Sind die Nationen in Israel „einverleibt“?
Epheser 2; 3; Römer 11; Johannes 10; Apostelgeschichte 2

Willem Johannes Ouweneel

© SoundWords, online seit: 25.11.2005, aktualisiert: 24.10.2022

Leitverse: Epheser 2; 3; Johannes 10; Römer 11; Apostelgeschichte 2

Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
D: Anhänger des Dispensationalismus
B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden, wird manchmal noch ein E für extrem oder ein G für gemäßigt davorgestellt.

 

Gespräch zwischen einem Bundestheologen (B) und einem Dispensationalisten (D):

B: Nun hör mal, wie kannst du nun doch behaupten, dass der Ölbaum in Römer 11 nicht Israel sei? Diese These haben doch immer alle Ausleger aufgestellt?

D: Bestimmt nicht! Aber versteck dich mal nicht hinter den Auslegern, die von derselben Denkrichtung ausgehen wie du; erzähl mir lieber selbst, warum der Ölbaum per se Israel sein soll.

B: Weil es keine andere Möglichkeit gibt: Die Wurzeln sind die Erzväter, die natürlichen Zweige sind die einzelnen Israeliten; was ist der Baum also anderes als Israel?

D: Aber dann erklär mir einmal, wie Israel sowohl durch den Ölbaum als solcher dargestellt werden kann als auch durch die natürlichen Zweige, die sämtlich oder teilweise aus diesem Baum herausgebrochen werden konnten.

B: Was stellt der Baum denn deiner Meinung nach dar?

D: Der Ölbaum ist meines Erachtens die Ordnung von Vorrechten und Segnungen, gegründet auf den Verheißungen an die Erzväter (die Wurzeln); meinetwegen: der Bund; aber der Bund ist nicht Israel und das Teilhaben am Bund ist nicht das Teilhaben an Israel.

B: Aber Israel ist im AT doch das Bundesvolk? Das Volk Israel und das Land, das Gebiet des Bundes sind doch völlig identisch?

D: Nein; Israel ist ein Volk; der Bund ist eine Ordnung von Verheißungen und Segnungen, woran Israel im AT als Volk Anteil hatte und aus der es (vorübergehend oder endgültig) auch ausgeschlossen werden konnte.

B: Ach, das ist doch nur Spitzfindigkeit.

D: Nein, nein: Ist die Konsequenz deiner Sichtweise denn nicht, dass unbekehrte Juden aus dem Baum „Israel“ „herausgebrochen“ sind und somit keine Juden mehr sind? Oder ist es nach deiner Sicht möglich, aus dem Baum „Israel“ ausgebrochen zu werden und dennoch Israelit zu bleiben, und umgekehrt als „Gojim“ in den Baum „Israel“ eingepfropft zu werden und doch kein Israelit zu werden? Ich wünschte, dass du mir das einmal erklären könntest.

B: Weißt du, was dein Problem ist? Du überlegst zu viel; ich halte mich nur einfach an die Schrift.

D: O ja? Wo steht denn in Römer 11, dass der Ölbaum Israel darstellt? Auch in deiner Sicht hast du doch eine bestimmte Überlegung nötig, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass der Baum Israel ist, dem wir einverleibt werden. Also, meiner Meinung nach stößt deine Überlegung auf viel mehr Schwierigkeiten in der Schrift als meine und führt zu unannehmbaren Konsequenzen.

B: Nein, nein, das meinst du nur aufgrund deines Denkschemas, in dem du die Kontinuität von Gottes Heilswegen in der Einheit von AT und NT nicht siehst.

D: Die sehe ich wohl! Alle Gläubigen aller Zeiten sind durch dasselbe Blut Christi gerettet.

B: Das kannst du wohl sagen, aber bei dir hängt die Gemeinde ja in der Luft, ohne irgendeinen Zusammenhang mit dem Rest der Heilsgeschichte; und das wo uns Römer 11 nun gerade deutlich macht, in welcher Kontinuität die Gemeinde mit dem früheren Bundesvolk Gottes steht, in das wir als „natürliche Zweige“ eingepfropft worden sind [usw.usw.].

Der „Beweis“ in Epheser 2 und 3

Am Ende des 3. Kapitels [in dem Buch Israel en de Kerk] waren wir der Meinung, dass wir die „Einverleibungsidee“ ablehnen müssen. Wer dennoch einen Beweis für diese Idee sucht, wird vielleicht zuerst an Epheser 2 und 3 denken. B überlegt dann: früher waren wir, die Gläubigen aus den Heidenvölkern,

  • „ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremdlinge“ (Eph 2,12), und
  • nun sind wir „nahe geworden“,
  • „nicht mehr Fremde und Nichtbürger“, sondern
  • „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Eph 2,19),
  • „Miterben und Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus“ (Eph 3,6).

Vor allem das Wort „Miteinverleibte“ ist interessant. Die Telosübersetzung [niederl. moderne Bibelübersetzung i.d. Brüdergemeinden] hat hier eine Fußnote: Oder „zusammen ein Leib“, „Glied des Leibes sein“. Die Statenübersetzung [niederl. Bibelübersetzung von 1637; vergleichbar mit der Luther-Üb. und der engl. King-James-Üb. von 1611] hat: „von demselben Leib“, und die NBG-Übersetzung [Übersetzung der Niederländischen Bibelgesellschaft von 1951 in moderner Sprache] hat: „Mitglied sein“.

Bedeutet nun das Wort „Miteinverleibte“ – so wie der gesamte Gedankengang in Epheser 2 –, dass wir in Israel „einverleibt“ sind? B liest es so. Er überlegt: Wenn in Epheser 2,12 steht, dass wir vormals vom Bürgerrecht Israels ausgeschlossen und Fremdlinge waren, dann kann das doch nichts anderes bedeuten, als dass wir nun doch die Bürgerschaft Israels empfangen haben? Dann sind wir doch Mitbürger, Miterben, Miteinverleibte und Mitteilhaber Israels geworden? Wessen sonst? Das klingt so selbstverständlich, aber ein D’ler würde sich fragen: Ist das wirklich so selbstverständlich? Der Text sagt doch mit keinem Wort, dass wir Bürger usw. von Israel geworden sind. Paulus sagt in Epheser 2,14.15 auch nicht, dass die „Zwischenwand der Umzäunung“ abgebrochen und „die Feindschaft“, „das Gesetz der Gebote [das] in Satzungen [besteht]“, zunichtegemacht wurde zwischen den Juden und den Heiden. Wenn das so wäre, würden die Juden wirklich völlig zu Unrecht noch an ihren zeremoniellen Gesetzen und der Beschneidung festhalten. Aber jene, die das prophetische Wort wörtlich nehmen, wissen nur allzu gut, dass selbst im messianischen Friedensreich der Unterschied zwischen Israel und den Völkern aufrechterhalten bleibt (wenn auch weniger stark als früher) und dass Israel auch dann die uralten Gesetze von Mose (die Moral- und Zeremonialgesetze) pflegen wird (Jes 2,1-5; Hes 40–46; Sach 6,12-15; 8,23; 14,16-21).

Was sagt Paulus nun in Epheser 2? Anders gefragt: Wer sind „die zwei“ in Vers 15? Das sind nicht die Juden und die Heiden, sondern die messiasgläubigen Juden und die messiasgläubigen Heiden.

Anmerkung der Redaktion
Die Zwischenwand wird in Epheser 2,14 eng mit der Feindschaft und mit dem Gesetz der Gebote verbunden. Wenn man die vielen, vielen prophetischen Aussagen zum Tausendjährigen Reich liest, dann wird man nichts von dieser Feindschaft mehr entdecken. Es heißt in Apostelgeschichte 10,28: „Ihr wisset, wie unerlaubt es für einen jüdischen Mann ist, sich einem Fremdling anzuschließen oder zu ihm zu kommen“ – diese Zwischenwand der Umzäunung gibt es im Millenium so nicht mehr. Es wird nur einen König für alle Nationen geben und dann wird auch das Recht für alle gleich sein.

Sach 14,16-19: Und es wird geschehen, dass alle Übriggebliebenen von allen Nationen, welche wider Jerusalem gekommen sind, von Jahr zu Jahr hinaufziehen werden, um den König, Jehova der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern. Und es wird geschehen, wenn eines von den Geschlechtern der Erde nicht nach Jerusalem hinaufziehen wird, um den König, Jahwe der Heerscharen, anzubeten: über dasselbe wird kein Regen kommen; und wenn das Geschlecht Ägyptens nicht hinaufzieht und nicht kommt, so wird der Regen auch nicht über dieses kommen. Das wird die Plage sein, womit Jahwe die Nationen plagen wird, welche nicht hinaufziehen werden, um das Laubhüttenfest zu feiern. Das wird die Strafe Ägyptens und die Strafe aller Nationen sein, welche nicht hinaufziehen werden, um das Laubhüttenfest zu feiern.

Jes 2,1-5: Das Wort, welches Jesaja, der Sohn Amoz’, über Juda und Jerusalem geschaut hat. Und es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses Jahwes feststehen auf dem Gipfel der Berge und erhaben sein über die Hügel; und alle Nationen werden zu ihm strömen. Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berge Jahwes, zum Hause des Gottes Jakobs! Und er wird uns belehren aus seinen Wegen, und wir wollen wandeln in seinen Pfaden. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und das Wort Jehovas von Jerusalem; und er wird richten zwischen den Nationen und Recht sprechen vielen Völkern. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugmessern schmieden, und ihre Speere zu Winzermessern; nicht wird Nation wider Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen. Kommt, Haus Jakob, und lasst uns wandeln im Lichte Jahwes!

Im Übrigen gibt es einen großen Unterschied zum aaronitischen System im Friedensreich. Der Herr wird das Priestertum nach der Ordnung Melchisedeks nicht nach der Ordnung Aarons ausüben. Die Opfer haben eine völlig andere Bedeutung, stehen auf einer völlig anderen Grundlage (nämlich der des Neuen Bundes). Daher ist auch die Anordnung bezüglich der Feste völlig anders (wir lesen z.B. nichts mehr vom großen Versöhnungstag, nichts mehr von Pfingsten). Der Tempel hat ganz andere Aufgaben (und hat deswegen auch ganz andere Konstruktionen und Maße als der alte). Ausführlicher kann man das in dem Artikel „Der Tempel Hesekiels“ nachlesen.

Das weiß B natürlich auch, aber damit ist sehr viel mehr verbunden. Seit dem Kreuzestod des Herrn Jesus besteht in dieser Welt eine Gesellschaft, in welche die messiasgläubigen Juden und Heiden zusammengebracht wurden. Dies wird hier bezeichnet als:

  • ein neuer Mensch“ (Eph 2,15)
  • ein Leib“ (Eph 2,16)
  • „wir beide“ (Eph 2,18)
  • „ein heiliger Tempel im Herrn“ (Eph 2,21)
  • „eine Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22).

Diese Gesellschaft ist nicht Israel, auch nicht irgendein „geistliches Israel“. Es umfasst auch nicht einmal das jüdische Volk, sondern nur die messiasgläubigen Juden aus Israel, die innerhalb der Gemeinde gleichberechtigt verkehren mit den messiasgläubigen Heiden. Niemals, wirklich niemals, wird diese Gesellschaft im NT „Israel“ oder dergleichen genannt.

Das Geheimnis Gottes, das in früheren Geschlechtern den Menschen nicht offenbart wurde (Eph 3,3-6; Kol 1,26.27), besteht nicht darin, dass die Heiden durch Israel gesegnet würden, denn diese Verheißung war bereits seit Abraham bekannt. Das Geheimnis Gottes bedeutet, dass gegenwärtig in der Welt eine Gesellschaft besteht, von der keiner der Propheten jemals hatte wissen können, eine Gesellschaft – der Leib Christi –, in der sich messiasgläubige Juden und messiasgläubige Heiden gleichberechtigt befinden: die jüdischen Gläubigen sind Bürger dieser Gesellschaft, die aus den Heidenvölkern sind Mitbürger. Die jüdischen Gläubigen sind Erben, die aus den Heidenvölkern sind Miterben; die jüdischen Gläubigen sind Glieder am Leib, ebenso die aus den Heidenvölkern Glied am selben Leib, usw. Natürlich nehmen die messiasgläubigen Juden in bestimmter Hinsicht immer einen besonderen Platz ein. So haben sie aufgrund der Verheißungen die älteren „Rechte“, die ersten Heiden wurden der Gemeinde durch jüdische Gläubige zugeführt (Apg 2), die Gemeinde ist auf der Grundlage von jüdischen Aposteln und Propheten aufgebaut (Eph 2,20), das NT ist (fast) vollständig von diesen jüdischen Männern geschrieben worden usw. Aber „in Christus“ sind innerhalb der Gemeinde die Unterschiede zwischen messiasgläubigen Juden und Heiden aufgehoben. Die jüdischen Gläubigen befinden sich in der Gemeinde nicht deswegen, weil sie Juden als solche sind, sondern weil sie bußfertige Sünder und Messiasgläubige geworden sind, genauso wie die messiasgläubigen Heiden, und darum bekommen sie an denselben Segnungen Anteil, die jeder bußfertige Sünder und Messiasgläubige empfängt, Jude oder Heide.

Dies war in der Tat ein Geheimnis für die Propheten. Doch im messianischen Friedensreich wird es wieder ganz anders sein, besonders sehr viel anders als es im AT war. Auch da war jeder Segen auf Christus gegründet, aber der Unterschied zwischen Israel und den Heidenvölkern wurde deutlich aufrechterhalten. Im Friedensreich ist Israel der Mittelpunkt der Erde, und die Völker werden hinaufziehen nach Zion, um dort Gottes Gesetz zu lernen (Jes 2,1-5). Da ist nicht die Rede von einer einzigen Gesellschaft, in der messiasgläubige Juden und Heiden gleichberechtigt zu einem Ganzen zusammengeschmiedet sind, so wie das heute in der Gemeinde der Fall ist; wir kommen darauf noch ausführlicher zurück.

Einer der Punkte, durch den B sich nach Ds Meinung verwirren lässt, ist, dass, als Paulus die gläubigen Heiden „Mitbürger“ nennt, das nicht bedeutet, dass sie „Mitbürger von Israel“ geworden sind. Wir waren in der Tat Fremde hinsichtlich des Bürgerrechtes von Israel, aber das heißt nicht, dass wir nun das Bürgerrecht bekommen hätten. Gott hat uns etwas viel Besseres geschenkt, was auch gläubige Israeliten niemals besaßen (denn die Gemeinde gab es noch nicht): nämlich das Bürgerrecht der Gemeinde oder wenn man so will, das Bürgerrecht im Himmel (Phil 3,20). Bürger von Israel waren wir nie; statt dessen machte Gott uns mit Gläubigen aus dem irdischen Israel selbst zu Bürgern der Gemeinde und zu Bürgern des Himmels. Gott nahm die messiasgläubigen Juden aus dem nicht-messiasgläubigen Israel heraus und Er nahm heidnische Messiasgläubige aus den Heidenvölkern und brachte sie gleichberechtigt zusammen in eine vollkommen neue Gesellschaft: die Gemeinde Gottes. Nicht die heidnischen Gläubigen werden Israel zugefügt, sondern heidnische und jüdische Gläubige werden zusammengefügt zur Gemeinde. Wir sind keine Bürger Israels geworden, sondern Bürger der Gemeinde; nicht „ein Leib“ mit Israel, sondern Gläubige aus Israel und Gläubige aus den Heidenvölkern sind zusammen ein Leib geworden, neben Israel (d.h. dessen ungläubiger Mehrheit). Sieh zum Beispiel 1. Korinther 10,32, wo die Gemeinde Gottes von den Juden einerseits und den Griechen andererseits deutlich unterschieden wird. Früher, im AT, gab es nur Juden und Heiden; nun gibt es „Juden“, „Griechen“ (sprich: Heiden) und (von der Herkunft her jüdische oder heidnische) Glieder der „Gemeinde Gottes“.

Gläubige „aus“ Israel?

Im Vorhergehenden habe ich noch großen Nachdruck auf die Sicht von D gelegt, dass es um jüdische Gläubige aus Israel geht, die nun Glieder der Gemeinde sind und die es zu unterscheiden gilt von „den“ Juden, das heißt von der nicht-messiasgläubigen Mehrheit des jüdischen Volkes. Dies ist sehr wichtig. Vielleicht sagt ein messiasgläubiger jüdischer Leser: „Aber ich gehöre doch immer noch zu Israel! Sie dürfen mich nicht vom jüdischen Volk loslösen!“ Das ist auch in gewissem Sinn berechtigt. Der messiasgläubige Jude Paulus nennt sich selbst immer noch einen Israeliten (Röm 11,1). Die messiasgläubigen Juden werden in Galater 6,16, wie bereits erwähnt, das „Israel Gottes“ genannt, deutlich zu unterscheiden von den messiasbekennenden Gläubigen, nämlich denen aus den Heidenvölkern. Die Tatsache, dass „[in Christus] nicht Jude noch Grieche“ ist (Gal 3,28), bedeutet, dass Juden und Griechen als Sünder von Natur aus vor Gott gleich sind und deshalb genauso abhängig sind von der Erlösung, die in Christus ist, und auch die gleiche Erlösung in Ihm empfangen. Aber es bedeutet bestimmt nicht, dass alle grundsätzlichen und praktischen Unterschiede zwischen Juden und Griechen aufgehoben sind, genauso wenig wie zwischen Mann und Frau oder zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, worüber Galater 3,28 spricht. Paulus blieb bis zum Ende seines Lebens Jude und fühlte sich – wie er sagte – nun verbunden mit „meinen Brüdern, meinen Verwandten nach dem Fleisch“ (Röm 9,3). Beachte bitte: „Verwandten nach dem Fleisch“! Nach dem Geist waren die messiasbekennenden Mitgläubigen seine „Verwandten“ geworden, ob sie nun von den Juden oder von den Heidenvölkern abstammten. Paulus sagt selbst: „Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleisch; wenn wir Christus auch nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir [ihn] doch jetzt nicht mehr [so]. Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung“ (2Kor 5,16.17). Darauf kommt es an. In der neuen Schöpfung sind wir viel tiefer mit unseren messiasbekennenden Mitgläubigen (Juden oder Heiden von der Herkunft her) verbunden als mit unseren Verwandten nach dem Fleisch (Juden oder Heiden). Deswegen brauchte Paulus noch nicht seine Liebe zu Israel zu verleugnen, im Gegenteil; er hoffte gerade, dass viele seiner „Verwandten nach dem Fleisch“ auch „Verwandte nach dem Geist“ würden. Aber einstweilen war seine geistliche Verbindung mit seinen Mitgläubigen aus den Heiden viel tiefer als seine fleischliche Verbindung mit seinen nicht-messiasgläubigen Mit-Israeliten (siehe z.B. Apg 13,45-52; 1Thes 2,14-16).

B tut gut daran, sich mehr Rechenschaft zu geben über die Kluft, die zwischen den nicht-messiasgläubigen und den messiasgläubigen Juden entstanden ist. Ja, ich zögere nicht, das Wort „Kluft“ zu gebrauchen! Ich meine nicht die tragische historische Kluft, die leider dadurch entstanden ist , dass die messiasgläubigen Juden völlig in der „christlichen Kirche“ aufgegangen sind und dadurch ihren „Verwandten nach dem Fleisch“ entfremdet wurden. Das ist eine völlig verkehrte Kluft. Aber diese meine ich auch nicht; ich meine die Glaubenskluft zwischen der großen Mehrheit Israels, die „verstockt“ ist (Röm 11,7.25; 2Kor 3,14.15), und dem messiasgläubigen Teil Israels. Jeder weiß von dieser Glaubenskluft, aber zieht er auch die richtige Konsequenz daraus? Zumindest muss man doch sagen: Die heidnischen Gläubigen sind nicht „einverleibt“ in Israel, sondern „einverleibt“ in das eine Prozent (oder zehn Prozent, wer will es sagen!) messiasgläubiger Juden und bestimmt nicht in das ganze Volk! Wer sagt: „einverleibt in die messiasgläubigen Juden“ geht schon einen Schritt weiter. Aber es ist noch lange nicht gut genug, denn es erweckt immer noch den Eindruck, dass die Gläubigen aus den Heiden „Juden“ (und auch: messiasgläubige Juden) geworden sind.

Kürzlich noch hörte ich einen Prediger von heidnischer Herkunft tatsächlich behaupten, dass er ein „messiasbekennender Jude“ geworden wäre! Nun sollen wir nicht an allem herummäkeln. Vielleicht will jemand ja damit nichts anderes sagen als: „Die Gläubigen aus den Heidenvölkern sind in die messiasgläubigen Juden einverleibt in dem Sinne, dass sie mit ihnen ein Leib, ein Volk Gottes geworden sind.“ Wenn das jemand so sagt, hat D keinen Einwand, besser ist es jedoch einzusehen, dass „einverleiben in“ durchaus nicht dasselbe ist wie „ein Leib geworden mit“. „Einverleiben“ bedeutet wortwörtlich, dass die Gläubigen aus den Heidenvölkern „messiasgläubige Juden“ geworden sind, und das sind sie entschieden nicht. Epheser 2 lehrt, dass messiasgläubige Juden und messiasgläubige Heiden gemeinsam etwas völlig Neues geworden sind, nämlich der Leib des Messias. Worum es nun D geht, ist, dass die messiasgläubigen Juden ganz bestimmt Ernst machen mussten mit ihrem Glaubensbruch hinsichtlich der ungläubigen Mehrheit Israels, um gemeinsam mit den messiasgläubigen Heiden dieses völlig Neue bilden zu können. Wo messiasgläubige Juden so oft (an und für sich völlig zu Recht!) ihre althergebrachte Verbundenheit mit dem ganzen jüdischen Volk betonen, da müssen sie ebenso sehr lernen, Ernst mit dem (vorübergehenden) Glaubensbruch in Bezug auf Israel zu machen. Dies möchte ich gerne anhand von einigen Schriftstellen deutlich machen.

Der „Beweis“ aus der neutestamentlichen Geschichte

Johannes 10

Zuerst verweise ich auf Johannes 10, wo der Herr Jesus sich als der gute Hirte seines Volkes vorstellt. Bei der Auslegung macht B nach Ds Ansicht den Fehler, aus Vers 16 („eine Herde, ein Hirte“) zu folgern, dass die Gläubigen aus den Heidenvölkern durch Israel einverleibt wurden. Aber dann wird B doch erst beweisen müssen, dass Israel diese „eine Herde“ ist! Das ist nicht zu beweisen, im Gegenteil, der Text lehrt etwas ganz anderes. Israel dürfen wir in Johannes 10 nicht in der „einen Herde“ suchen, sondern in dem Begriff „Schafstall“ (Luther), „Schafhürde“ (Schlachter 2000), „Hof der Schafe“ (Elberfelder). Jesus Christus kommt zu diesem Schafstall, und was macht Er? Er „ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie heraus“ (Joh 10,3). Zuerst werden hier seine eigenen Schafe von den anderen Schafen im Stall unterschieden, nämlich den unbekehrten Israeliten zu seiner Zeit. Zum Zweiten werden seine Schafe aus dem Stall geführt. Der Herr Jesus beschreibt dies so, weil gerade zuvor der Blindgeborene aus der Synagoge geworfen worden war (Joh 9,34). Nun sagt der Herr Jesus gleichsam: „Das ist auch genau das, was Ich selbst tun werde.“ Für die messiasgläubigen Juden ist kein Platz mehr in „der Synagoge“ (im traditionellen Judentum). Aber der Herr führt seine Schafe heraus und vereinigt sie mit seinen „anderen Schafen, die nicht aus diesem Stall [Israel] sind“ (Joh 10,16). So wird es eine Herde, und die ist nicht Israel, sondern die Gesamtheit der Schafe, die soeben aus dem Stall Israel herausgeführt wurde, plus die „anderen Schafe“ aus den Heidenvölkern. Es stellt sich heraus, dass Johannes 10 damit im Kern das Gleiche lehrt wie Epheser 2: Die eine Herde ist der eine Leib des Messias, zu dem sowohl messiasgläubige Juden (die aus dem Stall Israel herausgeführt worden sind) als auch messiasgläubige Heiden gehören.

Weil dieser Punkt so wichtig ist, verweise ich noch auf einige Einwände, die gegen diese Auslegung von Johannes 10 angeführt werden. Man verweist zum Beispiel auf Vers 9, wo der Herr Jesus doch sagt: „Wenn jemand durch mich hineingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden“ (Joh 10,9). Nun, man argumentiert dann: Hier sagt der Herr doch selbst, dass diejenigen, die an Ihn glauben, in den Schafstall hineingehen! Wenn man jedoch so argumentiert, hat man offenbar nicht bemerkt, dass ab Vers 7 die Bildersprache verändert ist. In den Versen 1-6 ist Christus der Hirte, aber nicht die Tür zum Schafstall (1Joh 10,1-6). Die Tür ist der Zugang zu Israel. Der Messias ist durch sein Kommen in die Welt selbst durch die Tür nach Israel gekommen; beim Türhüter in Vers 3 können wir an Johannes den Täufer oder an Gott selbst denken Joh 10,3). Aber durch dieselbe Tür, durch welche Er selbst durch seine Menschwerdung nach Israel gekommen ist, ruft Er seine eigenen Schafe (nicht die ungläubigen Schafe der falschen Hirten von Israel!) heraus, das heißt aus Israel, genauso wie der Blindgeborene in Johannes 9 gleichsam von den falschen Hirten durch die „Tür“ von Israel nach draußen geworfen wurde.

In den Versen 7-10 gebraucht der Herr das Bild von der Tür jedoch ganz anders (Joh 10,7-10). In diesem Abschnitt ist Er selbst die Tür zu den Schafen. Er führt seine Schafe nicht nur aus dem Stall Israel heraus, sondern Er ist gleichzeitig die „Tür“ zu etwas ganz Neuem, was in Vers 16 als die „eine Herde“ von messiasgläubigen Juden und Heiden umschrieben wird. Zu meinen, dass Vers 7 bedeuten könnte: „Ich bin die Tür zu Israel“, oder in Vers 9: „Wenn jemand durch mich nach Israel hineingeht“, widerspricht dem ganzen Geist dieses Kapitels, ja des Johannesevangeliums. Der Herr Jesus spricht hier wohlgemerkt zu Juden, also Menschen, die längst im Stall Israel waren. Der Kern dieser Ausführung ist hier nicht, wie jemand nach Israel hineinkommen kann, sondern vielmehr wie ein Jude zum Messias kommen kann; dann wird er sich vom Messias aus dem Stall des ungläubigen Israels herausrufen lassen. Erst in Vers 16 wird von „anderen Schafen“ gesprochen, das heißt (so wie es jeder akzeptiert) von den messiasgläubigen Heiden (Joh 10,16). Aber auch von diesen lesen wir nicht, dass sie in den Stall von Vers 1 gebracht werden. Sie werden „hinzugefügt“, ja; aber man verfehlt den Kern des Kapitels, wenn man sie in den Stall bringen will. Wohin diese Heiden gebracht werden, das ist das ganz Neue, worauf der Herr Jesus in Vers 9 anspielt: Er ist die „Tür“ zu einem Platz ewiger „Bewahrung“, „Weide“ und „ewigen Lebens“ (Joh 10,9.27.28). Außerhalb der Synagoge findet der jüdische Blindgeborene den Herrn Jesus, den Sohn des Menschen (Joh 9,34-36), am selben geistlichen Ort des Segens, zu dem später auch die messiasgläubigen Heiden gebracht werden. Dies ist der „Ort“, der vor allem im ersten Brief des Johannes näher umschrieben wird: der Ort der Gemeinschaft miteinander, das heißt mit dem Vater und dem Sohn, der Ort wahrer Bruderliebe, praktischer Gerechtigkeit, des neuen Lebens, das wir im Sohn besitzen dürfen, usw. Wie kann jemand diesen Ort jemals mit Israel gleichsetzen, das nichts von dieser besonderen Gemeinschaft und des ewigen Lebens jemals gekannt hat?

Apostelgeschichte 2

Diese Auslegung von Johannes 10 – die Notwendigkeit, aus Israel „herausgeführt“ zu werden – wird nach der Meinung von D durch Apostelgeschichte 2 klar bestätigt. Tausende werden durch die Predigt des Petrus in ihren Herzen getroffen und fragen ihn: „Was sollen wir tun, ihr Brüder?“ (Apg 2,37). Die Antwort des Petrus ist bekannt: „Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen“ (Apg 2,38), aber auch: „Lasst euch retten aus diesem verkehrten Geschlecht“, d.i. aus der ungläubigen Mehrheit Israels (Apg 2,40). Petrus hatte früher zu „dem ganzen Haus Israel“ gesagt: „Jesus … habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an [das Kreuz] geschlagen und umgebracht“ (Apg 2,23). Darum sollten die Juden nicht nur an diesen Jesus glauben, sondern sich zugleich abwenden von dem verkehrten Geschlecht, das Jesus getötet hatte. Durch die Taufe (lies dazu, wie Vers 40 direkt auf Vers 39 folgt!) brachten sie selbst den Bruch zustande und lösten sich von dem „verkehrten Geschlecht“, zu dem sie einst auch selbst gehört hatten.

Was die Taufe betrifft, geht es nicht an, zu behaupten (wie es einige messiasgläubige Juden tun), dass die „Taufe“ eine ganz normale jüdische Angelegenheit ist. Diese Taufe in Apostelgeschichte 2 war etwas völlig Ungewöhnliches, sogar revolutionär! Die Juden kannten in der Tat die sogenannte Proselytentaufe (Mikwah, die übrigens auch das Reinigungsbad für kultisch unreine Juden ist), und es ist nichts dagegen zu sagen, dass die neutestamentliche Taufe historisch praktisch darauf zurückgeht. Aber die Proselytentaufe war nun gerade für Heiden bestimmt, die zum Judentum übertreten wollten, während hier in Apostelgeschichte 2 gerade Juden getauft werden mussten, um sich „von“ diesem verkehrten Volk zu reinigen. Die Proselyten reinigten sich durch ihre Taufe gleichsam von ihrem Heidentum, so dass sie Israel beitreten konnten, und kultisch unreine Juden, die der Gemeinschaft mit dem ganzen Volk beraubt waren, reinigten sich, um wieder mit dem Volk Gemeinschaft haben zu können. Aber die messiasgläubigen Juden in Apostelgeschichte 2 mussten sich durch die Taufe nicht nur von ihrer eigenen Verkehrtheit, sondern auch von dem verkehrten Geschlecht, zu dem sie gehört hatten, reinigen. Durch die Mikwah trat ein Jude wieder der kultisch reinen Gemeinschaft Israels bei; durch die Taufe in Apostelgeschichte 2 machte ein Jude sich von der Gemeinschaft mit Israel los, gerade deshalb, weil diese Gemeinschaft als Ganzes unrein geworden war. Damit war diese Taufe keine Art Fortsetzung der Mikwah, sondern in gewissem Sinn genau ihr Gegenteil. Dies betreffend haben die nicht-messiasgläubigen Juden die „Wirkung“ der Taufe besser verstanden als B. Wenn ein messiasgläubiger Jude sich taufen lässt, hält seine Familie, falls sie orthodox ist, eine Beerdigungsmahlzeit und sagt sich vom „abtrünnigen“ Familienmitglied los. Dieses gehört nicht länger zu Israel! Und das alles, während B, der sich taufen lässt, nun gerade meint, durch die Taufe Israel beitreten zu können!

Natürlich geht D nicht so weit, zu behaupten, dass Juden, die sich taufen lassen, aufhören Israeliten zu sein; im Gegenteil, messiasgläubige und getaufte Juden bilden gerade das wahre Israel Gottes (Gal 6,16). Sie sind das, was Petrus „ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum“ nennt (1Pet 2,9). Sie stellen in der heutigen Haushaltung das wahre Israel dar, so wie Gott es gemeint hat. Andererseits jedoch bilden sie nur einen äußerst kleinen Bruchteil von Israel. Das müssen wir ganz realistisch sehen, denn dann erschrecken wir auch nicht über die Tatsache, dass Paulus, als er ganz allgemein über Israel spricht, manchmal einfach dieses nicht-messiasgläubige, verhärtete Israel meint: „Israel aber, das einem Gesetz der Gerechtigkeit nachstrebte, ist nicht zum Gesetz gelangt. Warum? Weil es nicht aus Glauben, sondern als aus Werken [geschah]“ usw. (Röm 9,31.32). Somit sagt Paulus tatsächlich einerseits: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das ist ausgeschlossen! Denn auch ich bin ein Israelit … So ist nun auch in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Auswahl der Gnade entstanden“ (Röm 11,1.5). Dann spricht Paulus also über das wahre Israel Gottes (vgl. Röm 9,6; Gal 6,16). Aber das ist nur ein kleines „Überbleibsel“; und darum kann er verallgemeinernd ebenso gut sagen: „Sie [d.h. die verhärtete Mehrheit Israels] haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes“ (Röm 9,32). Auf genau die gleiche Weise sagt Paulus einerseits: „Einige der Zweige [sind] herausgebrochen“, jedoch ein paar Verse weiter: „Gott [hat] die natürlichen Zweige nicht geschont“ (Röm 11,17.21). Das erste Mal scheint es, als ob es nur um einen kleinen Teil der Zweige geht, das zweite Mal, als ob es um alle Zweige geht. Beide Male meint Paulus: die große Mehrheit der natürlichen Zweige. Weil 90 bis 99 Prozent von Israel verhärtet ist, nennt Paulus es gewöhnlich „Israel“, ohne immerzu an den 1 bis 10 Prozent Überrest zu erinnern.

„Beiseitestellung“?

Wenn Paulus manchmal (begreiflicherweise) so verallgemeinernd spricht, ist es doch auch nicht so schrecklich, wenn man, genau wie Paulus, sagt: „Israel“ hat den Messias verworfen, Israel ist darum von Gott in seinen Heilswegen für eine Zeit beiseitegestellt worden; vorausgesetzt man meint dann nur, genau wie Paulus, dass es

  1. streng genommen nur um die nicht-messiasgläubige Mehrheit von Israel geht
  2. auch heute einen Überrest nach Wahl der Gnade gibt: das „Israel Gottes“
  3. „beiseitegestellt“ nicht bedeutet, dass Israel erledigt ist.

Es steht allerdings über dem Volk Lo-Ammi (Nicht-mein-Volk) geschrieben (Hos 1,9), aber dies ist nicht endgültig (Hos 2,1) und ist deshalb ebenso wenig als absolut zu sehen wie ein Vater, der seinen Sohn (zeitweise) verstößt; das Abstammungsverhältnis zum Sohn kann er dadurch doch nicht rückgängig machen. Auch wenn Gott die ungläubige Mehrheit Israels „beiseitegestellt“ hat, dann ist das nur zeitweise, nämlich bis zu dem Augenblick, wenn die Verstockung aufgehoben wird und ganz Israel errettet wird (Röm 11,25.26). „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29). Gott hat sein Volk in seine Handflächen eingezeichnet (Jes 49,16), und nichts oder niemand kann sie daraus ausradieren.

Es ist wichtig, die praktischen Konsequenzen dieser „Beiseitestellung“ noch etwas genauer zu betrachten. Es bedeutet, dass nicht das natürliche Israel als solches (die Gesamtheit von messiasgläubigen und -ungläubigen Juden), sondern die Gemeinde (die Gesamtheit von messiasgläubigen Juden und Heiden) in Gottes heutigen Regierungswegen an erster Stelle steht. Diese letzte Gemeinschaft ist das, was Gott in der jetzigen Heilszeit formal als sein „Volk“ bezeichnet (Tit 2,14). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Israel nach Gottes Ratsbeschluss das uralte Volk Gottes ist und bleibt, sein „Augapfel“ (Sach 2,12). Israel (d.h. seine ungläubige Mehrheit) gilt in der jetzigen Heilszeit zwar als „verstockt“, „verworfen“, „herausgebrochen“ und „gefallen“ (Röm 11,7.8.15.17.19.22.25; 2Kor 3,16). Heute muss jedoch der messiasgläubige Jude auf das Rufen des Herrn Jesus immer noch den „Stall“, den „Hof“ (die Schafshürde) verlassen und muss durch die Taufe ausdrücken, dass er sich aus dem verkehrten Geschlecht (die verstockte Masse Israels) retten lassen will. Das ist die bezeichnende Stellung des messiasgläubigen Juden in der jetzigen Heilszeit. Nicht die messiasgläubigen Heiden werden einverleibt in Israel, nicht einmal in den messiasgläubigen Teil Israels; auch wird der messiasgläubige Jude nicht einverleibt in irgendeine „Kirche der Heiden“, so wie das früher so oft mit „christianisierten“ (d.h. „zu Heiden gemachten“) Juden geschehen ist. Nein, der messiasgläubige Jude wird aus dem verkehrten Geschlecht, von dem er abstammt, errettet, um daraufhin mit dem messiasgläubigen Heiden, der genauso nachdrücklich das verkehrte Heidentum hinter sich gelassen hat, zu einem Leib vereinigt zu werden. Der messiasgläubige Jude wird kein „Gojim“ und der messiasgläubige Heide wird kein Jude; beide werden im Augenblick ihrer Bekehrung „einverleibt“ in die Gemeinde Gottes. Wer zum Glauben an den Herrn Jesus kommt, gehört nicht mehr zu „den“ Juden (d.h. zu der nicht-messiasgläubigen Mehrheit) ebenso wenig zu „den“ Griechen (d.h. zu der nicht-messiasgläubigen Mehrheit), sondern zur Gemeinde Gottes (vgl. 1Kor 10,32).

Der „Beweis“ aus Römer 11

Der Ölbaum

Mit dem Vorhergehenden ist jedoch nicht alles gesagt. Denn wo bleibt die Tatsache, dass Israel der älteste Bruder ist und einen besonderen Platz einnimmt? Ist das heute nicht mehr so? Ein Beispiel: In Christus ist nicht Mann und Frau (Gal 3,25); doch in der christlichen Ehe soll die Frau durchaus dem Mann untertan sein (Eph 5,22-24). In Christus ist nicht Sklave noch Freier (Gal 3, 28); doch im Arbeitsverhältnis soll der gläubige Sklave durchaus seinem (gläubigen oder ungläubigen) Herrn gehorsam sein (Eph 6,5-8; Kol 3,22-25; 1Tim 6,1-1; Tit 2,9.10; 1Pet 2,18-20). Im konkreten, alltäglichen Leben gibt es also durchaus Unterschiede. So ist in Christus auch nicht Jude noch Grieche; aber im konkreten Gemeindeleben wird der Gläubige aus den Heidenvölkern ganz bestimmt das Jude-Sein des messiasgläubigen Juden respektieren und ihn als älteren Bruder anerkennen. Wer bedenkt, dass der Herr Jesus selbst gesagt hat, dass „das Heil aus den Juden“ ist (Joh 4,22) – weil der Heiland ja ein Jude ist! –, kann und darf die Stellung und die Bedeutung von Israel auch in der heutigen Heilszeit niemals unterschätzen oder sogar missachten. Oder gilt das „erst der Jude, dann der Grieche“ etwa nicht mehr (Röm 1,16; 2,9.10)?

Noch deutlicher wird dies in Römer 11,16-24, wo Paulus über den Ölbaum spricht. Dieser Bibelabschnitt scheint eine Beweisstelle für die Behauptung zu sein, dass Gläubige aus den Heidenvölkern in Israel „einverleibt“ sind; oder, wenn man es mit dem Sprachgebrauch von Römer 11 sagen will, in Israel „eingepfropft“. Um diese Behauptung zu beweisen, muss B davon ausgehen, dass der Ölbaum Israel ist. Die wilden Zweige, die in diesen Baum eingepfropft werden, sind dann die Gläubigen aus den Heidenvölkern, die in Israel einverleibt werden. Aber geht aus Römer 11 wirklich hervor, dass der Ölbaum Israel ist? Zumindest meint D, dass dieser Gedanke ungenau ist. Ja, Israel wird hier nicht durch den Baum als solcher dargestellt, sondern durch die Zweige. Die „natürlichen“ Zweige in Römer 11,21 und 24, dies sind die Israeliten. Sie (d.h. die nicht-messiasgläubigen Israeliten) sind aus dem Baum herausgeschnitten – aber dann kann der Baum selber doch nicht Israel darstellen? Hier steht doch nicht, dass Israel aus Israel herausgeschnitten worden ist? Nein, der Ölbaum mit seiner Fettigkeit (Röm 11,17) ist die ganze Ordnung von Gottes Zusagen und Segnungen, so wie Er sie im AT Israel gegeben, aber auch allen gläubigen Heiden zugesagt hat. Mit der „Wurzel“ sind wahrscheinlich die Zusagen an die Erzväter gemeint (vgl. Röm 11,28: „hinsichtlich der Auswahl [sind sie] aber Geliebte um der Väter willen“; siehe auch Jes 51,1.2).

Die natürlichen Zweige am Baum sind also die Israeliten, die durch ihre Erwählung als Volk Gottes „von Haus aus“ an den Segnungen und den Verheißungen der Väter Anteil haben. Aber dieser Segen kann nur aufgrund des Glaubens an den Herrn Jesus wirklich ihr eigener Segen werden. Darum ist die große Mehrheit der Israeliten Gottes Segen beraubt, weil die meisten ihren Messias nicht angenommen haben. Sie sind daher von Gott aus dem Baum herausgeschnitten worden. An diese Stelle hat Er wilde Olivenzweige eingepfropft: Gläubige aus den Heidenvölkern haben an den Verheißungen an die Väter Anteil bekommen, weil sie an den Messias – in dem die Zusagen erfüllt werden – zu glauben gelernt haben. Sie werden durch die „Wurzel“ getragen (Röm 11,18), das heißt, sie sind Abrahams geistliche Nachkommenschaft (Röm 4,11.12.16), Söhne und Erben Abrahams, Kinder der Verheißung (Gal 3,7.29; 4,28), wodurch sie Rechtfertigung (Gal 3,6.11.24) und Leben aus Gott (Gal 3,12.21) empfangen haben. Ich füge noch hinzu, dass Paulus schon implizit darauf verweist, dass einmal auch die natürlichen Zweige nicht „im Unglauben bleiben“ werden, sondern „wieder“ „eingepfropft“ werden (Röm 11,23.24), um dann explizit zu enthüllen, dass einmal „ganz Israel“ „errettet werden“ wird (Röm 11,26). Worum es jedoch geht, ist, dass auch Römer 11 nicht lehrt, dass die Gläubigen aus den Heidenvölkern in Israel „einverleibt“ werden, sondern vielmehr lehrt, dass die messiasgläubigen Heiden an denselben Segnungen, die auch die messiasgläubigen Juden genießen, Anteil bekommen, und zwar kraft der Verheißungen an die Erzväter. Die verstockte Mehrheit von Israel ist durch ihren Unglauben dieser Segnungen jedoch beraubt ist. Die Gläubigen aus den Heidenvölkern bekommen Anteil an denselben Zusagen wie die gläubigen Juden; das ist etwas ganz anderes, als in Israel einverleibt zu werden. Die ausländischen Arbeitnehmer, die sich in den Niederlanden niedergelassen haben, genießen dieselben sozialen Vorrechte wie die Niederländer [der Verfasser ist Niederländer]; aber es ist noch etwas ganz anderes, wenn diese Gastarbeiter auch die niederländische Nationalität bekämen.

Der Unterschied zu Epheser 2

Wir sollten übrigens achtgeben, dass wir hier nicht ganz – oder ganz und gar nicht – dasselbe finden wie in Epheser 2. Die Tatsache, dass einmal alle Geschlechter der Erde in Abraham und seinem Samen gesegnet werden, war ja kein Geheimnis; es war nichts Neues, sondern bereits viele Male im AT betont worden. Außerdem war diese Verheißung auch vor dem Kommen des Herrn Jesus bereits viele Male in Erfüllung gegangen, wenn auch nicht in solch gewaltiger Weise wie jetzt. Zudem werden auch im messianischen Friedensreich die Geschlechter auf Erden wieder in Abraham und seinem Samen gesegnet werden. Aber das Geheimnis von Epheser 2 und 3 geht weit darüber hinaus.

Dies ist ein ganz wesentlicher Punkt! Wie schade, wenn man „die Söhne Abrahams“ nur unvermittelt mit der „Gemeinde“ gleichsetzt. Was wir als Söhne Abrahams besitzen, das ist Rechtfertigung durch Glauben und Leben aus Gott (Gal 3,6.11.12.21.24); was wir darüber hinaus als Gemeinde besitzen, ist das Einswerden mit dem verherrlichten Menschen zur rechten Hand Gottes und die ewige Innewohnung des Heiligen Geistes. Nichts in der Schrift gibt mir das Recht, die These aufzustellen, dass auch Abraham selbst einmal diese Segnungen besitzen würde! Deshalb kann zum Beispiel von Johannes dem Täufer gesagt werden, dass er der Größte von allen von Frauen Geborenen war, während doch der Geringste in der neuen Haushaltung (dem Königreich der Himmel) größer sein wird als er (Mt 11,11) – und dann sprechen wir vom Königreich, noch nicht einmal von der Gemeinde! Nicht nur deswegen sind wir Söhne Abrahams und Kinder der Verheißung, sondern in der jetzigen Heilszeit bereitet Gott den Leib Christi zu, in dem messiasgläubige Heiden in Abraham und seinem Samen nicht nur gesegnet werden, sondern in dem sie mit den messiasgläubigen Juden gleichberechtigt einsgemacht werden zu „einem neuen Menschen“:

  • Zusammen mit messiasgläubigen Juden sind sie Bürger – nicht Israels, sondern der Gemeinde (vgl. Phil 3,20).
  • Zusammen mit den messiasgläubigen Juden sind sie Hausgenossen – nicht im Haus Israel, sondern im Haus Gottes (Eph 2,19-22; 1Tim 3,15; 1Pet 2,5; Heb 3,6; 10,21).
  • Zusammen mit den messiasgläubigen Juden sind sie Erbgenossen – nicht der irdischen Welt, sondern der himmlischen Welt, der himmlischen Örtern (Eph 1,3; 2,4-6; 3,10; Kol 1,12.13; Tit 3,7; 1Pet 1,4).
  • Zusammen mit den messiasgläubigen Juden sind sie einverleibt – nicht in Israel, sondern in den Leib Christi (Eph 1,23; 2,16; 4,4.12.16; 5,23.30-32; Kol 11,18.24-27; 2,19; 3,15).
  • Zusammen mit den messiasgläubigen Juden sind sie Teilhaber der Verheißung – nicht (nur) der Verheißung an die Erzväter, sondern (auch z.B.) der Verheißung des ewigen Lebens (Tit 1,2; 1Joh 2,25).

Die ganz besondere Stellung des Leibes Christi, von wenigen erkannt und dennoch von Paulus so klar und deutlich dargelegt, sollte wieder neu Beachtung finden. Jedoch sollte dies sicher nicht auf Kosten der besonderen Bedeutung Israels gehen, auch für die messiasgläubigen Heiden! Diese sind Söhne des Hebräers Abraham, seine geistliche Nachkommenschaft. Sie sind eingepfropft in den Baum von Israels Verheißungen und Segnungen. Das Heil ist aus den Juden, und es ist an erster Stelle auch für die Juden. Niemals darf der messiasgläubige Heide sich darum „rühmen“ „gegen die [natürlichen] Zweige“ (Röm 11,18). Welcher messiasgläubige Heide könnte jemals vergessen, dass derjenige, in dem und durch den wir alle Heil empfangen haben, Jesus Christus, der Sohn Abrahams, der Sohn Davids, ja der Sohn Israels ist: „… aus denen [Israel] dem Fleisch nach der Christus ist, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit. Amen“ (Röm 9,5).


Übersetzt aus Israël en de Kerk, oftewel: Eén of twee volken van God? Confrontatie van de verbondsleer en de bedelingenleer, Vaassen (Medema) 1991

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