein durch die Wirkung des Heiligen Geistes in uns zu dieser Vollendung oder zu diesem Erwachsensein gebracht werden können, wenn wir nicht die Gaben nutzen, die der verherrlichte Herr in seiner Gnade geschenkt hat. Natürlich haben diese Gaben heute keine apostolische Autorität mehr, noch sind ihre Schriften inspiriert, wie wir das von der Heiligen Schriften sagen können.

Abhängigkeit von den Gaben

Die Gaben sind explizit „für das Werk des Dienstes“ gegeben. Wer also meint, er brauche nur die Bibel zu lesen, um einen guten Dienst nach Gottes Gedanken ausüben zu können, der irrt gewaltig. Es mag fromm klingen: Ich lese nur die Bibel. – Es mag logisch klingen: Ist der Heilige Geist nicht in der Lage, mir dasselbe zu zeigen, was Er auch Bruder X gezeigt hat? – Natürlich klingt das logisch, und natürlich kann der Heilige Geist das auch. Und sollte ich vielleicht einmal wie Johannes auf eine einsame Insel verbannt sein, ohne Geschwister und ohne Literatur von Gaben, die der Herr gegeben hat, dann wird Er das vielleicht auch tun. Aber unter normalen Umständen ist es gerade nicht der Weg, wie der Heilige Geist wirkt. Der Weg Gottes ist, uns in Abhängigkeit zu halten, und das heißt hier speziell, dass wir auf die Gaben angewiesen sind, die der Herr vom Himmel gegeben hat.

Wenn ich glaube, einen Hirtendienst geschenkt bekommen zu haben, und bereit bin, diesen Weg Gottes anzuerkennen, werde ich mich gern viel mit solchen, die der Herr als Hirten gegeben hat, unterhalten, um von ihren Erfahrungen zu lernen, und werde in Fällen, wo es möglich ist, mit ihnen zusammen Besuche machen, um in der Praxis zu lernen. Wenn ich glaube, dass ich einen Lehrdienst geschenkt bekommen habe, und bereit bin, mich nach Epheser 4 zu verhalten, werde ich gern die Betrachtungen und Abhandlungen lesen, die sie über Bibelabschnitte oder biblische Themen geschrieben haben. Wenn ich mich mehr zu einem Evangeliumsdienst befähigt fühle, werde ich den Kontakt zu Evangelisten suchen, sie in ihrem Dienst unterstützen und von ihren Tipps für Gespräche mit den Menschen lernen wollen.

Dabei ist es sehr interessant, dass es in Epheser 4 nicht heißt, dass jeder eine Gabe bekommen hat, wie wir das in 1. Korinther 12 lesen, sondern dass bestimmte Menschen eine Gabe vom Herrn sind. Was für eine Gnade kommt darin zum Ausdruck, dass der Herr Jesus fehlerhafte Menschen, wie wir es sind, gebrauchen möchte, um die „Auferbauung des Leibes des Christus" voranzubringen. Aber es erfordert auch Demut, anzuerkennen, dass ich die Hilfe von anderen brauche. Meistens ist es an dem Dienst leicht zu merken, wenn diese demütige Haltung nicht vorhanden ist. Der Dienst hat oft nur wenig geistlichen Tiefgang und bewirkt diesen auch nicht.

Genauso wie wir auf die Gaben angewiesen sind, die wir für unseren speziellen Dienst brauchen, genauso nötig ist es auch, dass wir Gaben für die anderen Kategorien (Evangelium, Lehre, Seelsorge) des Dienstes brauchen. Wenn an einem Ort der Evangeliumsdienst ausfällt, wird es irgendwann vielleicht keine Gläubigen mehr geben, die noch die gesunde Lehre nötig haben. Und wenn die Lehrer fehlen, wissen die Hirten irgendwann gar nicht mehr, wohin sie die verirrten Schafe zurückbringen sollen. Daher ist auch hier eine Demut nötig, die anerkennt, dass wir alle vom Herrn gegebene Gaben nötig haben.

Das Vorbild des Apostels Paulus

Wie oben schon angedeutet, können wir in dem Leben des Apostels Paulus diese Ausgewogenheit sehr gut nachvollziehen.

Aus seiner tränenreichen Abschiedsbotschaft von den Glaubensgeschwistern in Ephesus können wir sehr viel lernen (Apg 20,17-38). Der Apostel hatte in Ephesus „das Werk des Dienstes“ getan, indem er alles verkündigte, was für die Ungläubigen oder die Glaubensgeschwister nützlich war. Er verkündigte es überall und jedem, „öffentlich und in den Häusern“. Er bezeugte sowohl „Juden als auch Griechen die Buße zu Gott und den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus“. Er bezeugte das „Evangelium der Gnade Gottes“, ging umher „das Reich predigend“ und hielt auch nicht zurück, „den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen“. Er predigte also jedem, überall, und die ganze Bandbreite seines Dienstes ging von dem Anfangspunkt des Glaubens, der Buße zu Gott, bis zu dem Endpunkt, dem ganzen Ratschluss Gottes – so universal war sein Dienst. Damit betätigte er sich als Apostel, Evangelist und Lehrer. Aber er tat auch einen Hirtendienst und ermutigte die Brüder in Ephesus, als gute Hirten auf die Herde achtzugeben, weil es die Versammlung Gottes ist, für die Gott einen so hohen Preis – „das Blut seines Eigenen“ – gezahlt hat. Und es geht zu Herzen, wenn wir am Schluss des Kapitels lesen, wie er die Epheser als ein guter Hirte und mit Tränen dem Wort der Gnade Gottes anbefiehlt. In dieser kurzen Botschaft in Apostelgeschichte 20,17-38 finden wir das evangelistische Herz von Paulus, wir hören den Lehrer das Reich und den ganzen Ratschluss Gottes verkündigen und schauen in sein Hirtenherz.

Diese Ausgewogenheit können wir auch in Kolosser 1 feststellen. In Vers 23 lesen wir, wie Paulus sich als Diener des Evangeliums bezeichnet, das in „der ganzen Schöpfung“ gepredigt worden ist (Kol 1,23). Aber das nicht allein; er fügt gleich in Vers 24 an, dass er auch einen Dienst im Blick auf die Versammlung Gottes erhalten hat – er war dazu auserwählt, das Geheimnis des Christus zu offenbaren (Kol 1,24). Der Apostel war nicht damit zufrieden, Juden oder Heiden das Evangelium zu verkündigen. Wenn ein Mensch zum lebendigen Glauben an Christus kam, begann für ihn die eigentliche Arbeit. Denn wir lesen in Vers 28 und 29: „Wir ermahnen jeden Menschen und lehren jeden Menschen in aller Weisheit, damit wir jeden Menschen vollkommen in Christus darstellen; wozu ich mich auch bemühe, indem ich kämpfend ringe gemäß seiner Wirksamkeit, die in mir wirkt in Kraft“ (Kol 1,28.29). Sein ganzer Einsatz (Kampf und Mühe!) galt also nicht lediglich der Verkündigung des Evangeliums, sondern er war nicht eher mit seiner Aufgabe fertig, bis ein Mensch „vollkommen in Christus“ dargestellt wurde. Das heißt, er sorgte dafür, dass neugeborene Kinder Gottes ihre wahre Stellung in Christus kennenlernten und verstanden, in welch einer gesegneten Zeitepoche sie leben durften. 

Wo gibt es heute die Evangelisten, die noch im Auge haben, dass diejenigen, die sich bekehrt haben, auch das Geheimnis des Christus kennenlernen? Wo jene, die den ganzen Ratschluss Gottes predigen? Und wenn diese Evangelisten nicht die Befähigung und Gabe vom Herrn dazu erhalten haben – sorgen sie dafür, dass Lehrer herbeigerufen werden, die die Neugeborenen weiterführen, damit sie „vollkommen in Christus dargestellt werden können“? Oder sind sie so von der eigenen Wichtigkeit ihres Dienstes eingenommen, dass sie nur das eine Ziel im Auge haben, dass diese Neugeborenen so schnell wie möglich selbst wieder evangelisieren?

Der Bibellehrer Samuel Ridout schreibt: 

Es ist traurig, von Männern zu hören, die sich für das Evangelium einsetzen, klaren Auslegern des Wortes Gottes, wenn sie uns sagen, sie würden sich nicht um die Lehre über die Versammlung (Kirche) kümmern; Errettung sei das wichtigste Thema, und die Befestigung von Christen in den Grundwahrheiten sei alles, was man braucht. Wir sehen, wie diese Männer für jede ihrer Aussagen Kapitel und Vers zitieren können und auf der Autorität des Wortes bestehen, aber seelenruhig ihre Augen vor dem verschließen, was die Bibel über die Versammlung Gottes (Kirche) lehrt, und sie sind offensichtlich zufrieden, wenn andere dasselbe tun.[1]

Wir brauchen alle Gaben

Es ist wahr, der Apostel Paulus war in gewisser Weise Evangelist, Hirte und Lehrer in einer Person. So etwas finden wir heute nur selten. Und dennoch sollte sich jeder, der den Dienst eines Evangelisten, Hirten oder Lehrer tun darf, diese Dinge immer wieder bewusstmachen. Ein Evangelist sollte ein Herz für die gesunde Lehre haben. Er sollte sich intensiv mit Gottes Wort beschäftigen, denn er wird nur das verkündigen wollen, was der Wahrheit und nichts als der Wahrheit entspricht. Der Lehrer wird ebenso ein großes Herz für die Verkündigung des Evangeliums haben und wird den Evangelisten und auch den Hirten in seinem Dienst, wo irgend es geht, unterstützen, wie auch der Hirte dafür sorgen wird, dass seine Schäflein auch nur die gesunde Nahrung bekommen. 

Es wäre sehr traurig, zum Schaden für die Seelen und zur Benachteiligung unseres Herrn, wenn wir im Dienst für den Herrn nur unseren eigenen Dienst sehen würden. Dann machen wir es nicht anders als die Korinther und missbrauchen unsere Gaben, um letztlich (auch wenn das nicht unsere Absicht ist und wir von der Wichtigkeit unser Aufgaben zutiefst überzeugt sind) uns selbst statt Christus zu verherrlichen.

Bis wann gibt es diese Gaben?

Die Gaben eines Evangelisten, Hirten und Lehrers werden bestehen bleiben, bis Christus wiederkommt. So lange ist es nötig, dass Menschen die frohe Botschaft hören, dass verirrten Seelen nachgegangen wird und dass Gläubige in der Wahrheit befestigt werden können. Es sind tatsächlich alles drei Dienste, die wir im Himmel nicht mehr tun können. Aber was für eine Ermutigung, dass Gott jedes „Werkes des Glaubens und der Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus“ (1Thes 1,3) gedenken und auch belohnen wird! Auch die Ergebnisse jedes Dienstes in dieser Zeit, die uns heute oft verborgen sind, werden wir dann alle erkennen. Du wirst Lohn dafür erhalten, wenn du einer verlorenen Seele den Weg des Heils gezeigt hast, wenn du in Treue den Glaubensgeschwistern die gesunde Lehre vorgestellt hast, und auch dann, wenn du einer verirrten Seele nachgegangen bist.

„Denn Gott ist nicht ungerecht, euer Werk zu vergessen und die Liebe, die ihr für seinen Namen bewiesen habt, da ihr den Heiligen gedient habt und dient“ (Heb 6,10).

Anmerkungen

[1] Samuel Ridout, Die Versammlung Gottes und ihre Ordnung nach der Schrift, Ernst-Paulus-Verlag.

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