Leitverse: Sprüche 30,4; Psalm 68,19; Epheser 4,8-10;
Sprüche Agurs
Es gab einen Mann, der in einer Weise von dem Herrn Jesus geschrieben hat, wie es eigentlich sehr merkwürdig ist. Eigentlich kannte er den Herrn gar nicht. Dennoch wollte er Ihn kennenlernen. Dieser Mann war Agur, der Folgendes geschrieben hat:
Spr 30,4: Wer ist hinaufgestiegen zum Himmel und herabgekommen? Wer hat den Wind in seine Fäuste gesammelt, wer die Wasser in ein Tuch gebunden? Wer hat alle Enden der Erde aufgerichtet? Was ist sein Name, und was der Name seines Sohnes, wenn du es weißt?
Dies ist ein außergewöhnlich merkwürdiger Satz in dem Buch der Sprüche, ja vielleicht überhaupt im ganzen Alten Testament. Gott war schließlich als Vater, Sohn und Heiliger Geist noch gar nicht offenbart worden. Es war auch noch nicht offenbart – jedenfalls nicht in einer für die Menschen bzw. Gläubigen damals verständlichen Art und Weise –, dass da jemand, der alle Enden der Erde aufgerichtet hat, aus dem Himmel auf die Erde herabkommen und auch wieder in den Himmel auffahren würde. Was zudem noch merkwürdiger erscheint, ist die Reihenfolge der Wörter „hinaufgestiegen“ und „herabgekommen“. Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht, dass „Wer ist hinaufgestiegen?“ zuerst kommt, wobei wir doch zuerst gesagt hätten: „Wer ist herabgekommen aus dem Himmel und wer ist hinaufgestiegen?“, da Gott doch im Himmel seine Wohnung hat. Von einem Menschen dagegen erwarten wir, dass er zuerst hinauf- und dann herabsteigt. Dieser Vers beinhaltet folglich einige Eigenarten.
Ein Psalmzitat im Neuen Testament
Es gibt noch einen ähnlichen Vers in den Psalmen, der auch so merkwürdig ist; das ist Psalm 68,19, mit dem wir uns jetzt etwas beschäftigen wollen:
Ps 68,19: Du bist aufgefahren in die Höhe, du hast die Gefangenschaft gefangen geführt; du hast Gaben empfangen im Menschen, und selbst für Widerspenstige, damit Jah, Gott, eine Wohnung habe.
Wenn wir jetzt zum Neuen Testament gehen, wo diese Stelle zitiert wird, dann finden wir etwas Ähnliches, wie wir in Sprüche 30 gefunden haben. Die Stelle wird zitiert in Epheser 4,8-10:
Eph 4,8-10: Darum sagt er: „Hinaufgestiegen in die Höhe, hat er die Gefangenschaft gefangen geführt und den Menschen Gaben gegeben.“ Das aber: Er ist hinaufgestiegen, was ist es anderes, als dass er auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde? Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfüllte.
In Vers 9 haben wir dieselbe gegen die Erwartung gerichtete Reihenfolge: erst hinauf und dann hinab, obwohl der Herr Jesus historisch zuerst herabgekommen und dann hinaufgestiegen ist. Aber das zeigt uns einen Grundsatz, zu dem wir im Wort Gottes häufig Beispiele finden. Wenn Gott uns den Herrn Jesus zeigt, möchte Er Ihn uns besonders in seiner Erhöhung zeigen, denn Er ist der Auserwählte, den Er sich erhöht hat (s. Ps 89,20). Aber Er ist auch der, der in eigener Vollmacht hinaufgestiegen ist und „sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (Heb 1,3). So ist Er nicht nur der, der aufgenommen wurde, sondern auch der, der hinaufgestiegen ist. Zum einen hatte Er das Recht aufgrund seiner eigenen persönlichen Herrlichkeit, zum anderen aber insbesondere auch aufgrund dessen, was Er sich durch sein wunderbares Werk auf Golgatha erworben hat.
Doch jetzt kommt noch etwas Zweites: Gott möchte uns auch immer wieder daran erinnern, dass derjenige, der hinaufgestiegen ist, auch einmal hinabgestiegen ist.
Hinabgestiegen
So wie uns Psalm 68 diesen Weg nach oben zeigt, den der Herr Jesus gegangen ist, so zeigt uns Psalm 69 den Weg nach unten. Wir könnten uns fragen, was damit gemeint ist: „der hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde“ (Eph 4,9). Ja, der Herr Jesus lag im Grab, aber als „die unteren Teile der Erde“ verstehen wir heute rein physikalisch eher noch etwas anderes. Aber steht nicht vielmehr zu vermuten, dass der Apostel Paulus – das heißt eigentlich insbesondere der Heilige Geist, als Er in Epheser 4 den Psalm 68 zitierte – bei dem Hinabsteigen wiederum an Psalm 69 gedacht hat? Dort lesen wir:
Ps 69,2.3.15a.16: Rette mich, o Gott, denn die Wasser sind bis an die Seele gekommen! Ich bin versunken in tiefen Schlamm und kein Grund ist da; in Wassertiefen bin ich gekommen, und die Flut überströmt mich. … Zieh mich heraus aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke! … Lass die Flut der Wasser mich nicht überströmen und die Tiefe mich nicht verschlingen; und lass die Grube ihren Mund nicht über mir verschließen!
Hier haben wir diese Tiefe, in die der Herr Jesus hinabstieg. Ich glaube wirklich, dass der Heilige Geist nicht so sehr an die geographische Tiefe des Grabes dachte, in die der Herr Jesus hinabstieg, sondern ganz besonders an die Tiefe seiner Leiden und an die Tiefe seiner Erniedrigung. Genauso wie bei Agur in Sprüche 30 können wir annehmen, dass David hier im Psalm 68 gar nicht richtig wusste, was er da schrieb. Es ist so, wie uns auch in 1. Petrus 1,10-12 gesagt wird: Die Propheten verstanden nicht, was sie schrieben, und begehrten, dort hineinzuschauen. Und so wusste auch David nicht richtig, was er da schrieb, und er dachte vermutlich viel darüber nach, was das wohl bedeuten könnte.
„Die Gefangenschaft gefangen geführt“
„Du hast die Gefangenschaft gefangen geführt“ – das ist auch so ein merkwürdiger Ausdruck. Was dachte sich David wohl dabei? Nun ist dieser Psalm 68 als Liedpsalm sehr poetisch. Wenn man sich den Psalm durchliest, stößt man auf etliche Fragen, die einem unklar sind. Es sind, mit Ehrfurcht gesagt, sehr kryptische Aussagen darin enthalten, bei denen man sich wirklich fragt, was sie bedeuten sollen. Zu manchem findet man nur sehr schwer den Zugang. Hätten wir nicht das Neue Testament, wüssten wir wahrscheinlich nicht, was mit dem Ausdruck „die Gefangenschaft gefangen geführt“ gemeint sein könnte. Im Neuen Testament wird uns das erklärt. In Kolosser 2,14.15 lesen wir:
- Kol 2,14.15: Als er ausgetilgt hat die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen, die gegen uns war, hat er sie auch aus der Mitte weggenommen, indem er sie an das Kreuz nagelte; als er die Fürstentümer und die Gewalten ausgezogen hatte, stellte er sie öffentlich zur Schau, indem er durch dasselbe über sie einen Triumph hielt.
Zudem haben wir in Hebräer 2,14b einen Hinweis, der uns das weiter erklärt:
- Heb 2,14: Er hat auch in gleicher Weise daran teilgenommen, damit er durch den Tod den zunichtemachte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft [Gefangenschaft] unterworfen waren.
Derjenige, der selbst Gefangene machte, der selbst andere in Sklaverei trieb, wurde sozusagen gefangen geführt durch dieses Werk am Kreuz. Und wenn es jetzt hier heißt: „Du bist aufgefahren in die Höhe, du hast die Gefangenschaft gefangen geführt“, dann heißt das, dass da jemand aufgefahren ist als Überwinder, als einer, der gesiegt hat: Der Herr Jesus hat gesiegt über alle Mächte, die gegen Ihn und uns standen, auch über Satan; und als solcher ist Er gen Himmel gefahren, als solcher sitzt Er jetzt droben.
Gaben empfangen im Menschen – den Menschen Gaben gegeben
Das Merkwürdige in Psalm 68,19 geht weiter: Hier wird von Gott gesagt, dass Er „Gaben empfangen hat im Menschen“. Im vorherigen Vers wird von den Wagen Gottes gesprochen, von den „zwei Mal Zehntausenden, Tausenden und Abertausenden“. Das sind die Engel, die Engelwagen, wie sie zum Beispiel in Hesekiel beschrieben werden. Von diesem Gott wird jetzt gesagt: „Du bist aufgefahren …, du hast Gaben empfangen im Menschen.“ Damit wird dieses Wunder angedeutet – Gott ist Mensch geworden, denn derjenige, der aufgefahren ist, ist Gott, aber Er ist herabgekommen und Mensch geworden. Und das Große ist: Dieser Mensch ist wieder aufgefahren in den Himmel und ist jetzt dort als Mensch und hat als Mensch Gaben empfangen!
Es ist so faszinierend, dass wir diese typisch christliche Wahrheit – dass ein verherrlichter Menschen im Himmel ist – in diesem alttestamentlichen Buch der Psalmen angedeutet finden, wo wir das eigentlich gar nicht erwartet hätten. Der Herr Jesus hat Gott durch sein Werk so sehr verherrlicht, dass Er aufgrund dessen, was Er dort in der Verherrlichung getan hat, als Mensch Gaben empfangen hat im Himmel. Und Er gibt diese weiter an seine Versammlung (vgl. Eph 4). Als dort Psalm 68 zitiert wird, heißt es nicht: „Gaben empfangen im Menschen“, sondern es heißt hier: „und den Menschen Gaben gegeben“. Das ist ein Schritt weiter. Erst einmal hat Er die Gaben empfangen, das wird uns im Psalm 68 gesagt; und dann hat Er auch den Menschen Gaben gegeben, das ist Epheser 4. Er hat diese Dinge im Himmel empfangen, um sie weiterzugeben. Und so geht der Text im Epheserbrief weiter und wir lesen in den Versen 11 bis 16:
- Eph 4,11-16: Und er hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer, zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus, bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus … Lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus dem der ganze Leib, wohl zusammengefügt und verbunden durch jedes Gelenk der Darreichung, nach der Wirksamkeit in dem Maß jedes einzelnen Teiles, für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner Selbstauferbauung in Liebe.
Hier geht es um dieses große Geheimnis von Christus und seiner Versammlung und wie der Herr Gaben empfangen hat. Diese gibt Er jetzt an seine Gemeinde, an seine Versammlung, damit sie wächst, damit sie gedeiht, damit sie alles das bekommt, was sie braucht. Davon lesen wir allerdings in Psalm 68 nichts, weil dieses Geheimnis im Alten Testament grundsätzlich nicht offenbart ist.
Selbst für Widerspenstige
Dennoch finden wir auch hier einen Grund angegeben, wofür der Herr Gaben empfangen hat: „und selbst für Widerspenstige“ (Ps 68,19). Aber wer ist hier gemeint mit den Widerspenstigen? Wir wissen unter anderem aus Römer 9 bis 11, dass Israel das widerspenstige Volk ist, weil es den Herrn und die Gnade abwies. Und doch – und das ist hier das Große – wird auch Israel Gaben empfangen. Aber woher?
Israel wird diese Gaben empfangen auch aufgrund dessen, dass der Herr Jesus im Himmel verherrlicht ist. Gerade deswegen wird Israel Gaben empfangen, obwohl es diese Gaben nicht wollte. Und in der Zwischenzeit sind Gaben erst einmal der Gemeinde gegeben worden. Damit will ich nicht sagen, dass die Gaben, die Israel bekommt, dieselben Gaben sind, die wir bekommen. Ich glaube, dass es sich bei Israel um andere Gaben handelt, die sicherlich auch zum großen Teil im materiellen Bereich sind. Sicherlich sind es auch noch andere Gaben, das wissen wir, wenn wir an die Segnungen des neuen Bundes denken (also Vergebung der Sünden, das Gesetz in die Herzen geschrieben und Kenntnis des Herrn); aber es sind nicht die Gaben, die dem Leib Christi, also der Gemeinde, gegeben worden sind. Aber doch, selbst für Widerspenstige, selbst für solche, die es nicht haben wollten, die Ihn nicht haben wollten, selbst für die hat Er nach seiner Himmelfahrt als Mensch Gaben empfangen.
Eine Wohnung für Gott
Und es geht noch weiter: „damit Jah, Gott, eine Wohnung habe“ (Ps 68,19). Jetzt kommen die beiden Fäden wieder zusammen. Die Versammlung ist die Behausung Gottes im Geist (Eph 2,22). Dafür hat der Herr Gaben empfangen und Gaben geschenkt. Für diese Behausung Gottes, damit Gott eine Wohnung habe. Und das ist dasselbe Ziel einmal in der Zukunft mit Israel, „damit Jah [Abkürzung von Jehova], Gott, eine Wohnung habe“.
„Gepriesen sei der Herr“ (Ps 68,20a)
Psalm 22 zeigt uns, dass der Herr Jesus, als Er in die Gottverlassenheit hinabgestieg und ausrufen musste: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, daran dachte, dass Gott eine Wohnung hat und haben möchte: eine Wohnung unter den Lobgesängen Israels (Ps 22,4). Das war sein Wunsch, als Er das Schrecklichste mitmachen musste, was nur denkbar ist. Da dachte Er daran, dafür hat Er es getan, und dafür ist Er auch hinaufgestiegen in den Himmel und hat Gaben empfangen als verherrlichter Mensch: damit Gott eine Wohnung hat, in der Er gepriesen wird; eine Wohnung, worin man sagt: „Gepriesen sei der Herr.“
So ist es auch heute. Wenn der Herr die Seinen versammelt, möchte Er sie dazu bringen, dass aus diesem Tempel Gottes, aus dieser Wohnung Gottes, dort Lob für Gott emporsteigt. Dafür hat Er auch Gaben gegeben, dass durch sie – durch den Dienst der Lehrer, der Hirten und der Evangelisten – die Gläubigen dann dahin geführt werden, dass sie letztlich zu solchen werden, die Gott loben, die den Vater anbeten.