Freier Wille des Menschen?
Ein Brief von John Nelson Darby

John Nelson Darby

© bibelpraxis.de, online seit: 24.09.2014, aktualisiert: 14.11.2023

Lieber Bruder,

ich habe gerade deine Bemerkungen erhalten und schreibe eine Antwort. Wir benutzen Worte so ungenau, dass man Erklärungen abgeben muss, um nicht in endlose Diskussionen zu verfallen.

Wenn wir von „frei“ und „können“ sprechen, dann werden meistens die Abwesenheit von Zwang und die Anwesenheit von Stärke miteinander verwechselt. Ich sage zum Beispiel: „Jeder kann zur Zusammenkunft kommen“, und ich meine damit, dass sie für jeden offen ist. Aber ich muss hören: Das ist nicht wahr, denn der und der hat sich ein Bein gebrochen und kann nicht kommen.

Ich nehme ein einfaches Beispiel, um zu zeigen, was ich meine. Wenn der Herr also sagt: „Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht“ (Joh 6,44), dann ist es nicht so, dass Gott jemand aufhält oder hindert, sondern dass der Mensch in seinem Eigenwillen so böse und verdorben ist, dass er nicht kommen kann (er hat niemals den moralischen Drang dazu), wenn nicht eine Macht, die außerhalb von ihm selbst liegt, auf ihn einwirkt. Was Gott angeht, so ist der Mensch heute völlig frei zu kommen, und er wird zum Kommen eingeladen, ja angehalten. Das kostbare Blut Christi ist ja auf dem Sühndeckel, so dass die moralische Schwierigkeit durch Gottes eigene Gnade im Blick auf den Heiligen, der einen Sünder annimmt, weggenommen worden ist. In diesem Sinn ist er völlig frei zu kommen.

Aber dann gibt es da noch die andere Seite: des Menschen Eigenwille und sein Zustand. Er will nicht kommen, sondern genau das Gegenteil. Das Leben ist in Christus. „Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt“ (Joh 5,40). „Alles ist bereit; kommt zur Hochzeit“ (Mt 22,4). „Sie fingen alle ohne Ausnahme an, sich zu entschuldigen“ (Lk 14,18). Der Mensch möchte nicht bei Gott sein. „Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht“ (Röm 3,11). „Warum bin ich gekommen, und kein Mensch war da, habe gerufen, und niemand antwortete?“ (Jes 50,2). „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott“ (Röm 8,7). Die Kreuzigung des Herrn ist der Beweis dafür, dass der Mensch Gott nicht haben wollte, als Er in Gnade kam und sogar aus vorhandenen Nöten befreite. „Für meine Liebe feindeten sie mich an“ (Ps 109,4). „Sie haben mich ohne Ursache gehasst“ (Joh 15,25). „Jetzt haben sie gesehen und doch gehasst sowohl mich als auch meinen Vater“ (Joh 15,24). Und der Herr gibt den Grund an. Wie groß auch seine Liebe war (und sie war unendlich und vollkommen) – Gott ist genauso Licht, wie Er Liebe ist; aber „die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht“ (Joh 3,19). Sie verwarfen eine Liebe, die ihren Stolz demütigte, und sie verachteten ein Licht, das ihr Gewissen in Tätigkeit setzte. Von nun an heißt es: „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,12.13).

In Bezug auf den gegenwärtigen Zustand des Menschen ist es schlichtweg Unsinn, von Freiheit zu reden, wenn er schon der Sünde zugeneigt ist. Wenn ich ihm zugestehe, dass er mehr als frei ist zu kommen, wenn ich ihn mit den besten Motiven einlade und flehentlich bitte, da alles bereit ist: Alles beweist nur, dass er nicht will und dass kein Beweggrund ihn dazu veranlassen kann. Ich habe noch einen Sohn, sagt Gott, aber das ist jetzt vorbei. [Die Prüfung des Menschen ist nämlich seit dem Kreuz beendet.] Wenn man sagt, dass er [der Mensch] nicht zum Bösen strebt, muss man die ganze Bibel und alle Fakten leugnen. Wenn man aus ihm jemand macht, der frei wählen kann, dann muss er bisher gleichgültig gewesen sein, gleichgültig (d.h. keine Sache vorziehend) gegenüber Gut und Böse, was aber nicht wahr ist, denn böse Lust und Eigenwille, die beiden großen Charakterzüge der Sünde, sind vorhanden, und wenn es [d.h. die Behauptung, dass der Mensch frei wählen kann] wahr wäre, dann wäre es ganz entsetzlich. Aber es geht sogar noch weiter. Wenn er das Gute will, ist das Böse bei ihm vorhanden [Röm 7,21]. Wie er das Gute vollbringen soll, weiß er nicht.

Es gibt ein Gesetz in seinen Gliedern, das ihn in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde in seinen Gliedern [Röm 7,23]. Es gibt, Gott sei Dank, zweifellos eine Befreiung, Befreiung durch einen anderen. Aber Befreiung ist nicht Freiheit, sondern [Befreiung ist] das, was durch einen anderen gewährt und bewirkt wird; denn durch Erfahrung und unter göttlicher Belehrung habe ich gelernt, dass ich nicht frei bin und mich nicht selbst befreien kann. In Römer 6, wo diese Frage in ihren Ursachen behandelt wird, werden wir befreit, indem wir tot sind; die Adamsnatur ist mit Christus gekreuzigt. Dann erst (aber nicht vorher) kann er sagen: „Stellt euch selbst dar“ (Röm 6,13.19): Das ist ein gesegneter und wahrer Grundsatz, wenn ich dafürhalte, dass ich der Sünde tot bin, Gott aber lebend – nicht in Adam, sondern in Jesus Christus unserem Herrn (Röm 6,11). Das wird in Römer 8,2.3 zusammengefasst: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ Bevor ich Christus hatte, war ich also noch nicht frei. Und er fügt hinzu: „Das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte“ (Röm 8,3).

Freiheit ist die Frucht der Befreiung durch Christus. Zuerst: Im Tod Christi ist der alte Mensch, die Sünde im Fleisch, für den Glauben tot; wir sind mit Christus gekreuzigt und ich habe Leben in der Kraft des Geistes in Christus; jetzt bin ich frei. Aber die Tatsachen über den Zustand des Menschen und die Geschichte seiner Verantwortlichkeit nach der Schrift stellen diese Sache auf eine völlig andere Basis.

Doch zunächst zu der Geschichte [des Sündenfalls], die die Tatsachen seines Zustandes noch deutlicher zeigen werden. Die Ratschlüsse Gottes beruhten immer auf dem zweiten Adam, nicht auf dem ersten. Die erste Verheißung wurde ebenfalls dem Samen der Frau gegeben [1Mo 3,15], nicht Adam, der nicht [dieser Same] war. Der Same der Frau sollte die Macht Satans zerstören, so wie Adam ihr erlegen war. Alle Verheißungen sind entweder Christus gemacht worden oder Israel als auserwähltem Volk oder Abraham und seinen Nachkommen; [Verheißungen sind nie] dem Menschen als solchen gemacht worden. Aber beim ersten Adam [im Garten Eden] begann Gott mit der Verantwortung und nicht mit einem Ratschluss oder einer Verheißung. Und diese Verantwortung wurde in jeder Hinsicht vollkommen herausgestellt (ich meine jetzt nach dem Sündenfall), und zwar ohne Gesetz, unter Gesetz und nach den Propheten durch das Kommen Christi in Gnade nach der Schrift. „Da er nun noch einen geliebten Sohn hatte, sandte er ihn als Letzten zu ihnen“ (Mk 12,6). Die Verantwortung des Menschen wurde also vollkommen ans Licht gestellt, und der Herr sagt: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt“ (Joh 12,31).

Stephanus fasst das zusammen, indem er (in Apostelgeschichte 7,51-53) sagt: „Ihr habt das Gesetz durch Anordnung von Engeln empfangen und nicht beachtet. … Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten zuvor verkündigten, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid … Ihr widerstreitet allezeit dem Heiligen Geist; wie eure Väter, so auch ihr.“ Und einer, der voll Heiligen Geistes war [nämlich Stephanus], geht daraufhin in den Himmel, und das Schicksal der Erde ist besiegelt. Aber man wird sagen: Ja, aber der Tod Christi hat eine neue Basis der Verantwortung geschaffen. Das hat er tatsächlich, aber [er tut es], indem er den Mensch auf die Grundlage gestellt hat, dass der Mensch schon völlig verloren ist und dass, als wir noch kraftlos waren, Christus für Gottlose gestorben ist [Röm 5,4]. Nur gibt es keinen, der will, keinen, der verständig ist [Röm 3,11], keinen, der antwortet [Jes 50,2]. Wir können uns selbst kein göttliches Leben geben oder uns selbst für Gott zeugen (gebären).

Kein Zweifel: Die Tür ist frei geöffnet und das Blut ist auf dem Sühndeckel, aber das ist der abschließende Beweis dafür, dass der Mensch nicht kommen will, wenn er es (im Blick auf Gott) auch könnte; und Gott hat bewiesen, dass keinerlei Beweggründe ausreichen, um den Menschen herzulocken: Er muss völlig von neuem geboren werden. Die Geschichte der Bibel handelt davon, dass Gott alle Mittel und Beweggründe einsetzte, aber das Ergebnis war die Verwerfung seines Sohnes und das Gericht. Der Fall Adams war etwas anderes, denn Begierde und Eigenwillen waren [damals im Garten Eden] noch nicht vorhanden: Der Mensch war noch nicht einem Gesetz der Sünde in seinen Gliedern unterworfen; Sünde war noch nicht da und man brauchte auch noch keine Befreiung. Er lebte in Unschuld in Verbindung mit Gott. Gott hat ihn freilich nicht zurückgehalten, Ihn zu verlassen und ungehorsam zu sein; sein Gehorsam wurde getestet; es ging nicht darum, in einem Zustand, nachdem man böse geworden war, zu Gott zu kommen. Das Verbot war ein reiner Test des Gehorsams, und die Tat [des Essens vom Baum der Erkenntnis] wäre ein Sache der Unschuld gewesen, wenn sie nicht verboten gewesen wäre. Es gab bis dahin noch kein Gewissen in dem Sinn, dass der Mensch selbst den Unterschied zwischen Gut und Böse gekannt hätte. Er musste einfach dort bleiben, wo er war, und durfte nicht ungehorsam sein. Es gab nichts, was ihn hinderte, weder in ihm selbst noch (was ich hoffentlich nicht betonen muss) in Gott; hierin war er frei: Sein Fall bewies nicht etwa, dass das Geschöpf böse war; sondern [der Sündenfall bewies], dass es [das Geschöpf] dem Bösen nicht standhalten konnte, wenn es sich selbst überlassen blieb. Aber in diesem Zustand [im Garten Eden], wo das, was der Mensch zu tun hatte, um auf dem rechten Weg zu bleiben, so weit weg war von einer Wahl und von der Freiheit des Wählens, zeigte sich: Sobald Wahl und Wille auftraten, kam Sünde. Mein Platz [im Garten Eden] wäre einfach der des Gehorsams gewesen. Sobald die Frage aufkam, ob er gehorsam sein sollte, kam die Sünde. Wählen ist kein Gehorsam. In dem Moment, in dem er sich zu wählen frei fühlte, hatte er den Platz des einfachen Gehorsams verlassen.

Man denke an das Beispiel eines Kindes, das meint, dass es die Freiheit hätte, zu wählen, ob es überhaupt gehorsam sein soll; selbst dann, wenn es das Richtige wählt, bestreite ich, dass [diese] Moral [nämlich: das Richtige tun] auf der Freiheit des Willens beruht. Der Mensch wurde in einer gegebenen Beziehung mit Gott geschaffen. Moral [Sittlichkeit] besteht darin, sich dieser Beziehung gemäß zu verhalten. Aber diese Beziehung bestand [seitens des Menschen] im Gehorsam. Dort hätte er einfach und glücklich weiterleben können und sich nicht von Gott zu befreien brauchen.

Das ist es, was Christus machte: Er kam, um Gottes Willen zu tun, und nahm Knechtsgestalt an. In der Versuchung in der Wüste versuchte Satan, Ihn dazu zu bewegen, diesen Platz [des Gehorsams gegenüber Gott] zu verlassen und seinen eigenen Willen zu tun, nämlich indem Er deshalb etwas aß, weil Er hungrig war. Was war daran so schlimm? Es wäre Freiheit gewesen und sein eigener Wille; seine Antwort lautete, dass der Mensch von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes ausgeht, leben soll [Mt 4,4]. In seinem Herzen gab es keine Regung und keinen Willen, außer durch den Willen Gottes; und das ist Vollkommenheit. Keine Regel, die den Eigenwillen prüfen muss, wie wir sie leider oft benötigen, sondern Gottes Wille als Beweggrund unseres Handelns – des Handelns unseres Willens: Das ist es, was die Schrift den Gehorsam Christi nennt, zu dem wir geheiligt worden sind [1Pet 1,2]. Der Mensch hat sich (in einem gewissen Sinn) [durch den Sündenfall] selbst frei gemacht, aber er machte sich von Gott frei und ist deshalb [bis heute] sittlich abtrünnig und ein Sklave der Sünde. Von diesen Dingen befreit uns Christus völlig, und Er heiligt uns zum Gehorsam, nachdem Er die Strafe der Frucht unseres eigenen Willens getragen hat. Wie käme ich zu einer Wahl? Wenn ich sie habe, ist das Gute noch nicht in mir, und was ist es dann, das mich das Gute wählen lassen sollte?

Man verwechselt auch das Gewissen (bezüglich Gut und Böse) mit dem Willen. Der Mensch hat [das Gewissen] durch den Sündenfall bekommen, und so tritt es bei den Unbekehrten in einem Zustand der Entfremdung von Gott in Tätigkeit; Wille ist etwas anderes. Im Fleisch ist er Feindschaft gegen Gott, Lust und Gottlosigkeit, und wenn das Gesetzt kommt, ist der Wille auch noch Gesetzesübertretung. Sogar wenn ich den Geist Gottes habe, begehrt [das Fleisch] dagegen [Gal 5,17]. Ein Heide drückte das aus, als er sagte: „Ich sehe das Bessere und heiße es gut, [aber] dem Schlechteren folge ich.“[1] Gewissen und Begierde sind da und beherrschen den Willen. Wenn das alles so war, dann war der Mensch [im Garten Eden] völlig frei darin, was er in der Prüfung tun würde, aber die Ausübung des Willens oder des Wählens war nichts anderes als Sünde, [denn] sein Platz bei Gott beinhaltete nur Gehorsam [und nicht Wahl]. Er war in guten Umständen geschaffen worden und musste sie nicht wählen. Heute liebt er die Sünde und seinen Eigenwillen, und er muss davon befreit werden.

Paris, 17. April 1872


Aus Letters of John Nelson Darby, Bd. 2, Nr. 100, S. 164–167
Eckige Klammern wurden vom Übersetzer hinzugefügt.
Mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers und www.bibelpraxis.de

Übersetzung: Martin Arhelger

Anmerkungen

[1] So schrieb der römische Dichter Ovid (43 v.Chr. bis 17 n.Chr.), siehe: Metamorphosen VII, 20/21.

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