Das Vaterunser
Matthäus 6,9-13; Lukas 11,1-4

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© SoundWords, online seit: 29.09.2015, aktualisiert: 10.07.2022

Leitverse: Matthäus 6,9-13; Lukas 11,2-4

Das Gebet, das der Herr seine Jünger lehrte und das nach dem Anfang seines Wortlauts gewöhnlich „Vaterunser“ (Pater noster) genannt wird, finden wir an zwei Stellen des Neuen Testaments: in Matthäus 6,9-13 und in Lukas 11,2-4 (an der letzten Stelle allerdings nur fünf Bitten).

In Matthäus 6 bildet es einen Teil der sogenannten Bergpredigt, in der sich der Herr an seine jüdischen Jünger wendet, um sie aus ihrem bisherigen Fühlen und Denken in die Grundsätze des Reiches der Himmel einzuführen, das aufzurichten Er gekommen war. Nach verschiedenen vorhergegangenen Belehrungen warnt Er die Jünger davor, zu beten „wie die von den Nationen; denn sie meinen, um ihres vielen Redens willen erhört zu werden“ (Mt 6,77), und fügt dann hinzu:

Mt 6,9-13: Betet ihr nun so: Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde. Unser nötiges Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben; und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen.

In Lukas 11 wird das Gebet in anderer Weise eingeführt:

Lk 11,1-4: Und es geschah, als er an einem gewissen Ort war und betete, da sprach, als er aufhörte, einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er sprach aber zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; unser nötiges Brot gib uns täglich; und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir selbst vergeben jedem, der uns schuldig ist; und führe uns nicht in Versuchung.

Dieses Gebet ist nicht, wie man allgemein annimmt, für das ganze Menschengeschlecht ohne Unterschied bestimmt. Das geht schon daraus hervor, dass nach Matthäus der Herr seine Belehrungen nicht an die ganze Volksmenge richtete, sondern nur an den kleinen Kreis seiner Jünger (Mt 5,1) und dass nach Lukas einer seiner Jünger Ihn bat: „Lehre uns beten.“ Es drückt auch nicht den Zustand, die Bedürfnisse oder Gefühle eines jeden Menschen aus, der ein gewisses Verlangen nach Gott oder Furcht vor dem kommenden Gericht hat. Der Zöllner, der im Bewusstsein seiner Schuld und seiner Unwürdigkeit zu Gott nahte, wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, geschweige denn zu sagen: „Vater“, oder: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln“.

Der Umstand, dass der Herr nicht unmittelbar zu der Volksmenge, sondern zu seinen Jüngern redete, wird vielfach übersehen; ebenso die Tatsache, dass Er diese gerade vorher ermahnt hatte, in das einsame, verschlossene Kämmerlein zu gehen, wenn sie beten wollten. Beides beweist, dass das Gebet nicht etwa der Ausdruck einer gemeinsamen Anbetung sein soll, sondern vielmehr die passende Sprache eines seine Bedürfnisse vor Gott bringenden Jüngers. Von „Anbetung“ ist überhaupt an dieser Stelle keine Rede, denn die sogenannte Doxologie „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen“ ist ein späterer, wenn auch sehr alter Zusatz, der nicht einmal in den Zusammenhang passt.

Unser Vater, der du bist in den Himmeln

Die Jünger bildeten eine Klasse von Personen, die (Judas ausgenommen) Jesus in Wahrheit als den von Gott gesandten Messias aufgenommen hatten. Er hatte sie auserwählt und als seine Zeugen um sich versammelt. Zwar kannten die Jünger das Versöhnungswerk noch nicht, aber sie besaßen einen lebendigen Glauben an den Herrn Jesus und waren dadurch in persönliche Beziehung zu dem Vater gebracht. In einem Sinn standen sie auf demselben Boden wie die alttestamentlichen Heiligen: Sie wurden wie jene, kraft eines noch nicht vollbrachten, aber sicheren Versöhnungswerkes, von Gott mit Nachsicht getragen und waren in seinen Gedanken, weil Er auf dieses Werk blickte, errettet. Außerdem aber besaßen sie das Vorrecht, den Sohn Gottes selbst in ihrer Mitte zu haben. Sie schauten und hörten etwas, was viele Propheten und Gerechte vergeblich zu sehen und zu hören begehrt hatten (vgl. Mt 13,17).

Gerade hatte der Messias ihnen in einer wunderbaren Auseinandersetzung die Grundsätze des Reiches vorgelegt und dabei voll Mitgefühl ihrer persönlichen Umstände, ihrer Lage und ihrer Bedürfnisse gedacht. Sie waren treue, gläubige Juden, die noch unter dem Gesetz standen, denen aber das Reich der Himmel als nahe angekündigt war und die infolgedessen die baldige Aufrichtung dieses Reiches auf der Erde erwarteten. Dieser Stellung trugen die Belehrungen des Herrn Rechnung. Auf sie bezog sich auch das Gebet, das Er ihnen gab. Noch hatte Er nicht als der in den Himmel Gefahrene die Verheißung des Vaters empfangen, um sie seinen Jüngern zu geben. Sie besaßen den Heiligen Geist noch nicht. „Noch war der Geist nicht da [d.h. noch nicht ausgegossen], weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war“ (Joh 7,39). Dennoch standen diese Jünger, wie gesagt, in Verbindung mit Gott als ihrem Vater. Die Heiligung seines Namens und die Ankunft seines Reiches sollten deshalb vor allen Dingen ihre Gedanken beschäftigen. Zugleich waren sie hinsichtlich des täglichen Brotes von Ihm abhängig. Sie bedurften der Vergebung und der Bewahrung vor der Versuchung.

Mit einem Wort: Es waren Juden, die Jesus als dem Messias nachfolgten, gläubige Juden, für die Tod und Auferstehung noch nicht stattgefunden hatten, die von der in den Ratschlüssen Gottes verborgenen Versammlung oder Gemeinde und von dem Herniederkommen des Heiligen Geistes noch nichts wussten. Zu diesen gläubigen Juden sagte Jesus: „Betet ihr nun so.“

Geheiligt werde dein Name

Der Name bedeutet die Person selbst, „den HERRN der Heerscharen, den sollt ihr heiligen“ (Jes 8,13). Die gläubigen Juden hatten wohl Anlass zu dieser Bitte; musste doch schon seit langer Zeit der HERR den schweren Vorwurf an sein Volk richten: „Der Name Gottes wird euretwegen unter den Nationen gelästert“ (Röm 2,24; Hes 36,20-23). Gott wollte seine Heiligkeit erweisen durch Gerichte, verbunden mit Befreiungen: „Der HERR der Heerscharen wird im Gericht erhaben sein, und Gott, der Heilige, sich heilig erweisen in Gerechtigkeit“ (Jes 5,16). – „Als einen lieblichen Geruch werde ich euch wohlgefällig annehmen, wenn ich euch aus den Völkern herausführe und euch aus den Ländern sammle, in die ihr zerstreut worden seid, und ich mich vor den Augen der Nationen an euch heilige“ (Hes 20,41).

An die Heiligung des Namens des HERRN knüpfen sich die großen Verheißungen, deren Erfüllung das Herz des treuen Israeliten ersehnte, und wir lesen in Hesekiel 36, dass die in diesem Kapitel angekündigten Segnungen, darunter auch die Heiligung des Namens des HERRN, ein Gegenstand des Gebets der Kinder Abrahams sein werden: „Auch noch um dieses werde ich mich vom Haus Israel erbitten lassen, dass ich es ihnen tue“ (Hes 36,37).

Beachten wir indes, dass Gott hier als „Vater“ gekannt ist und als solcher angerufen wird.

Dein Reich komme

Die Aufrichtung des Reiches, des Reiches für Israel unter der Herrschaft Jesu, sitzend auf dem Thron Davids zu Jerusalem, war vielfach von den Propheten angekündigt worden. Er, der König selbst, sandte die Zwölf zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel, um zu predigen und zu sprechen: „Das Reich der Himmel ist nahe gekommen“ (Mt 10,5-7). Wir verstehen es sehr wohl, wenn der gläubige Israelit eine Zeit herbeisehnte und im Gebet erflehte, in der sein Volk zum Mittelpunkt der Macht und Segnung für die ganze Erde werden und für den HERRN ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein würde. Und mit welcher Inbrunst wird gerade diese Bitte dereinst aus dem Herzen des treuen jüdischen „Überrestes“ emporsteigen! In immer flehentlicherem Rufen wird er am Ende der Tage vor den HERRN hintreten, „bis der kommt, dem das Recht gehört“ (Hes 21,32). – Wir rufen heute: „Komm, Herr Jesus!“ (Off 22,20). Die Erwartung der Braut Christi ist nicht das Reich, sondern der Himmel, das Vaterhaus.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde

Wieder möchten wir Gottes Antwort auf dieses Gebet in den Prophezeiungen suchen. Ein himmlisches Volk hat, wenngleich es die Erfüllung dieser Bitte gewiss herbeisehnt, doch andere, ihm näher liegende Wünsche und Interessen, die mit dem zur Rechten Gottes erhöhten und verherrlichten Menschensohn in Verbindung stehen. Als „Fremdlinge und Pilger“ auf der Erde finden wir unsere Ruhe und Freude in den himmlischen Dingen und Segnungen und erwarten die Vereinigung mit Jesus droben: Ihm gleichgestaltet zu werden und Ihn zu sehen, wie Er ist.

Eine herrliche Beantwortung der dritten Bitte wird kommen, wenn der HERR mit seinem Volk einen neuen Bund gemacht hat und sagen kann: „Indem ich meine Gesetze in ihre Herzen gebe, werde ich sie auch auf ihren Sinn schreiben“; und: „Ich werde ihr Gott, und sie werden mein Volk sein“ (Heb 10,16; Jer 31,33); wenn die Zeit anbricht, wo Er „seinen Geist in ihr Inneres geben und bewirken wird, dass sie in seinen Satzungen wandeln und seine Rechte bewahren und tun“ (Hes 36,27); wenn Er „sie belehren wird aus seinen Wegen und sie wandeln wollen auf seinen Pfaden“ (Mich 4,2). Dann wird die ganze Erde voll sein der Erkenntnis des HERRN, und Gottes Wille wird geschehen, wie im Himmel so auch auf der Erde. Das ist wohl der Sinn dieser Bitte. Wenn es auch heute schon jedem Gläubigen persönlich am Herzen liegen wird, Gott zu gehorchen und alles zu tun, was er Ihm schuldet, nach dem Wort des Psalmisten: „Lehre mich dein Wohlgefallen tun! Denn du bist mein Gott“ (Ps 143,10), so dürfen wir doch die Erhörung der Bitte erst im Tausendjährigen Reich erwarten und voll und ganz wohl erst im ewigen Zustand, wenn die Gerechtigkeit in der neuen Schöpfung „wohnen“ wird (vgl. 2Pet 3,13).

Unser nötiges Brot gib uns heute

Während in den bisherigen drei Bitten die Wünsche des Beters hinsichtlich des Namens, des Reiches und des Willens Gottes zum Ausdruck gebracht wurden, sind die jetzt folgenden vier dem Zustand des Menschen als dem bedürftigen, von der Gnade Gottes abhängigen Geschöpf angepasst, zunächst gemäß seinen leiblichen und dann nach seinen seelischen Bedürfnissen.

Das Brot, und zwar „das nötige Brot“, „das Brot für den Tag, für heute“, sollten die Jünger von ihrem Vater, der in den Himmeln ist, erbitten. In demselben Kapitel werden die Jünger ermahnt, ohne Sorgen zu sein und nicht zu fragen: „Was sollen wir essen?, oder: Was sollen wir trinken?, oder: Was sollen wir anziehen? Denn“, sagt der Herr, „nach all diesem trachten die Nationen; denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr dies alles nötig habt“ (Mt 6,32).

Die Jünger lernen also von ihrem Meister, den Vater um Brot zu bitten, nur um Brot, nur um das für den Tag nötige Brot. Sie werden belehrt, sich in ihren Wünschen zu mäßigen, in der Abhängigkeit von Gott zu leben und Ihm auch hinsichtlich ihrer täglichen Nahrung zu vertrauen. Wir werden dabei an das Gebet Agurs erinnert: „Armut und Reichtum gib mir nicht, speise mich mit dem mir beschiedenen Brot; damit ich nicht satt werde und dich verleugne und spreche: Wer ist der HERR?, und damit ich nicht verarme und stehle und mich vergreife an dem Namen meines Gottes“ (Spr 30,8.9). Auch erinnert diese Bitte an das Gelübde, das Jakob einst in seinem Traum beim Anblick der Himmelsleiter tat: „Wenn Gott mit mir ist … und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen …“ (1Mo 28); auch an das Manna, das die Israeliten in der Wüste Morgen für Morgen neu sammeln mussten (2Mo 16). Der Gott ihrer Väter war auch der Gott der Jünger, war immer noch derjenige, der „Brot hervorbringt aus der Erde“ (Ps 104,14), „der Brot gibt den Hungrigen“ (Ps 146,7), der „dem in Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit Wandelnden Brot darreicht und sein Wasser nie versiegen lässt“ (Jes 33,15.16).

Auch dieser Bitte um das nötige Brot kommt eine prophetische Anwendung zu, da nach Offenbarung 12,6.14 in den Zeiten der großen Drangsal der Überrest aus Israel wieder „in der Wüste ernährt“ werden wird. Zur Zeit der Herrschaft des Antichrist, wenn niemand kaufen oder verkaufen kann als nur der, „der das Malzeichen [des Tieres] hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens“ (Off 13,16.17), werden die treuen Zeugen des Endes jedenfalls ihr Auge mehr als je zuvor nach oben richten und um das tägliche Brot zu Gott schreien. Ein wenig erfahren wir schon in der gegenwärtigen schweren Zeit von der buchstäblichen Bedeutung dieser Bitte, aber welch eine feierliche Wirklichkeit wird sie einst in dem Mund der treuen Juden haben!

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben

Es handelt sich hier um Schulden gegen Gott, um Sünden und Übertretungen des heiligen Gesetzes des Herrn. Gott allein konnte diese Schulden vergeben, und zwar im Blick auf die vollkommene Erlösung, die der Sohn des Menschen am Kreuz ausführen sollte. Bevor Jesus geboren war, hatte der Engel des Herrn zu Joseph gesagt: „Du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden“ (Mt 1,21); und Er selbst sprach: „Der Sohn des Menschen ist gekommen, um sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28).

Aber beachten wir wohl, dass hier nicht Sünder aufgefordert werden, um Vergebung zu bitten, sondern Gläubige, Jünger des Herrn, wiedergeborene Menschen, die zwar die volle Vergebung der Sünden noch nicht kannten, aber um des Wortes willen, das der Herr zu ihnen geredet hatte, für „rein“ erklärt werden konnten (Joh 15,3). Sie vermochten mit Vertrauen dieses Gebet zu dem emporsteigen zu lassen, den der Messias ihnen als „den Vater in den Himmeln“ offenbart hatte. Gemäß der Vergebung, die sie für sich erbaten, sollten sie aber auch willig sein, ihrerseits die Schulden ihrer Schuldner zu vergeben, entsprechend dem Wort des Herrn: „Wenn ihr dasteht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemand habt, damit auch euer Vater, der in den Himmeln ist, euch eure Vergehungen vergebe“ (Mk 11,25). Geradeso fügt der Herr hier hinzu: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; wenn ihr aber den Menschen ihre Vergehungen nicht vergebt, so wird euer Vater auch eure Vergehungen nicht vergeben.“ Wenn wir hart und unversöhnlich sind, kann auch unser Vater im Himmel uns unsere Verfehlungen nicht vergeben. Eine ernste, aber oft vergessene Wahrheit!

Und wenn wir nun wiederum an die prophetische Bedeutung der Bitte denken, was für eine Freude, was für ein Jubel wird einmal auf den Hügeln und in den Tälern des Landes Emmanuels ausbrechen, wenn die Verheißungen des Gottes Abrahams erfüllt sein und seine Boten die Friedensworte aussprechen werden: „Redet zum Herzen Jerusalems, und ruft ihr zu, dass ihre Mühsal vollendet, dass ihre Schuld abgetragen ist“ (Jes 40,2), und wenn die gläubigen Israeliten als Gegenstände der Gnade gelernt haben werden, Gnade gegen ihre Nächsten zu üben, gegen die Nationen sowohl als auch gegen ihre Brüder nach dem Fleisch.

Führe uns nicht in Versuchung

Versuchung hat hier nicht den Sinn eines Antriebs zum Bösen, zur Sünde. Jakobus sagt im ersten Kapitel seines Briefes ausdrücklich: „Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht; denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand“ (Jak 1,13). Und gleich nachher spricht er von der Herkunft der Sünde: Sie wird aus der Lust geboren, und wenn sie vollendet ist, so gebiert sie den Tod. Versuchungen können in der Tat von zwei Seiten an uns herantreten. Sie rühren von Gott her, wenn das Herz oder der Glaube auf die Probe gestellt wird: „Gott versuchte {prüfte} Abraham“ (1Mo 22,1); sie kommen vom Feind oder aus unserer alten bösen Natur, wenn das Fleisch durch sie angezogen und gelockt wird. So war es bei Lot, als „er seine Augen erhob und die ganze Ebene des Jordan sah“ (1Mo 13,10).

Kümmernisse, Leiden, Drangsale, Verfolgungen und dergleichen können unter Gottes Zulassung zu ernsten Versuchungen für die Jünger Jesu werden, und in dem Bewusstsein ihrer leiblichen Schwachheit und ihrer geringen geistlichen Kraft sollten sie das Bedürfnis fühlen, ihren Vater in den Himmeln zu bitten, doch nicht zu schwere Prüfungen über sie kommen zu lassen. Im Blick auf die Tatsache, dass ihr Glaube schwach war und dass sie so leicht in Sünde fallen konnten, sollten sie demütig bitten, doch nicht geprüft zu werden.

Wie oft wird auch gerade diese Bitte von dem treuen Überrest am Ende in den Mund genommen werden, in der „Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, die auf der Erde wohnen“ (Off 3,10); in der Zeit, wenn „eine große Drangsal sein wird, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird“, wenn „falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun werden, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten zu verführen“ (Mt 24,21.24).

Errette uns von dem Bösen

Es lässt sich nach dem griechischen Text nicht feststellen, ob hier das Böse (das Übel) gemeint ist, oder der Böse, wie Satan in Matthäus 13,19 und 38 genannt wird (vgl. 1Joh 2,13.14; 5,18). Beides war für die Jünger von großer Wichtigkeit. Noch unter dem Gesetz stehend, das keine Kraft gibt, um das Böse zu überwinden, bedurften sie in besonderer Weise von oben bewahrt und gekräftigt zu werden. Zugleich aber konnten sie nur dringend wünschen, von dem Bösen, dem Satan, dem Fürsten dieser Welt, errettet zu werden. Und gerade dieses letztere Flehen wird am Ende beim Überrest wohl viel gehört werden.

Zusammenfassung

Wenn wir nun alle sieben Bitten zusammenfassen, so brauchen wir nicht zu sagen, dass das Gebet in allen seinen Teilen göttlich vollkommen, in seiner Schlichtheit und Fülle unvergleichlich schön ist. Es drückt, wie jemand gesagt hat, tägliche Abhängigkeit aus; das Bedürfnis nach Vergebung; das Gefühl der Notwendigkeit einer Bewährung vor der Macht des Feindes; den Wunsch, nicht wie Hiob und Petrus vom Feind gesichtet zu werden; das Rufen um Rettung von dem Bösen; vor allen Dingen verbunden mit dem Wunsch, dass des Vaters Wille auf der Erde geschehe wie im Himmel, dass sein Reich komme und sein Name geheiligt werde. Es ist ein Gebet, das eine lebendige Verbindung mit dem heiligen und gnädigen Gott voraussetzt und daher für Unbekehrte durchaus nicht passt.

Der Herr begegnet, wie wir bereits sagten, den Jüngern auf dem Boden, den sie damals einnahmen, und lehrt sie das für ihren damaligen Zustand durchaus geeignete Gebet. Er konnte sie nicht als Anbeter betrachten, die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden haben (Heb 10,2). Von einem solchen Platz der Anbetung waren sie damals noch weit entfernt. Es findet sich in dem Gebet noch keine Spur von einer Danksagung dem Vater gegenüber, „der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt hat in das Reich des Sohnes seiner Liebe, in dem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,12-14). All das und vieles andere konnte damals nicht gesagt werden, weil das Werk der Erlösung wohl verheißen, aber noch nicht vollbracht war. Das Gebet passte sich genau dem Zustand der Jünger an, zu der Zeit als unser Herr auf der Erde war. Mit seiner Verwerfung und seinem Tod, mit seiner Auferstehung und Himmelfahrt sowie – wir müssen hinzufügen – mit dem Kommen des Heiligen Geistes am Pfingsttag wurde ihre Stellung eine ganz andere. Himmlische Hoffnungen und Verbindungen traten an die Stelle dessen, was sie bis dahin gekannt hatten. Denselben Jüngern, die der Herr dieses Gebet lehrte, sagte Er am Schluss seines Lebens, als Er schon im Geist hinter dem Kreuz stand: „Was irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, wird Er euch geben. Bis jetzt habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“ (Joh 16,23.24). Er stand im Begriff, zum Vater zurückzukehren, mit dem sie durch sein vollbrachtes Werk in die innigste Verbindung gebracht waren, und Er belehrte sie, von jetzt ab mit allen ihren Anliegen zu dem Vater zu kommen, und zwar in seinem Namen, der dem Vater über alles teuer war und der die Grundlage ihrer neuen Beziehungen zu Gott bildete.

In dem Namen Jesu beten heißt nun, nicht nur im Bewusstsein dieses Namens und seiner Kostbarkeit zu dem Vater zu reden, sondern auch in lebendiger Gemeinschaft mit Christus, seinem Wort und Willen unterworfen, von Ihm geleitet, Gott im Gebet zu nahen. Wenn der Apostel Judas für unsere Tage neben dem auferbauenden Wort Gottes das Gebet empfiehlt zu unserem Schutz und Segen, so sagt er: „Betend im Heiligen Geist, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes!“ (Jud 20.21).

Ich wiederhole: Das „Vaterunser“ war also für wahre Gläubige bestimmt, für die aber die Erlösung noch in der Zukunft lag und die den Heiligen Geist noch nicht empfangen hatten. Die Jünger befanden sich gewissermaßen noch im „Kindeszustand“, und der Herr gab ihnen ein Mustergebet, das diesem Zustand entsprach. Später, als sie vergleichsweise Männer, Erwachsene, geworden waren, lehrte der Heilige Geist sie beten, und der Geist Gottes bedient sich keiner festgelegten Formen, da sie nicht passen für solche, die die Schrift „vollkommen“ (erwachsen) nennt (Kol 4,12; Phil 3,15). ,,Wo der Geist des Herrn ist, ist Freiheit“ (2Kor 3,17), Freiheit in den Beziehungen zu Gott, und daher sind vorgeschriebene oder festgelegte Gebete nicht mehr am Platz.

Trotzdem mag es heute noch viele treue und einfältige Christen geben, die das Vaterunser mit Segen sprechen, weil es ja die Worte des Herrn sind, eines Herrn, der voll Barmherzigkeit und Gnade für uns ist und der auch dieses Gebet erhören wird, wenn auch nicht nach dem eigentlichen Sinn der Bitten, der dem Beter unbekannt ist, sondern nach dem aufrichtigen Wunsch des Herzens, wie es ihn in diesem Gebet zum Ausdruck zu bringen sucht. Nichtsdestoweniger bleibt es wahr, dass für die Zeit des „Evangeliums der Herrlichkeit“ (2Kor 4,4) dieses Gebet des Herrn nicht gegeben ist. Der Betende wendet sich zurück und stellt sich selbst – denn Gott tut es nicht – sozusagen vor die Erlösung, vor das Kreuz statt dahinter. Er versteht nicht die kostbaren Vorrechte, die ihm in Christus geschenkt sind, und er schätzt, ohne es zu wollen, die Leiden und die Herrlichkeit des Herrn nicht so, wie er es sollte.

So finden wir denn auch im ganzen übrigen Neuen Testament keine Andeutung des „Vaterunsers“, obgleich uns verschiedene Gebete im Wortlaut mitgeteilt sind und auch oft von unserem Beten die Rede ist.


Originaltitel: „Das ,Vaterunser‘“
aus Botschafter des Heils in Christo, Jg. 64, 1916, S. 169–183.
Von der Redaktion sprachlich leicht überarbeitet.


Hinweis der Redaktion:

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