Von dem einen zum anderen Bethanien (1)
Johannes 10,39-42

Fritz von Kietzell

© SoundWords, online seit: 06.03.2001, aktualisiert: 12.12.2019

Leitverse: Johannes 10,39-42

Joh 10,39-42: Da suchten sie wieder, ihn zu greifen, und er entging ihrer Hand. Und er ging wieder weg auf die andere Seite des Jordan an den Ort, wo Johannes zuerst taufte, und er blieb dort. Und viele kamen zu ihm und sagten: Johannes tat zwar kein Zeichen; alles aber, was Johannes von diesem gesagt hat, war wahr. Und viele glaubten dort an ihn.

Fünf von den im Johannesevangelium berichteten sieben „Zeichen“ des Herrn haben wir im vergangenen Jahr an dieser Stelle betrachtet. Mit dem sechsten Zeichen, der Auferweckung des Lazarus, treten wir in einen neuen Abschnitt unseres Evangeliums ein, und es wird nützlich sein, hierbei ein wenig stehenzubleiben.

Am Schluss des 10. Kapitels lesen wir: „Da suchten sie wieder, ihn zu greifen, und er entging ihrer Hand. Und er ging wieder weg auf die andere Seite des Jordan an den Ort, wo Johannes zuerst taufte, und er blieb dort.“ 

Unmittelbar bevor in diesem Evangelium das erste Auftreten des Herrn berichtet wird, lesen wir: „Dies geschah zu Bethanien, jenseits des Jordan, wo Johannes taufte“ (Joh 1,28) Obwohl dieses Dorf hier, im 10. Kapitel, nicht ausdrücklich benannt wird, erkennen wir leicht, dass es der gleiche Ort war und dass also der Herr nun dahin zurückkehrt, von wo Er ausgegangen war, an den Ausgangspunkt seines Weges und Dienstes. „Er ging wieder weg … Und er blieb daselbst“ – Sein Dienst an Israel war erfüllt. Fragen wir uns nun, worin dieser Dienst bestand, worin er notwendigerweise bestehen musste. 

Im Verlaufe des 5. bis 8. Kapitels hatte der Herr den Juden ein Stück nach dem anderen, worauf sie sich in religiöser Beziehung bis dahin berufen hatten, genommen. Er selbst, die Erfüllung aller Vorbilder in den Schriften, war da und trat an die Stelle dessen, was „veraltet war und dem Verschwinden nahe“. In Kapitel 5 ist es zunächst Bethesda, ein letztes Zeugnis von der gnädigen Wirksamkeit Gottes auch unter dem Gesetz, von einer bedingten, beschränkten, an gewisse Fristen gebundenen Gnade. Es wird in den Schatten gestellt durch Ihn, der in bedingungsloser Gnade für alle und zu jeder Zeit da war. „Wirket!“, sagte das Gesetz; „wirken“ (sich abmühen, der Erste zu sein) musste man auch an diesem Teiche; „ich wirke“, sagt der Herr (vgl. Joh 5,4.17). In Kapitel 6 finden wir dann das Passah, in Kapitel 7 das Laubhüttenfest, Anfangs- und Endpunkt der Festreihe des heiligen Jahres, sofern wir von dem wöchentlich wiederkehrenden Sabbat (den der Herr auch bereits in 5. Kapitel hinwegtat) absehen. „Dieses Volk ehrt mich mit denen Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir“ (Mt 15,8) – und darum setzt der Herr auch die Feste beiseite, die „Feste der Juden“ (mit diesem Zusatz werden die Feste in Johannesevangelium bezeichnenderweise meist genannt) und tritt selbst an ihre Stelle.

Mit dem Passah, wie gesagt, begann das heilige Jahr; es bedeutete für die jüdische Nation das Leben. In der Nacht, da der Würgengel durch das Land Ägypten ging, da „kein Haus war, worin nicht ein Toter war“, saßen die Kinder Israel, geschart um das Lamm, gedeckt durch das Blut in völliger Sicherheit in ihren Häusern, und der Engel des Todes ging an ihnen vorüber (2Mo 12). Aber nur wie nebenbei wird hier, in Kapitel 6, das Passah erwähnt; denn nun war Er da, nicht nur, um ihnen, wie Er es bei der Speisung der 5000 tat, Brot zu geben, nein, Er war selbst das „wahrhaftige Brot“, das „Brot des Lebens“ (Joh 6,5.32.35) und anspielend auf seinen Opfertod fügt Er hinzu: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben“ (Joh 6,54). Wie ungeheuerlich mussten solche Worte in den Ohren derer klingen, die in äußerer Rechtgläubigkeit auf dem Boden der göttlichen Verordnungen standen, die den Genuss von Blut verbieten und den Sinn der Heilandsworte nicht verstanden. Der Unglaube fand darum „diese Rede hart“ und zog sich zurück; aber der Glaube Verstand und gab auf die Frage „Wollt ihr etwa auch weg gehen?“ zur Antwort: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens!“ (Joh 6,60.66-68).

Auch mit dem „Fest der Juden, den Laubhütten“ (Joh 7,2) macht sich der Herr nicht eins; Er sagt zu seinen ungläubigen Brüdern: „Gehet ihr hinauf zu diesem Feste; ich gehe nicht hinauf …“, aber Er ging später hinauf „in den Tempel und lehrte“ (Joh 7,8.14). Das Fest der Laubhütten sollte das Volk an die überstandene Wüstenreise erinnern; es war ein Fest der Freude. Redete das erste der Feste, das Passah, vom Leben, so dieses letzte Fest von Herrlichkeit, von den reichlich strömenden Segnungen des Reiches. – Doch was war das? „An dem letzten, dem großen Tage des Festes aber stand Jesus und rief und sprach: wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke!“ (Joh 7,37). Wunderbarer Augenblick, als da plötzlich, während die Priester, wie man erzählt, Wasser aus dem Teiche Siloam mit den Trankopfern ausgossen, auf den Stufen des Tempels ein Größerer stand, und alles mit seiner laut hinausgerufenen Gnadenbotschaft übertönte. Er trat nun an die Stelle des Festes ein; sobald Er verherrlicht sein würde, sollten „die an ihn Glaubenden den Geist empfangen“ (Joh 7,39), sobald der Fels geschlagen und das Werk vollbracht war, würde Wasser aus ihm hervorkommen, um den Durst aller, die glaubten, zu stillen (vgl. 2Mo 17). Doch mochten einige auch sagen: „Dieser ist der Christus“, oder: „Niemals hat ein Mensch so geredet wir dieser Mensch!“ – der Unglaube rief: „Forsche und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht“ (Joh 7,41.46.52).

Schärfer noch wird der Widerstreit in Kapitel 8. Das Gesetz klagte an, der Herr aber war „das Licht der Welt“; das Gesetz brachte den Tod, Er aber sagte: „Wer mir nachkommt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12; vgl. Joh 8,2-11). Aber die Juden verwarfen sein Wort, mit dem Er sie zur Wahrheit und Freiheit führen wollte (Joh 8,31.32.36), und seine Werke, mit denen Er ihre von Geburt an blinden Augen auftun wollte (Joh 9). Da gab Er den „Hof der Schafe“ (Israel) auf, Er wusste, dass seine wahren Schafe „seine Stimme hören“ würden, und führte sie, wie schon den Blindgeborenen, hinaus. Durch Ihn, die wahre Tür, sollten sie nun „ein- und ausgehen und Weide finden“ (Joh 10,3.4.7.9). Wunderbare Worte sagte Er für die, die wirklich seine Schafe waren und sind, ein siebenfaches Zeugnis ihrer ewigen Sicherheit; niemand wird und kann sie aus seiner und seines Vaters Hand rauben. „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,27-30).

„Da hoben die Juden wiederum Steine auf, auf dass sie ihn steinigten“ (Joh 10,31; vgl. 8,59). Eifersucht, Hass und Feindschaft schlagen dem, der der Sohn Gottes, der Sohn des Vaters zu sein bezeugte, aus der Masse seines Volkes entgegen. „Das Licht schien in der Finsternis, und die Finsternis hatte es nicht erfasst“ (Joh 1,5). „Da suchten sie wiederum ihn zu greifen, und er entzog sich ihrer Hand“ (Joh 10,3 wörtlich; vgl. Joh 7,44). „Meine Seele wurde ungeduldig über sie, und auch ihre Seele wurde meiner überdrüssig. Da sprach ich: Ich will euch nicht mehr weiden; was stirbt, mag sterben, und was umkommt, mag umkommen“ (Sach 11,8.9). Alle seine vielen Bemühungen waren umsonst gewesen.

„Und er ging wieder weg“ (Joh 10,40). Er nahm seinen Platz wiederum „jenseits des Jordan“ ein, außerhalb Judäas, kehrte unverrichteter Dinge an seinen Ausgangspunkt zurück, „an den Ort, wo Johannes zuerst taufte“, und „blieb daselbst“, wie wir zu Anfang sahen. Mochten dort auch „viele zu ihm kommen“ und „viele daselbst an ihn glauben“ (Joh 10,41.42). Von seinem Volke als solchem war Er verworfen. Obwohl anerkannterweise „alles wahr war, was Johannes von ihnen gesagt hatte“ (Joh 10,41), an diesem gleichen Platz – nun ist dieses„ Bethanien jenseits des Jordan“ der Platz seiner Verwerfung und seiner traurigen, notgedrungenen Abkehr von seinem Volke geworden.

Doch es gab noch ein anderes Bethanien für Ihn – und für sein Volk –, wie wir in einem zweiten Aufsatz sehen wollen.

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