Leitverse: 2. Timotheus 3,17; 2. Korinther 13,11; Epheser 4,12; Hebräer 13,20; 1. Petrus 5,10
Was bedeutet „vollendet“ oder „vollkommen“?
Es gibt im NT ein griechisches Wort, das manchmal mit „vollkommen“ oder „vollendet“ übersetzt wird und in diesem Sinn oft die Bedeutung von „erwachsen“ hat. Es geht um das Zeitwort katartizo, das so viel bedeutet wie „in Ordnung bringen, zurechtmachen, zurüsten“. Es ist abgeleitet von einem Wort artios, das in 2. Timotheus 3,17 mit „vollkommen“ übersetzt ist: „… auf dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt (oder: zugerüstet)“, wobei des Wort „geschickt/zugerüstet“ von einem verwandten Wort abgeleitet ist: exartizo. Es gibt verschiedene Texte, in denen Formen von katartizo vorkommen, die übersetzt werden mit „vollkommen machen“ oder „vollkommen/vollendet“, worin dann der Gedanke an geistliches Erwachsensein eingeschlossen ist. Der Vollständigkeit nennen wir die wichtigsten Texte.
In Lukas 6,40 sagt der Herr Jesus: „Ein Jünger ist nicht über den Lehrer; jeder aber, der vollendet ist, wird sein wie sein Lehrer.“ – „Vollendet“ bedeutet hier: „in Ordnung gebracht“, „ausreichend zugerüstet“. Das ist ein Zustand, der das Resultat von geistlichem Wachstum ist. Der Jünger, der geistlich erwachsen ist, ist ein anschauliches Ebenbild seines Meisters.
Etwas Ähnliches finden wir in Matthäus 10,25: „Es ist dem Jünger genug, dass er sei wie sein Lehrer und der Knecht wie sein Herr.“ Auch hier ist also das letztendliche Ziel des geistlichen Erwachsenwerdens das Gleichförmigwerden mit dem Bild des Christus.
In 2. Korinther 13,11 zielt Paulus auf etwas Ähnliches ab: „Übrigens, Brüder, freuet euch, werdet vollkommen, seid getrost, seid eines Sinnes, seid in Frieden, und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.“ Auch hier ist der Gedanke an einen Gläubigen, der ganz „richtig“ dasteht, dessen geistlicher Zustand „in Ordnung“ ist, so wie Gott es beabsichtigt hat. Und auch hier kommt das in ganz praktischen Dingen zum Ausdruck: Ausstrahlen von Freude und Trost (Ermutigung), Bewahren der Einmütigkeit, Frieden halten mit anderen. Typische Kennzeichen des geistlichen Erwachsenseins! Und das im Licht des Schlussverses von 2. Korinther: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ (2Kor 13,13).
Eine andere Aussage von Paulus haben wir schon ausführlich besprochen, nämlich die in Epheser 4. Wir zitierten daraus schon Vers 12, wo wir das Ziel der Gaben finden, die Christus seiner Gemeinde geschenkt hat: „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus“. Dieses Wort „Vollendung“ ist das verwandte katartismos. Paulus meint hier also, dass die Gaben darauf gerichtet sind, die Heiligen in Ordnung zu bringen, zurechtzubringen, dahin zu bringen, wo sie sein sollen, in den rechten Zustand zu „manövrieren“. Die Schlüsselworte dabei sind „Auferbauung“ (Eph 4,12), „hingelangen zu“ (Eph 4,13), „heranwachsen“ (Eph 4,15). Dieser Abschnitt zeigt wohl am deutlichsten, dass katartizo, „vollenden“, das gleiche Ziel im Auge hat wie teleios, „vollkommen“, „erwachsen“.
Auch Hebräer 13,20.21 gibt uns eine gleichartige Ermahnung: „Der Gott des Friedens aber, der aus den Toten wiederbrachte unseren Herrn Jesu Christus, den großen Hirten der Schafe, in dem Blut des ewigen Bundes, vollende euch in jedem guten Werke, um seinen Willen zu tun, in euch schaffend, was vor ihm wohlgefällig ist, durch Jesus Christus.“ Und bei Petrus finden wir den selben Grundgedanken: „Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus, er selbst wird euch, nachdem ihr eine kleine Zeit gelitten habt, vollkommen machen, befestigen, kräftigen, gründen“ (1Pet 5,10). Stets geht es um „in den richtigen Zustand bringen“, was das Kennzeichen des geistlichen Erwachsenwerdens ist.
Zusammenfassung
Hier und da ist dieser Artikel doch ziemlich „technisch“ geworden. Aber wenn wir die Belehrung der Schrift richtig wiedergeben wollen, ist das nicht immer zu vermeiden. Wenn jemand das Gefühl hat, durch all die Bäume den Blick auf den Wald ein wenig verloren zu haben, kann die folgende Zusammenfassung ihm oder ihr vielleicht dienen.
Wir haben gesehen, dass es beim geistlichen Wachstum darum geht, Christus stets ähnlicher zu werden, das meint, immer mehr seine Charakterzüge in dieser Welt zu zeigen. Das geht nicht von selbst; dazu ist ein Entwicklungsprozess nötig, der selbst auch wieder von Christus ausgeht. Aber wir müssen selbst wollen! Für manche ist es offenbar ziemlich attraktiv, immer nur ein Baby zu bleiben. Das sind Christen, die eigentlich kein Verlangen danach haben, eigene Verantwortlichkeiten zu übernehmen; die uns immer etwas davon erzählen, „dass wir sie so nehmen sollen, wie sie sind“; die sich immer nur am ABC des Glaubens festklammern usw. Christus bewirkt in uns das Wachstum; aber wer nicht wachsen will, der bleibt immer ein Baby. Ein solcher Gläubiger kommt bestimmt in den Himmel; einmal ein Kind Gottes – immer ein Kind Gottes. Aber sie werden es wohl erleben müssen, dass Gott ihnen vor seinem Richterstuhl (Röm 14,10; 2Kor 5,10) die „Blaupause“, den „Bauplan“ vorhalten wird, die Er für ihr Leben entworfen hat. Dieser Plan ist nichts anderes als das Bild seines Sohnes, wozu Er sie vor Grundlegung der Welt auserwählt hat. Während ihres ganzen christlichen Lebens auf der Erde stand Gott mit allen seinen Hilfsquellen bereit, um diesen Plan in ihrem Leben zu verwirklichen. Dann ist es doch wohl besonders traurig, wenn ein Gläubiger diesem kaum nachgekommen ist! Das ist nicht nur deshalb schade, weil er dann selbst seine Belohnung verliert, sondern es ist vor allem darum tief traurig, weil es bedeutet, dass Gott im Leben eines solchen Gläubigen nicht zu seiner Ehre gekommen ist. Ein erwachsener Gläubiger ist nicht ein Gläubiger, der nie mehr sündigt. Auch erwachsene Gläubige haben das sündige Fleisch immer noch in sich, und wenn sie nicht wachsam sind, fallen sie doch wieder in die Werke des Fleisches. Aber das ist nicht mehr der Grundton ihres Lebens. Nicht die Sünden bilden das wesentliche Kennzeichen ihres Lebens, sondern das Bild des Christus.
Kennzeichen eines erwachsenen Christen
Wir wollen das Besprochene zusammenfassen in sieben Kennzeichen eines erwachsenen Christen:
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Erfüllt von Christus. Erwachsene Gläubige sind voll vom Herrn Jesus, und nicht von sich selbst und ihren Gaben. Sie rühmen sich nicht über sich selbst oder ihren Fähigkeiten, sondern über die Herrlichkeit des Christus.
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Nicht beeinflussbar durch das, was außerhalb von Christus ist. Erwachsene Christen sind tatsächlich nicht mehr offen für fundamentale Irrlehren. Sie können sich wohl auch in allerlei Besonderheiten verlieren; sonst würden erwachsene Christen nicht in untergeordneten Punkten so verschiedene Ein-/Ansichten haben. Aber die Stimme des guten Hirten wissen sie sehr gut zu unterscheiden (Joh 10,3-5.16.27), weil sie Ihn selbst besser kennengelernt haben. Der erwachsene Christ ist standfest und lässt sich nicht mehr durch verkehrte Strömungen mitreißen.
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Gutes Unterscheidungsvermögen. Erwachsene Christen sind „erfahren im Wort der Gerechtigkeit“; sie haben „ihre Sinne geübt, um sowohl das Gute als auch das Böse zu unterscheiden“ (Heb 5,13.14). Sie kennen den Weg der Gebote Gottes, den wahren Weg des Gehorsams, den Weg des Willens Gottes.
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Nicht gesetzlich. Erwachsene Christen mögen zwar streng und gewissenhaft für sich selbst leben, aber sie sind nicht gesetzlich. Nicht die Gebote sind für sie das Wichtigste – von selbstgemachten Geboten ganz zu schweigen –, sondern der Gebieter selbst. Sie haben Ihn so lieb, dass sein Wunsch ihnen Befehl ist; aber niemals drängen sie ihre Auffassungen über die Wünsche des Herrn anderen auf.
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Gute Erkenntnis des Herrn. Erwachsene Christen kennen die Güte und Kostbarkeit des Christus (1Pet 2,3-7), und darauf richten sie ihre vornehmsten Energien. Sie haben so viel von seiner Herrlichkeit gesehen, dass Er alles für sie bedeutet, auch in ihrem praktischen Leben.
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Nicht mehr empfindlich für das Fleisch. Erwachsene Christen können zwar noch in die Werke des Fleisches fallen, aber das ist die Ausnahme. Wer Christus feurig liebhat, kann eigentlich nicht mehr neidisch werden auf einen Mitgläubigen; der geht Streitsucht und Parteiungen aus dem Weg; der kann eine hübsche Frau ansehen und ihre Schönheit bewundern, ohne sie zu begehren; der lässt sich von keinem einzigen irdischen Besitz mehr beherrschen – von weltlichen Dingen einmal ganz zu schweigen. Das sind die Charakterzüge des Menschen aus dem Himmel: Solch ein Gläubiger ist freundlich, sanftmütig, geduldig und sucht die Dinge, die oben sind.
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Ein erneuertes Denken. Erwachsene Gläubige haben ein ganz neues Denkmuster entwickelt, das sich grundlegend von dem der Welt unterscheidet (Röm 12,2). Es macht nichts aus, über welches Thema sie gerade sprechen; sie sprechen darüber nicht, wie ihre Nachbarn und Kollegen darüber sprechen, sondern ganz anders: von Christus her (Eph 4,20 [in der holländischen NBG-Übersetzung]: „Aber ihr ganz anders: Ihr habt Christus kennengelernt“).
Ich möchte dies gern zusammenfassen mit den Worten aus Jakobus 3,12-18: „Wer ist weise und verständig unter euch? Er zeige aus dem guten Wandel seine Werke in Sanftmut der Weisheit. Wenn ihr aber bitteren Neid und Streitsucht in eurem Herzen habt, so rühmet euch nicht und lüget nicht wider die Wahrheit. Dies ist nicht die Weisheit, die von oben herabkommt, sondern eine irdische, sinnliche, teuflische. Denn wo Neid und Streitsucht ist, da ist Zerrüttung und jede schlechte Tat. Die Weisheit aber von oben ist aufs Erste rein, sodann friedsam, gelinde, folgsam, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ungeheuchelt. Die Frucht der Gerechtigkeit in Frieden aber wird denen gesät, die Frieden stiften.“
Was sagst du nun am Ende dieses Artikels? Legst du entmutigt das Heft weg, weil du denkst: Das schaffe ich nie!? Du hast recht: Aus dir selbst wirst du es niemals erreichen. Nur Christus selbst kann durch den Heiligen Geist dieses Wachstum bewirken. Aber dazu gehören noch zwei Anmerkungen. Zum Ersten musst du bedenken, dass der Herr auch nichts anderes will in deinem Leben! Er steht bereit mit allen seinen Hilfsquellen und Nahrungsmitteln, um aus dem Baby einen Erwachsenen zu machen. Zum Zweiten musst du bedenken, dass du selbst auch wollen musst. Wir müssen wachsen wollen. Sag jetzt nicht, dass du aus dir selbst nicht wollen kannst! Philipper 2,12 sagt, frei übersetzt, dass Gott den Willen und die Energie schenkt, um an deiner eigenen Errettung arbeiten zu können. Versteck dich deshalb nicht hinter diesen Ausreden, sondern sage am Ende dieses Artikels einfach zum Sohn Gottes: „Ich will gern wachsen, Herr Jesus, komm mir in meiner Schwachheit zu Hilfe! Schenk mir den Willen und die Energie, um zu wachsen, denn ich will gern Dir immer ähnlicher werden.“
Übersetzt aus Bode van het heil in Christus, Vaassen, NL, Jg. 140, Nr. 10, Okt. 1997, S. 196–199
Übersetzung: Frank Schönbach