„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Psalm 22,2

Charles Henry Mackintosh

© SoundWords, online seit: 21.04.2011, aktualisiert: 15.04.2022

Leitvers: Psalm 22,2

Ps 22,2: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Im Wort Gottes gibt es keinen anderen Satz, der eine ebenso tiefgründige und wunderbare Bedeutung hat wie Psalm 22,2 (vgl. Mt 27,46; Mk 15,34). Niemals zuvor und niemals seitdem hat jemand eine solche Frage gestellt, und niemals wieder wird jemand eine solche Frage stellen. In den Annalen der Ewigkeit ist diese Frage einzigartig.

Wer hat diese sonderbare Frage gestellt? Der ewige Sohn Gottes, der, der vor Grundlegung der Welt „im Schoß des Vaters“ war [vgl. Joh 1,18], der Gegenstand der grenzenlosen Liebe des Vaters. Doch Er war noch mehr: Er war selbst Gott über alles, gepriesen in alle Ewigkeit, der Schöpfer aller Dinge, der allmächtige Erhalter des weiten Universums. Und Er war ein Mensch, ein makelloser, heiliger, vollkommener Mensch, ein Mensch, der weder jemals gesündigt hatte noch sündigen konnte, weil Er „Sünde nicht kannte“ [2Kor 5,21]. Und dennoch war Er trotz allem ein Mensch, ein wahrer Mensch, der von einer Frau geboren war und in allem war wie wir, bis auf eine Ausnahme – Sünde: „Christus …; der keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden“ (1Pet 2,22). Er tat immer das, was Gott wohlgefiel. Von der Krippe in Bethlehem bis zum Kreuz auf Golgatha stimmte sein Leben mit dem Willen Gottes vollkommen überein. Mit seinem ganzen Leben verherrlichte Er Gott. Aus all seinem Denken, aus jedem Wort, aus jedem Blick, aus jeder Bewegung stieg ein Wohlgeruch unvorstellbarer Lieblichkeit zum Thron auf und erfreute das Herz Gottes. Immer wieder waren die Himmel über dem Gesegneten geöffnet, und die Stimme des ewigen Vaters bezeugte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17; 17,5; Mk 9,7; Lk 9,35; 2Pet 1,17).

Christus also war der, der diese Frage stellte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ist es wirklich wahr, dass Christus von Gott verlassen war? Verließ Gott wirklich seinen eingeborenen, vielgeliebten Sohn? Verbarg Gott wirklich sein Angesicht vor dem einzigen sündlosen, makellosen, vollkommenen Menschen, der jemals in dieser sündigen Welt gelebt hatte? Verschloss Er sein Ohr vor dem Schrei dessen, der nur lebte, um den Willen Gottes zu tun und den Namen Gottes zu verherrlichen? Ja, Gott tat es. Gott, der seine Augen nicht vom Gerechten abwendet, dessen Ohr für den Schrei des Notleidenden immer offen ist, dessen Hand zur Rettung des Schwachen und Hilflosen immer ausgestreckt ist – ja, Gott wandte sein Angesicht von seinem eigenen geliebten Sohn ab und weigerte sich in diesem Augenblick, seinen Schrei zu hören.

Wir können uns mit diesem tiefen Geheimnis nicht genug beschäftigen. Dieses Geheimnis enthält das Wesen des Evangeliums, die große grundlegende Wahrheit des Christentums. Je mehr wir über die Herrlichkeiten dessen nachdenken, der diese Frage stellte – wer Er war, was Er war, was Er in sich selbst war und was Er für Gott war –, desto mehr sehen wir die unergründlichen Tiefen dieser Frage. Und je mehr wir den betrachten, an den diese Frage gerichtet war, desto mehr erkennen wir seine Eigenschaften und seine Wege, desto mehr erkennen wir die Macht und den Wert der Antwort.

Warum also verließ Gott seinen Sohn? Weißt DU warum? Weißt du, welche Bedeutung es für dich persönlich hat, dass Gott seinen Sohn verließ? Kannst du aus tiefstem Herzen sagen: „Ich weiß, warum Gott seinen Sohn verlassen hat. Gott hat seinen Sohn deshalb verlassen, weil Er meinen Platz einnahm, weil Er an meiner Stelle am Kreuz hing und all meine Sünden auf sich geladen hatte. Er wurde für mich zur Sünde gemacht. Alles, was ich war, alles, was ich getan hatte, alles, was mich als Sünder betraf, wurde auf Ihn gelegt. Gott handelte mit mir in der Person meines Stellvertreters. Die Sünde meiner Natur, meines Wesens, und alle Sünden meines Lebens – alles, was ich bin, und alles, was ich jemals getan habe, wurde Ihm zugerechnet. Er hat mich vertreten und wurde dementsprechend behandelt.“

Lieber Leser, hat der Heilige Geist dich dies gelehrt? Weißt du dies, weil du an die Autorität des Wortes Gottes glaubst? Wenn ja, dann wirst du einen festen Frieden haben, den keine Macht der Erde oder der Hölle, kein Mensch oder Teufel, jemals stören kann. Dieses Wissen ist die wahre und einzige Grundlage für den Frieden der Seele. Ein Mensch kann erst dann wahren Frieden mit Gott haben, wenn er weiß, dass Gott selbst die Frage der Sünde und der Sünden auf dem Kreuz seines Sohnes beantwortet hat. Gott wusste, was nötig war, und Er hat es bereitgestellt. Die ganze Schwere unserer Ungerechtigkeiten legte Er auf Christus. Gott und die Sünde begegneten sich am Kreuz. Dort wurde die ganze Frage göttlich geklärt und ein für alle Mal beantwortet. Die Sünde wurde verurteilt und beseitigt. Der Sündenträger ging unter die Wogen und Wellen des göttlichen Zorns. Gott legte Ihn in den Staub des Todes. Die Sünde wurde entsprechend den unendlichen Forderungen des Wesens Gottes, seines Charakters und seines Thrones behandelt; und nun ist der, der für uns zur Sünde gemacht und an unserer Stelle verurteilt wurde, zur rechten Hand Gottes erhöht und mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Und gerade diese Krone ist der Beweis dafür, dass die Sünde für immer weggetan ist. Wenn dem Gläubigen jemals eine einzige Sünde zur Last gelegt werden könnte, müsste zuvor diese Krone vom Haupt des Heilandes weggerissen werden.

Doch in der Antwort auf das geheimnisvolle „Warum?“ dessen, der verlassen wurde, sehen wir noch etwas anderes unbeschreiblich Kostbares: die überwältigende Liebe Gottes zu uns elenden Sündern. Diese Liebe trieb Gott nicht nur dazu, sich seinen Sohn vom Herzen zu reißen, sondern sie trieb Ihn auch dazu, seinen Sohn auf dem Kreuz zu verlassen. Warum tat Gott das? Weil es keinen anderen Weg gab, auf dem wir entfliehen könnten: entweder die ewige Hölle für uns oder der grenzenlose Zorn für den Sündenträger. Gott wählte Letzteres; und von nun an ist der Platz, den Christus jetzt einnimmt, auch der Platz all derer, die an Ihn glauben!


Originaltitel: „The Forsaken One“
aus Things New and Old, Jg. 14, 1871, S. 135–137

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