Der wahre Jude und der Israel Gottes
Römer 2,17-29; Römer 3,1-3; Galater 6,12-16

Dirk Schürmann

© SoundWords, online seit: 02.07.2005, aktualisiert: 08.05.2020

Leitverse: Römer 2,17-29; Römer 3,1-3; Galater 6,12-16

Röm 2,17-29: 17 Wenn du aber Jude genannt wirst und dich auf das Gesetz stützt und dich Gottes rühmst 18 und den Willen kennst und das Vorzüglichere unterscheidest, da du aus dem Gesetz unterrichtet bist, 19 und getraust dich, ein Leiter der Blinden zu sein, ein Licht derer, die in Finsternis sind, 20 ein Erzieher der Törichten, ein Lehrer der Unmündigen, der die Form der Erkenntnis und der Wahrheit in dem Gesetz hat – 21 der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbst nicht? Der du predigst, man solle nicht stehlen, du stiehlst? 22 Der du sagst, man solle nicht ehebrechen, du begehst Ehebruch? Der du die Götzenbilder für Gräuel hältst, du begehst Tempelraub? 23 Der du dich des Gesetzes rühmst, du verunehrst Gott durch die Übertretung des Gesetzes? 24 Denn der Name Gottes wird euretwegen unter den Nationen gelästert, wie geschrieben steht. 25 Denn Beschneidung ist zwar von Nutzen, wenn du das Gesetz tust; wenn du aber ein Gesetzes-Übertreter bist, so ist deine Beschneidung Vorhaut geworden. 26 Wenn nun die Vorhaut die Rechte des Gesetzes beachtet, wird nicht seine Vorhaut für Beschneidung gerechnet werden 27 und die Vorhaut von Natur, die das Gesetz erfüllt, dich richten, der du mit Buchstaben und Beschneidung ein Gesetzes-Übertreter bist? 28 Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; 29 sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben; dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist.

Römer 2,29 wird von solchen, die glauben, dass Israel heute in die Kirche übergegangen ist, als Beleg für ihre Ansicht benutzt. Die Frage ist nun, ob dieser Standpunkt mit dieser Stelle wirklich zu belegen ist. Hierzu einige Überlegungen:

Römer 2,17 weist deutlich darauf hin, dass sich dieser Abschnitt, im Gegensatz zu dem vorigen Abschnitt, an Juden richtet, und zwar an ethnische Juden, die sich unter Gesetz befanden. Somit ist auch Vers 29 an Juden gerichtet, die innerlich dem Gedanken der Beschneidung entsprechen.

Sicherlich entsprechen heute auch Christen aus den Nationen dem Gedanken Gottes über die Beschneidung, so dass Paulus in Philipper 3,3a sogar sagt: „Denn wir [hier sind also die Philipper aus den Nationen eingeschlossen] sind die Beschneidung.“ Natürlich stellt sich daher die Frage, ob dieser Vers nicht auf jeden zutrifft, der innerlich dem Gedanken Gottes über die Beschneidung entspricht, also auch auf Christen aus den Nationen. Und sicherlich gilt für einen solchen, dass er ein wirklicher „Gottlober“ (Übersetzung des heb. Ausdrucks Jude) geworden ist, dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist. Aber bedeutet das, dass für Paulus nun alle Christusgläubigen aus ethnischen Juden und Heiden Juden geworden sind? Im nächsten Vers heißt es:

Röm 3,1-3: 1 Was ist nun der Vorteil des Juden oder was der Nutzen der Beschneidung? 2 Viel, in jeder Hinsicht. Denn zuerst einmal sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden. 3 Was denn? Wenn einige nicht geglaubt haben, wird etwa ihr Unglaube die Treue Gottes aufheben?

Hier wird ganz deutlich, dass Paulus nun wieder mit dem Begriff Jude die ethnische Zugehörigkeit meint und die Unterschiede – auch bei denen, die geglaubt haben – zu denen aus den Nationen weiter anerkennt.

Der Gedanke, dass ein Israelit seiner Beschneidung auch innerlich entsprechen sollte, ist übrigens nicht neu; das war schon zu alttestamentlichen Zeiten so, siehe 3. Mose 26,41; 5. Mose 10,16; 30,6; Jeremia 4,14; 9,26. Und so war es sicher auch so, dass es auch für Menschen aus den Nationen in alttestamentlichen Zeiten galt, dass sie den Gedanken Gottes über die Beschneidung entsprechen konnten; und doch glaubt keiner, dass sie dadurch nun Juden geworden waren. (Übrigens: Kein Jude und keiner aus den Nationen konnte der geistlichen Bedeutung der Beschneidung aufgrund des Gesetzes entsprechen, sondern nur aufgrund von Gnade und Glaube.)

Der Vers zeigt nur: „Keine formelle oder äußere Stellung zählt vor Gott und macht richtig, was falsch ist. Gott wertet das Innere. Einen Menschen, der gehorcht, würde Gott achten, selbst wenn er ein unbeschnittener Heide wäre. Einen ungehorsamen Menschen würde Er zurückweisen, selbst wenn er ein beschnittener Jude wäre.“[1]

Gal 6,12-16: 12 So viele im Fleisch gut angesehen sein wollen, die nötigen euch, beschnitten zu werden, nur damit sie nicht um des Kreuzes Christi willen verfolgt werden. 13 Denn auch sie selbst, die beschnitten sind, befolgen das Gesetz nicht, sondern sie wollen, dass ihr beschnitten werdet, damit sie sich eures Fleisches rühmen. 14 Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt. 15 Denn weder Beschneidung noch Vorhaut ist etwas, sondern eine neue Schöpfung. 16 Und so viele nach dieser Richtschnur wandeln werden – Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!

Galater 6,16 wird ebenfalls oft angeführt, um zu beweisen, dass die Kirche jetzt das „wahre“ Israel sei. Nun zeigen die Verse Galater 6,12-14, dass es sich bei den Adressaten um Gläubige aus den Nationen handelt, die hier angesprochen werden. Somit denkt der Apostel bei dem „sie“ in Vers 16 sicher auch in erster Linie an diese Gläubigen. Allerdings drückt er es so aus, dass auch die Christusgläubigen aus den Juden, zu denen er ja selbst gehört, darunterfallen: „und so viele“ ist eben ganz allgemein. 

Wer ist nun mit dem „Israel Gottes“ gemeint? Dieselbe Gruppe wie die „sie“ vorher? Gegen diesen Gedanken spricht, dass der Ausdruck „Israel“ an keiner anderen Stelle in der Schrift auf eine andere Gruppe als ethnische Juden erweitert wird; selbst in der Offenbarung finden wir noch die Unterscheidung zwischen Gläubigen aus Israel und den Nationen.

Auch gibt es kaum eine andere Stelle im NT, wo das Wort „und“ im Sinne von „und zwar“ zwei Substantive (oder die sie vertretenden Pronomen) verbindet, so dass das zweite Substantiv die Erklärung des ersten Substantivs wäre, so wie einige hier annehmen, dass der Israel Gottes eine Erklärung des vorherigen „sie“ sei. Wenn „und“ so gebraucht wird (sog. kai epexegeticum), dann ist der Fall absolut eindeutig. Hier dagegen muss man von vornherein eine bestimmte Auslegung vertreten, um zu dieser Übersetzung zu kommen.

Vielmehr ist naheliegend, dass Paulus bei denen, die nach dieser Richtschnur wandeln, an eine besondere Gruppe denkt, mit denen er sich besonders verbunden fühlt: solche, die aus Israel kommen, von denen er in Römer 9,3 gesagt hatte: „Denn ich selbst, ich habe gewünscht, durch einen Fluch von dem Christus entfernt zu sein für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch.“ Wenn das schon für Israel nach dem Fleisch galt, wie viel mehr fühlte er sich dann wohl solchen aus ihnen zugetan, die „nach dieser Richtschnur wandelten“ und sich nicht irgendwelcher eingebildeten Vorteile einer äußeren Beschneidung rühmten. Er stellt diese Gruppe von Juden damit in krassen Gegensatz zu den Lehrern aus den Juden, die gerade für diese falsche Lehre eintraten. Dieser wahre „Überrest“ in Israel sollte nicht mit den Judaisten in einen Topf geworfen werden.

Der Apostel Paulus deutet auch im weiteren Verlauf von Römer 9 an, dass es innerhalb des ethnischen Israels ein „wahres“ Israel gibt: „Nicht aber, dass das Wort Gottes hinfällig geworden wäre; denn nicht alle, die aus Israel sind, diese sind Israel“ (Röm 9,6). Zwei Kapitel weiter heißt es noch in Römer 11,5: „So besteht nun auch in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Auswahl der Gnade.“ Es ist also auch in Übereinstimmung mit diesen Stellen, in Galater 6,16 an den christusgläubigen Teil aus Israel zu denken.

Das Israel, zu dem ein Mensch gehört, weil er durch natürliche Geburt ein Israelit ist, nennt Paulus in 1. Korinther 10,18 „Israel nach dem Fleisch“. Dieses Israel ist das Israel, das unter der Knechtschaft des Gesetzes steht, unter den Verpflichtungen des Alten Bundes. Diesem Israel steht nicht die Gemeinde in dem „wahren Israel“ gegenüber, sondern der christusgläubige Teil von Israel. Einmal wird ein anderer christusgläubiger Teil von Israel nach dem Fleisch, der nicht zur Gemeinde gehört, wieder „ganz Israel“ (Röm 11,26) ausmachen. So wie es in Jesaja 60,21 heißt: „Und dein Volk, sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig, sie, ein Spross meiner Pflanzungen, ein Werk meiner Hände, zu meiner Verherrlichung.“ Dann wird Gott dafür gesorgt haben, dass alle Ungöttlichen aus Israel verschwunden sind, wie es in Hesekiel 20,38 heißt: „Und ich werde die Empörer und die von mir Abgefallenen von euch absondern; ich werde sie herausführen aus dem Land ihrer Fremdlingschaft, aber in das Land Israel soll keiner von ihnen kommen. Und ihr werdet wissen, dass ich der HERR bin.“

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Anmerkungen

[1] F.B. Hole: Gründzüge des Neuen Testaments, Bd. 3, Römerbrief – Korintherbriefe, Hückeswagen (CSV) 1995, S. 14.

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