Falsche Vorstellungen über Barmherzigkeit
Lukas 6,35.36

Stephan Isenberg

© SoundWords, online seit: 23.11.2009, aktualisiert: 13.05.2022

Leitverse: Lukas 6,35.36.

Lk 6,35.36: Liebt eure Feinde, und tut Gutes, und leiht, ohne etwas zurückzuerhoffen, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Wenn es in der Gemeinschaft von Gläubigen zu Problemen kommt, dann hört man oft den Ausspruch: Wir wollen barmherzig sein. Andere bestehen darauf, dass das Problem bei der Wurzel gepackt und beseitigt wird. Schnell geraten beide Seiten aneinander, und schnell werden solche, die sich auf die Barmherzigkeit berufen, unbarmherzig und solche, die sich auf die Gerechtigkeit berufen, ungerecht.

Fast könnte man meinen, dass sich die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit widersprechen und es sich hier um zwei Dinge handelt, die man nicht übereinander bekommt. Es ist in der Tat für uns Menschen nicht immer einfach „mitten auf den Steigen des Rechts zu wandeln“ (Spr 8,20). Aber es kann nicht sein, dass sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit widersprechen; das Problem liegt mehr auf unserer Seite, weil wir oft ein falsches Verständnis von Barmherzigkeit haben. Das Spannungsfeld liegt hier nicht so sehr in der Lehre über diese Punkte, sondern in der praktischen Verwirklichung.

Der Frage, der wir hier nachgehen wollen, ist, ob die Probleme nicht häufig dadurch entstehen, dass wir einen falschen Begriff von Barmherzigkeit haben. Wenn wir nämlich meinen, dass Barmherzigkeit bedeutet, dass wir fünf gerade sein lassen sollten oder dass wir bei Sünden oder falschen Lehren mal ein Auge zudrücken dürfen, dann haben wir nur wenig von Barmherzigkeit verstanden. Das können wir mit ein paar Fragen auch schnell widerlegen. Immer wieder hören wir, dass Gott langsam zum Zorn und groß an Güte ist und dass Gott barmherzig und gnädig ist. Aber bedeutet das jetzt, dass Gott fünf gerade sein lässt? Oder dass Gott bei Sünden oder falschen Lehren ein Auge zudrücken kann?

Kein ernsthafter Christ würde dies sagen wollen, und doch stehen wir in der Gefahr, genau so über Barmherzigkeit zu denken, als wäre das einfach die Toleranz verkehrten Dingen gegenüber – man lässt gewisse Personen, die in ihrem Leben falsche Verhaltensweisen und Ansichten dulden, gewähren, da sie doch in einem ach so erbarmungswürdigen Zustand sind. Das ist jedoch nicht Barmherzigkeit, sondern Gleichgültigkeit. Wenn wir einfach alles laufen lassen und darauf hoffen, dass Gott irgendwann mal mit seinem Finger an irgendeine Wand schreibt, um uns von verkehrten Wegen zurückzuholen, dann werden wir in den meisten Fällen lange warten müssen.

Es kann aber auch sein, dass wir von der Barmherzigkeit Gottes ein falsches Verständnis haben. Der Herr Jesus fordert uns auf: „Seid nun barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36).

Aber was ist denn nun Barmherzigkeit, wie barmherzig ist denn der Vater? Barmherzigkeit setzt immer einen elenden Zustand voraus. Grundsätzlich ist jeder Sünder, jeder Undankbare und Böse (Lk 6,35), in einem elenden Zustand vor Gott. Deshalb ist die Barmherzigkeit Gottes auch jedem Menschen zugänglich. Insoweit es um diesen elenden Zustand geht, unterscheidet sich auch die Barmherzigkeit Gottes von der Liebe Gottes. In der Ewigkeit vor dem Sündenfall brauchte es keine Barmherzigkeit, denn es gab nichts, worüber Gott sich hätte erbarmen müssen. Aber Gott war schon Liebe, bevor die Welt erschaffen wurde. Erst seitdem die Sünde in die Welt kam, kann von Barmherzigkeit die Rede sein. Mit dem Sündenfall fing das Elend des Menschen an.

  • Gott erbarmte sich über den in Sünde gefallenen Menschen und bekleidete ihn.
  • Die Befreiung Israels aus Ägypten war ebenso ein Akt der Barmherzigkeit, denn es heißt: „Ich will euch aus dem Elend Ägyptens heraufführen“ (2Mo 3,17).
  • Der barmherzige Samariter war deshalb barmherzig, weil er den elenden Zustand des unter die Räuber Gekommenen sah.
  • Gott ist reich an Barmherzigkeit (Eph 2,4), weil Er unseren Zustand als tot in Sünden und Vergehungen gesehen hat (Eph 2,1).

Aber wie hat sich die Barmherzigkeit Gottes gezeigt? Hat Er gesagt: Ich werde jetzt mal so tun, als wenn sie nicht gesündigt hätten? – Seine Barmherzigkeit hat in Epheser 2 mit den Sünden zunächst gar nichts zu tun. Sie bezieht sich auf unseren toten Zustand. Dieser Zustand war deswegen so furchtbar elend, weil wir als Tote gar nichts selbst machen konnten, nicht einmal unser Elend selbst benennen, ja nicht einmal zu Gott schreien – wir waren tot. Dann hat Gott seine Barmherzigkeit darin erwiesen, dass Er uns mit dem Christus lebendig gemacht hat. Wenn es aber um unsere Sünden geht, dann lesen wir nicht von Barmherzigkeit, sondern von Gerechtigkeit (Röm 3,23-26). Natürlich beinhaltet das Werk der Rettung auch die Vergebung der Sünden und ist insgesamt ein Akt der Barmherzigkeit (Lk 1,77.78), aber dann geht es auch wieder um unsere Not, in der wir Hilfe brauchten.

Gott war auch zu dem Volk Israel immer wieder barmherzig, wenn sie zu Ihm riefen, selbst wenn sie durch eigene Schuld große Not über sich gebracht hatten (Neh 9,17; Ps 78,38). Barmherzigkeit sieht den elenden Zustand des Menschen und empfindet Mitleid (siehe auch Hiob; Jak 5,11). Die Gnade Gottes hat mehr das Unverdiente im Blickfeld und die Barmherzigkeit mehr das Elend, in dem sich jemand befindet.

Wenn also Gott das Elend des Menschen im Blickfeld hat, dann ist es nicht verwunderlich, wenn Gott von uns erwarten kann: „Seid nun barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Wir dürfen und sollen die Wesenszüge Gottes in unserer Umgebung ausstrahlen.

Das Wort Barmherzigkeit steht oft in einem ganz anderen Kontext, als wir das heute manchmal meinen. Wir hören in unserer Zeit viel von Barmherzigkeit, wenn es darum geht, etwas Falsches zu tolerieren oder zu dulden. Aber die Schrift spricht so an keiner einzigen Stelle. Nie steht das Wort Barmherzigkeit in Verbindung damit, etwas Böses oder Falsches zu dulden. Wenn Gott in seiner unumschränkten Barmherzigkeit Menschen beschenkt, dann steht das mit der Umkehr des Menschen sehr oft im Zusammenhang (siehe z.B. 2Chr 30,9). Das Volk Israel schreit in seinem Elend zu Gott und Gott ist barmherzig. In Sprüche 28,13 heißt es: „Wer seine Übertretungen verbirgt, wird kein Gelingen haben; wer sie aber bekennt und lässt, wird Barmherzigkeit erlangen.“

Barmherzigkeit braucht auch bei Gott eine gerechte Grundlage. Und diese Grundlage hat Er darin gelegt, dass Er seinen geliebten Sohn auf die Erde gesandt hat, um für unsere Sünden zu sterben. Es ist übrigens nicht so, dass wir unsere Schuld bekennen und Gott dann barmherzig ist, denn dann würden wir die Barmherzigkeit Gottes verdienen oder durch unser Dazutun erwerben können. Nein, Gott erbarmt sich in seiner Souveränität, und die Folge ist, dass wir bereitwillig unser Leben in Ordnung bringen und unsere Schuld bekennen, weil wir die Barmherzigkeit Gottes kennengelernt haben.

Es gibt immer wieder Christen, die gerne ihren eigenen eigenwilligen Weg gehen möchten und sich dann auf die Barmherzigkeit Gottes berufen. Manchmal kann man auch hören, dass gesagt wird: „Ja ich weiß, ich sollte nach der Bibel dies und das tun, aber Gott ist ja auch barmherzig“, als wäre das ein Unterschied. Man glaubt, den eigenen Ungehorsam mit der Barmherzigkeit Gottes zu rechtfertigen. Das ist eine schlimme Verdrehung der Barmherzigkeit Gottes und wird über kurz oder lang Gericht mit sich bringen. So wie wir die Gnade Gottes nicht in Ausschweifung verkehren dürfen (Jud 4), so dürfen wir auch die Barmherzigkeit Gottes nicht für unseren Ungehorsam missbrauchen. Der Judasbrief sagt solchen ein schweres Gericht voraus.

Das Problem, das wir heute oft haben, ist, dass wir den Zustand eines Menschen, der in Not geraten ist, nicht ordentlich unterscheiden. Manchmal haben wir es mit Menschen zu tun, die in einem jämmerlichen und erbärmlichen Zustand sind. Sie haben vielleicht die Gesundheit verloren, sind behindert und können sich selbst nicht helfen, haben den Arbeitsplatz verloren und stehen mittellos da, haben starke Depressionen oder bestimmte Süchte. Sie schreien zu Gott, sie bitten um Hilfe, und jeder, der ein wenig den Herrn Jesus kennengelernt hat, wird für solche Menschen tiefes Mitgefühl und Barmherzigkeit entwickeln.

Manchmal kommt es dann vor, dass bestimmte Situationen und Probleme nicht nur unsere Barmherzigkeit hervorrufen, sondern dass diese Menschen noch weitere Probleme haben. Sie haben sich vielleicht falsche Verhaltensweisen angewöhnt oder falsche Ansichten haben in ihren Herzen Platz gefunden. Nun ist ihr elender Zustand so groß, dass man geneigt ist, diese falschen Verhaltensweisen und Ansichten mit dem Argument „Man muss ja barmherzig sein!“ vom Tisch zu fegen. Manchmal ist der erbarmungswürdige Zustand auch gerade durch falsche Verhaltensweisen oder Ansichten hervorgerufen worden. Dann wird es gut sein, diese Dinge in Liebe anzusprechen oder ein seelsorgerliches Gespräch zu führen, damit diese Dinge als solche offenbar werden können. Es ist nicht unbarmherzig, sondern gerade barmherzig, wenn wir jemandem die Wahrheit sagen mit dem Beweggrund, dass das Elend des Menschen ein Ende findet.

Der Herr Jesus sagte einmal: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Er sagte nicht: „Die Liebe oder die Barmherzigkeit wird euch freimachen.“ – Wenn Gott seine Barmherzigkeit erwies, dann war die Folge oft, dass eine Veränderung bei den Gegenständen der Barmherzigkeit erzeugt wurde. Gott hat uns in unserem Elend gesehen und hat uns durch die Wahrheit in Christus von diesem Elend befreit. Gott drückt nie ein Auge zu oder toleriert das Böse in einem Gläubigen. Wenn wir also den Eindruck haben, dass der elende Zustand bei einem Menschen gerade durch falsche Verhaltensweisen oder Ansichten hervorgerufen wurde, dann müssen wir uns bemühen, diesem Menschen dadurch zu dienen, dass wir die Wahrheit in Liebe sagen, auch wenn jene, die das in aller Schwachheit in der heutigen Zeit versuchen, einen schweren Stand haben. Wie oft werden solche Menschen als lieblos und unbarmherzig dargestellt. Es ist wirklich eine schreckliche „Pandemie“ (eine Epidemie größeren Ausmaßes) unter Christen: Sobald man versucht, die Wahrheit zu sagen, wird man zum Beispiel mit Johannes 8 „totgeschlagen“, wo der Herr Jesus sagt: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Natürlich war es reine Barmherzigkeit, dass der Herr Jesus zum Fürsprecher dieser im Ehebruch ergriffenen Frau wurde, aber der Herr Jesus deckte damit natürlich nicht die Sünde dieser Frau, denn Er sagt anschließend zu ihr: „Gehe hin und sündige nicht mehr.“ Die Sünde dieser Frau muss gerichtet werden: Entweder wird die Sünde am Kreuz gerichtet, wenn die Frau sich bekehrt, oder aber die Frau muss in der Ewigkeit die Strafe ihrer Sünde tragen. Der Herr Jesus deckt hier jedoch die Beweggründe der Dabeistehenden auf.

Barmherzigkeit zeigen wir also in erster Linie dem Menschen selbst gegenüber und der Situation, in der dieser steckt. Barmherzigkeit zeigen wir nicht den möglichen falschen Verhaltensweisen und Ansichten gegenüber. Kommen sie zur Sprache bzw. werden sie offenbar, muss man die Wahrheit in Liebe sagen und sie nicht aus falscher Scheu zurückhalten – denn nur die Wahrheit kann wirklich freimachen.

Wenn Barmherzigkeit geübt wird, dann ist das mit keinerlei Bedingung und Erwartungen verbunden, denn dann wäre Barmherzigkeit keine Barmherzigkeit. Gott zeigt seine Barmherzigkeit sogar gegenüber dem Undankbaren und Bösen, aber Er tut dies, damit seine Güte so jemanden zur Umkehr leitet (Röm 2,4): „Er [Gott] ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“, und gleich darauf folgt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,35.36). Gott konnte gegenüber Paulus barmherzig sein, weil er in Unwissenheit die Gemeinde verfolgte („Aber mir ist Barmherzigkeit zuteilgeworden, weil ich es unwissend im Unglauben tat“; 1Tim 1,13). Keiner kann sich auf die Barmherzigkeit Gottes berufen, wenn er wider besseres Wissen handelt – vielmehr wird er früher oder später mit den Gerichtswegen Gottes konfrontiert werden.

In der Geschichte von den zehn Aussätzigen kehrte nur einer zurück, um Gott zu verherrlichen. Der Herr Jesus erwies allen zehn seine Barmherzigkeit ohne eine Bedingung oder eine Erwartung. Aber wie muss Er sich gefreut haben über den einen, der zurückkam und Gott verherrlichte! Wenn wir also jemandem dienen wollen, dann dürfen wir nichts erwarten oder irgendwelche Bedingungen stellen, so wie Paulus es sagt: „… der da Barmherzigkeit übt mit Freudigkeit“ (Röm 12,8).

Mit welcher Freudigkeit hat der Herr Jesus Barmherzigkeit geübt, und wie können wir sagen, dass die Wahrheit und Gnade durch den Herrn Jesus vollkommen ans Licht gebracht wurde. Bei uns sind Wahrheit und Gnade oder auch Barmherzigkeit und Gerechtigkeit oft sehr unausgewogen, aber bei dem Herrn Jesus waren diese Dinge immer in völligem Gleichgewicht:

  • Wenn Er innerlich bewegt war über einen Aussätzigen, der rein sein wollte, schickte der Herr diesen Aussätzigen nach der Heilung zu den Priestern (Mk 1,40-45), weil die Gerechtigkeit ein Opfer verlangte.
  • Der Herr Jesus kümmert sich in einer Szene der Barmherzigkeit um die Frau am Jakobsbrunnen. Aber die Gerechtigkeit verlangte es, sie auf ihre „Männergeschichten“ anzusprechen (Joh 4).
  • Der Herr Jesus liebte den reichen Jüngling, und doch verlangte es die Gerechtigkeit, ihn darauf anzusprechen, dass seine Güter ein Hindernis sind, um ins Reich Gottes eingehen zu können (Mk 10,20-23).
  • Der Herr Jesus erbarmte sich der Frau, die im Ehebruch ergriffen wurde. Aber seine Gerechtigkeit verlangte es, sie mit den Worten zu entlassen: „Gehe hin und sündige nicht mehr“ (Joh 8).

Fazit: Gegenüber dem elenden Zustand eines Menschen dürfen und sollen wir barmherzig sein. Aber gegenüber eigenwilligem Verhalten oder falschen Lehren müssen wir der Wahrheit Zeugnis geben, wenn auch in Liebe und Sanftmut (vgl. Gal 6,1).

Der Herr möge es schenken, dass wir diese beiden Seiten der Wahrheit nicht durcheinanderbringen und nicht einerseits dort Barmherzigkeit üben, wo wir der Wahrheit hätten Zeugnis geben sollen, und andererseits dort in einem pharisäischen Geist der scheinbaren Wahrheit Zeugnis geben, wo wir hätten barmherzig sein sollen. Den Pharisäern musste der Herr Jesus sagen: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! Denn ihr verzehntet die Minze und den Dill und den Kümmel und habt die wichtigeren Dinge des Gesetzes beiseitegelassen: das Gericht und die Barmherzigkeit und den Glauben. Diese aber hättet ihr tun und jene nicht lassen sollen“ (Mt 23,23).

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