Das Ziel der Seelsorge
Was wollen wir erreichen?

Lawrence J. Crabb

© Brunnen-Verlag, online seit: 19.11.2003, aktualisiert: 02.04.2023

Leitverse: Römer 8,29; Kolosser 1,28

Röm 8,29: Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.

Kol 1,28: Wir ermahnen jeden Menschen und lehren jeden Menschen in aller Weisheit, damit wir jeden Menschen vollkommen in Christus darstellen.

Hören wir uns einmal an, wie ein typisches Gespräch zwischen einem Ratsuchenden und einem gläubigen Therapeuten verlaufen könnte:

Ratsuchender: Ich bin völlig fertig. Ich halte es nicht länger aus. Es muss doch möglich sein, dass ich wieder ruhiger werde. Jetzt braucht gar nicht mehr viel schiefgehen, und ich drehe durch.

Therapeut: Sie scheinen ja wirklich verzweifelt zu sein.

Ratsuchender: Ich bin verzweifelt! Obwohl ich Christ bin und die Bibel ernst nehme, klappt einfach nichts. Ich habe alles versucht; ich habe gebetet, meine Sünden bekannt, Buße getan, Geld gespendet – alles. Gott muss doch eine Antwort haben! Aber ich finde sie nicht.

Therapeut: Ja, ich gebe Ihnen recht, Gott kann uns Frieden schenken. Darum wollen wir nun herausfinden, was seinem Handeln in Ihrem Leben im Weg stehen könnte.

Von diesem Punkt aus kann die Beratung verschiedene Bahnen einschlagen, je nach theoretischer Überzeugung des Therapeuten, seiner Beziehung zu dem Ratsuchenden und einer Vielzahl anderer Faktoren. Doch bevor wir näher auf die mögliche Richtung der Beratung eingehen, wollen wir uns für einen Augenblick Gedanken machen über das Ziel. Wonach fragt der Ratsuchende letztlich? Was erhofft er sich am meisten von der seelsorgerlichen Beratung? Wenn ich den vielen Menschen zuhöre, die in meine Praxis kommen, und auch wenn ich in Problemsituationen meine eigenen Wünsche zu analysieren versuche, will mir scheinen, als sei unser so leidenschaftlich angestrebtes Ziel im tiefsten Grunde egoistisch: „Ich möchte, dass es mir gut geht.“ Oder: „Ich möchte glücklich sein.“

Nun ist es an sich durchaus nichts Schlechtes, wenn ein Mensch glücklich sein will. Doch geschieht es nur allzu leicht, dass wir uns mit einer zu ausschließlichen Suche nach dem „eigenen Glück“ den Blick auf den biblischen Weg zu echter, bleibender Freude verdunkeln. Der Herr hat uns gesagt, dass wir zu seiner rechten Hand ewige Freude finden werden. Wenn wir an dieser Freude Anteil haben wollen, müssen wir wissen, was es bedeutet, zu Gottes rechter Hand zu sitzen. Der Apostel Paulus berichtet uns, dass Christus im Himmel „zur Rechten Gottes“ sitzt (Eph 1,20). Daraus folgt für mich, dass ich die Freude, die aus der Gemeinschaft mit Gott herrührt, umso mehr empfangen und genießen kann, je mehr ich in Christus bin. Wenn ich echtes Glück erleben möchte, muss mir vor allem anderen daran gelegen sein, dem Herrn immer ähnlicher zu werden, mich dem Willen des Vaters unterzuordnen, so wie Christus es tat.

Wie vielen von uns geht es aber inmitten unserer Probleme nicht darum, Christus ähnlicher zu werden, sondern darum, wieder glücklich zu sein. Das Widersinnige aber ist, dass ich es nie sein kann, solange ich mich ausschließlich um mein Glück bemühe. Mein übergeordnetes Ziel in jeder Situation sollte es sein, biblisch zu reagieren, dem Herrn den ersten Platz einzuräumen, mich so zu verhalten, wie Er es von mir erwartet. Wenn ich alle meine Anstrengungen darauf ausrichte, so zu werden, wie Christus mich haben möchte, dann werde ich erfahren, dass Er selbst mich mit unbeschreiblicher Freude und einem Frieden erfüllt, der alles, was die Welt bieten kann, bei weitem übertrifft. Allerdings muss ich mein Teil dazu beitragen. Durch einen festen, bewussten Willensentscheid muss ich das Ziel, glücklich werden zu wollen, zurückweisen und mich dem Ziel verschreiben, Christus ähnlicher zu werden. Dann werde ich erfahren, was wirkliches Glück ist.

„Ganzheit der Person“, „Selbstverwirklichung“ und „persönliche Freiheit“ sind die Schlagworte unserer Zeit. Kaum merklich haben sie das Verlangen, Christus ähnlicher zu werden, zurücktreten lassen hinter das Interesse an der Entfaltung unserer eigenen Persönlichkeit, die – so wird uns direkt oder indirekt versprochen – uns den Weg zum Glück öffnen wird. Man braucht sich nur die Titel so mancher christlicher Bücher anzusehen: „Das Geheimnis eines glücklichen Christenlebens“, „Das Erlebnis, jemand zu sein“, „Die totale Frau“, „Mit Freude dabei“. Viele enthalten hervorragende und wirklich biblische Aussagen; aber oft zielen sie – ob ausdrücklich oder unterschwellig – mehr auf die Entfaltung unserer Persönlichkeit ab als auf eine Umgestaltung in das Bild Christi. Die Bibel dagegen lehrt uns, dass unser Glücklichsein nur ein Nebenprodukt ist. In erster Linie sollen wir Gott gehorchen, in der Wahrheit bleiben und ihn bekanntmachen. Darum kann das Glück des Einzelnen weder Ziel eines christlichen Lebens noch Ziel christlicher Beratung sein. Mit dem Streben nach Glück ist es ähnlich wie mit dem Versuch einzuschlafen: Je krampfhafter und bewusster man sich darum bemüht, desto weniger gelingt es.

Paulus sagte, es sei nicht sein Ehrgeiz (sein Ziel), glücklich zu werden, sondern in jedem Augenblick Gott zu gefallen. Welch umwandelnde Kraft hat dieser Gedanke! Wenn ich mit dem Auto zur Arbeit fahre und jemand mir die Vorfahrt nimmt, wenn meine Kinder sich im Gottesdienst daneben benehmen, wenn der Geschirrspüler streikt – immer ist es meine erste Aufgabe, Gott zu gefallen. In Hebräer 13,15.16 wird uns gezeigt, dass Priester (und wir alle sind Priester!) eine zweifache Aufgabe haben: 1. Gott zu loben und 2. anderen zu dienen. Wenn mir daran gelegen ist, Gott in jedem Augenblick zu gefallen, dann muss ich mich vor allem anderen mit Lob, Anbetung und Dienst befassen. Die biblische Begründung dafür, dass wir unsere persönlichen Probleme lösen wollen, sollte sein, dass wir in eine tiefere Gemeinschaft mit Gott treten, dass wir ihm in Anbetung und Dienst mehr gefallen wollen. Doch in den meisten seelsorgerlich-therapeutischen Bemühungen scheint dies eine weithin vernachlässigte Wahrheit zu sein.

Dabei werden wir in reichem Maße belohnt! Paulus wurde in seinen Anfechtungen gestärkt durch die Aussicht auf das ewige Leben. Er freute sich auf die wunderbare Ruhe und die ungetrübte Freude, die er inzwischen erleben darf. Sicher hat er es in den vergangenen neunzehnhundert Jahren genossen, den Herrn immer besser kennenzulernen und sich mit Petrus, Luther und auch meinen Großeltern zu unterhalten. Er ist jetzt glücklich. Aber persönliches Glück muss als Nebenprodukt, nie als Ziel gesehen werden. Ich soll Gott verherrlichen (d.h. Gottes Wesen durch mein Verhalten offenbaren), und wenn ich das tue, werde ich mich an ihm freuen. Ich muss nicht den Katechismus umschreiben wollen und behaupten, dass ich Gott verherrlichen soll, damit ich seine Gnade erlangen und mich an ihm freuen kann. Das Ziel, glücklich werden zu wollen, ist immer trügerisch, ganz gleich, mit welchen Mitteln ich es zu erreichen suche. Doch das Nebenprodukt, glücklich zu sein, steht all denen zur Verfügung, deren Ziel es ist, in jedem Augenblick Gott wohlgefällig zu leben.

Wenn Sie sich das nächste Mal mit einem persönlichen Problem herumschlagen (vielleicht gerade jetzt), dann fragen Sie sich einmal: „Warum möchte ich eigentlich mit diesem Problem fertig werden?“ Wenn die Antwort lautet: „Weil ich glücklich sein will“, dann sind Sie noch meilenweit von einer biblischen Lösung entfernt. Was können Sie tun? Setzen Sie sich bewusst, entschlossen und mit entschiedenem Willen ein neues Ziel: „Ich möchte mit diesem Problem so fertig werden, dass ich dadurch dem Herrn ähnlicher werde. Dann kann ich Gott inniger loben und ihm besser dienen.“ Beten Sie darum, dass Gott dieses Ziel in Ihnen bestätigt, und bemühen Sie sich darum, es in die Tat umzusetzen. Beginnen Sie, Gott zu loben, indem Sie ihm für das danken, was Sie am meisten stört. Überlegen Sie, wie Sie anfangen können, ihm zu dienen.

Gläubige Therapeuten müssen ein Gespür dafür haben, wie tief die Selbstsucht in unserer menschlichen Natur verwurzelt ist. Es ist erschreckend einfach, einem Menschen beim Erreichen eines unbiblischen Ziels zu helfen. Als Glieder der Gemeinde Christi haben wir jedoch die Aufgabe, einander ständig zu ermahnen und daran zu erinnern, das wahre Ziel aller biblischen Seelsorge nicht aus den Augen zu verlieren. Wir sollen die Menschen zu besserem Gotteslob und Gottesdienst befreien, indem wir ihnen helfen, Gott ähnlicher zu werden. Mit einem Wort: Das Ziel heißt Reife.


Aus dem Buch Die Last des anderen – Biblische Seelsorge als Aufgabe der Gemeinde
Brunnen-Verlag, 3. Aufl., 1992, S. 14–16

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