Hirten gesucht
Apostelgeschichte 20,20

Charles Henry Mackintosh

© CSV, online seit: 11.10.2016, aktualisiert: 07.04.2021

Leitvers: Apostelgeschichte 20,20

Apg 20,20: Ich habe nichts zurückgehalten von dem, was nützlich ist, dass ich es euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte, öffentlich und in den Häusern.

Dieser Ausdruck „öffentlich und in den Häusern“ findet sich in der Abschiedsrede von Paulus an die Ältesten von Ephesus, wie sie in Apostelge­schichte 20 aufgezeichnet ist. Es ist ein sehr vielsagender Ausdruck. Er betont nachdrücklich die innige Verbindung zwischen der Arbeit des Lehrers und der des Hirten: „Ich habe nichts zurückgehalten von dem, was nützlich ist“, sagt der Apostel, „dass ich es euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte, öffentlich und in den Häusern“ (Apg 20,20). 

Paulus selbst war nicht nur ein Apostel. In ihm verban­den sich in einmaliger Weise der Evangelist, der Hirte und der Lehrer. Die beiden letztgenannten sind sehr eng mit­einander verbunden, wie wir in Epheser 4,11 sehen. Es ist wichtig, diese Verbindung zu verstehen und im Auge zu behalten. Der Lehrer entfaltet die Wahrheit; der Hirte wen­det sie an. Der Lehrer erhellt das Verständnis; der Hirte ist um den Herzenszustand bemüht. Der Lehrer sorgt für geistliche Nahrung; der Hirte achtet darauf, dass Nutzen daraus gezogen wird. Der Lehrer beschäftigt sich mehr mit dem Wort; der Hirte bemüht sich mehr um die Seelen. Die Arbeit des Lehrers ist größtenteils öffentlich, die des Hirten hauptsächlich persönlicher Art. Wenn beides sich in einer Person verbindet, verleiht die besondere Lehrbefähigung dem Hirten eine erhöhte moralische Kraft, und das Ele­ment des Hirten gibt dem Lehrer eine liebevolle Zartheit. 

Wir sollten den Hirten nicht mit einem Ältesten oder Aufseher verwechseln. Zwischen beiden besteht ein großer Unterschied. Älteste und Aufseher sind häufig das Gleiche, aber der Hirte darf mit keinem von beiden ver­wechselt werden. Der Dienst des Ältesten ist eine örtliche Aufgabe; Hirte zu sein ist eine Gnadengabe. Wir finden nichts über Älteste oder Aufseher in 1. Korinther 12 und 14 oder Epheser 4, während wir in diesen Schriftstellen aber eine ausführliche Darstellung der Gaben haben. Wir müssen sorgfältig zwischen Gabe und örtlicher Aufgabe unterscheiden. Der Dienst der Ältesten oder Aufseher ist es, Führung zu geben und Aufsicht zu führen. Lehrer und Hirten ernähren und erbauen. Ein Ältester mag ein Lehrer oder Hirte sein, aber er muss beides voneinander trennen. Beide Seiten ruhen auf ganz unterschiedlichen Grundla­gen und dürfen nicht miteinander vermengt werden. 

Der Gegenstand dieses kurzen Aufsatzes ist jedoch nicht eine Abhandlung über Dienst oder eine ausführliche Darlegung des Unterschiedes zwischen geistlicher Gna­dengabe und örtlicher Aufgabe. Es geht um die außeror­dentliche Bedeutung der Gabe eines Hirten in der Ver­sammlung Gottes, damit wir den Herrn, das große Haupt der Versammlung, ernstlich bitten, dass Er diese kostbare Gabe wieder vermehrt in unserer Mitte schenkt. Von Sei­ner Seite aus gibt es keine Beschränkung für uns. Der Reichtum des geistlichen Lebens ist unerschöpflich, und Christus, unser Herr, liebt seine Versammlung und hat Freude daran, seinen Leib zu nähren und zu pflegen und jedes Bedürfnis aus seiner unbegrenzten Fülle zu stillen. 

Wer wirklich weiß, was Hirtendienst ist, und wem der wahre Zustand der Versammlung bewusst ist, kann nicht leugnen, dass es in der ganzen Versammlung Gottes ein dringendes Bedürfnis an Hirtenfürsorge gibt. Wie selten ist der wahre geistliche Hirte! Es ist leicht, als „Pastor“ (d.h. „Hirte“) einen solchen Titel zu führen und das Amt für sich in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich aber ist Hirtendienst weder ein Titel noch ein Amt, sondern eine lebendige Wirklichkeit, eine Gabe von Gott, die durch das Haupt der Versammlung geschenkt ist zum Wachstum und Segen Sei­ner Glieder. Ein wahrer Hirte ist nicht nur eine echte geist­liche Gabe, sondern er wird getrieben durch die Zunei­gungen des Herzens Christi selbst zu jedem Lamm und Schaf seiner Herde, die durch sein Blut erkauft ist. 

Noch einmal: Jedes Lamm und Schaf liegt ihm am Her­zen. Der echte Hirte ist auf der ganzen Welt Hirte. Er hat ein Herz, eine Botschaft, einen Dienst für jedes Glied des Leibes Christi. Anders ist es bei dem Ältesten oder Aufse­her. Seine Aufgabe ist auf den Ort begrenzt, an dem der Herr ihn eingesetzt hat. Das Arbeitsfeld des Hirten jedoch ist die ganze Versammlung Gottes, so wie das Feld des Evangelisten die weite Welt ist. Sei es in New York, in Paris oder in Berlin – ein Hirte ist ein Hirte, und überall hat er seine gesegnete Arbeit. Ein Hirte, der als Pastor einer bestimmten Gruppierung verpflichtet ist, in der er zugleich die Tätigkeiten eines Evangelisten und Lehrers und Ältes­ten oder Aufsehers wahrnehmen muss, ist etwas, was die Lehre des Neuen Testamentes überhaupt nicht kennt. 

Aber wie wenige wirkliche Hirten gibt es in unserer Mitte! Wie selten ist die Gabe des Hirten, das Hirtenherz. Wo finden wir solche, die die zwei großen und wichtigen Elemente verbinden, die die Überschrift enthält – „öffent­lich und in den Häusern“? Jemand mag an einem Sonntag eine kurze Ansprache halten oder einen Vortrag an einem Wochentag; aber wo bleibt die andere Seite der Sache, der Dienst „in den Häusern“? Wo ist die sorgfältige, ernsthafte, liebevolle Sorge für die einzelnen Seelen – Tag für Tag? Oft geschieht es, dass die öffentliche Belehrung über die Köpfe hinweggeht. Die Belehrung „in den Häu­sern“ jedoch wird sicherlich das Herz erreichen. Wie manches Mal wird etwas öffentlich Gesagtes gänzlich missverstanden und verkehrt angewandt, bis der liebe­volle Hirtenbesuch während der Woche die wahre Be­deutung und die rechte Anwendung bringt. 

Aber das ist noch nicht alles. Es gibt vieles in Reich­weite des Hirten, was der öffentliche Lehrer niemals er­fassen kann. Ohne Zweifel ist die öffentliche Belehrung äußerst wichtig. Ich wünschte, wir hätten viel mehr davon. Die Arbeit des Lehrers ist von unschätzbarem Wert, und wenn sie mit der tiefen und zärtlichen Zunei­gung eines Hirtenherzen getan wird, kann sie in der Tat vielen Bedürfnissen der Seelen entsprechen. Aber der lie­bevolle Hirte, der bedachtsam, mit Gebet und in Treue von Haus zu Haus geht, kann teilhaben an den tiefen Übungen der Seele, den Sorgen des Herzens, den drän­genden Fragen, der Last des Gewissens. In dem tiefen Mitempfinden seines Herzens kann er auf ungezählte kleine Umstände und Sorgen eingehen. Er kann vor dem Thron der Gnade niederknien mit den Geprüften, mit denen, die in Versuchungen sind, mit den Zerbrochenen und den Trauernden, und zusammen können sie ihre Herzen ausschütten und Trost von dem Gott aller Gnade und dem Vater der Erbarmungen erfahren. 

Das kann der öffentliche Lehrer nicht tun. Wenn etwas von einem Hirten in ihm ist, wie wir schon gesagt haben, dann kann er zweifellos in seinem öffentlichen Reden vieles vorwegnehmen von den persönlichen Übungen, Sorgen und Schwierigkeiten. Und doch kann er auf das besondere Bedürfnis des Einzelnen nicht völlig eingehen. Das ist die heilige Arbeit des Hirten. Man könnte sagen, dass der Hirte für die Seele das ist, was der Arzt für den Körper ist. Er muss sowohl die Krankheit als auch die Arznei kennen. Er muss imstande sein, das Problem zu erkennen. Er muss den geistlichen Zustand beurteilen können, um das rechte Heilmittel anzuwenden. 

Wie wenige solcher Hirten gibt es! Es ist eine Sache, diesen Titel zu führen, und eine andere, die Arbeit zu tun. Lasst uns ernstlich und im Glauben Gott bitten, solche Hirten unter uns zu erwecken. Wie außerordentlich nötig haben wir sie doch! Die Schafe Christi haben Mangel an Nahrung und Fürsorge. Wir sind so viel mit unseren eige­nen Angelegenheiten beschäftigt, dass wir keine Zeit haben, nach der geliebten Herde Christi zu sehen. Wie wenige liebevolle Besuche von Hirten, wie selten fürsorg­liche Erkundigungen nach dem inneren oder körperli­chen Wohlergehen gibt es doch während der Woche. Es scheint keine Zeit dafür zu sein. Die ganze Zeit wird ver­schlungen von unseren Beschäftigungen für uns selbst und unsere Familien. Es ist die alte traurige Geschichte: „Alle suchen das Ihre, nicht das, was Jesu Christi ist.“ 

Wie anders war es bei dem gesegneten Apostel. Er fand noch Zeit, um Zelte herzustellen, aber auch, um „zu leh­ren, öffentlich und in den Häusern“. Er war nicht nur der bedeutende Evangelist, der Kontinente durchreiste und Menschen zum Herrn führte, so dass zahlreiche Versamm­lungen entstanden, sondern er war auch der liebevolle Hirte, die zärtliche „Amme“, der geschickte geistliche „Arzt“. Er hatte ein Herz für Christus und für seinen Leib, die Versammlung, und für jedes Glied dieses Leibes. Hier liegt das wahre Geheimnis! Es ist wunderbar, was ein lie­bendes Herz bewirken kann. Wenn ich wirklich die Ver­sammlung liebe, werde ich Verlangen haben nach ihrem Segen und ihrem Wachstum. Und ich werde meine Fähig­keiten einzusetzen suchen, um sie zu fördern. 

Der Herr gebe inmitten seines Volkes noch Hirten und Lehrer nach seinem Herzen – Menschen, die mit dem Geist erfüllt sind und getrieben werden durch echte Liebe zu seiner Versammlung; Menschen, die fähig und bereit sind zu lehren, „öffentlich und in den Häusern“.


Originaltitel: „Öffentlich und in den Häusern“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 54, 2000, S. 57–62;
engl. Originaltitel: „Publicly and from house to house“
aus Miscellaneous writings, Bd. 5

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