Das Gebet des Herrn
Matthäus 6,9-13

William Kelly

© SoundWords, online seit: 09.04.2010, aktualisiert: 04.11.2022

Leitverse: Matthäus 6,9-13

Mt 6,9-13: Betet ihr nun so: Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde. Unser nötiges Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben; und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen.

Was bedeutet das Gebet des Herrn und auf wen ist es anzuwenden?

Welches ist die Bedeutung des Gebets des Herrn und auf wen ist es anzuwenden? Ist sein Gebrauch auf die Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu beschränken oder auch auf die Zeit nach seinem Tod und auf die Gegenwart auszudehnen?

Das sind Fragen, die oft gestellt werden und deren Beantwortung schon mancher aufrichtigen Seele Schwierigkeit gemacht hat. Mit des Herrn Hilfe wollen wir versuchen, sie in dem Nachfolgenden zu beantworten.

Zunächst sind es nur zwei Evangelisten, Matthäus und Lukas, die das Gebet des Herrn, und zwar in verschiedener Form, erwähnen. Beide Formen sind ohne Zweifel von gleicher, das heißt göttlicher Autorität, und wenn Lukas zwei Bitten auslässt, so hat dies nicht etwa seinen Grund darin, dass ihm diese entfallen wären und sein Gedächtnis ihn betrogen hätte, sondern die Auslassung steht in enger Verbindung mit dem Gegenstand, der vor seinem Geist oder vielmehr vor dem Geist dessen stand, der ihn inspirierte.

Das Evangelium nach Matthäus stellt uns den Herrn in seinem Charakter als der Messias, der Sohn Davids vor, der in der Mitte seines Volkes erschienen war, um alle Verheißungen des Alten Testaments zu erfüllen. Der Herr redet deshalb dort als Jahwe-Messias, der nicht gekommen ist, um die Satzungen seines Knechtes Mose und die Gebote des Gesetzes aufzulösen, sondern um in seiner Autorität als Herr ein neues, himmlisches Licht über die Gebote des Gesetzes zu verbreiten und um so den Weg für andere weit höhere Dinge zu bereiten. Deshalb begegnen wir wiederholt den Worten: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: … ich aber sage euch …“ In Übereinstimmung damit wird auch in Matthäus das Gebet in direkten Gegensatz gebracht zu der jüdischen oder pharisäischen Sucht, von den Leuten gesehen zu werden, und zu ihrem Mangel an wahrer Frömmigkeit, und der Strom der erhabenen Sprache dieses Gebets wird nicht unterbrochen.

In dem Evangelium nach Lukas tritt der Charakter Jesu als des Sohnes des Menschen mehr in den Vordergrund – als dessen, der gekommen ist, um dem Zustand und den Bedürfnissen des Menschen (nicht allein des Juden) zu begegnen. Die erzählten Ereignisse und Gleichnisse stehen damit in lieblicher Übereinstimmung. Wir finden in Lukas die Geschichte der großen Sünderin, das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter und das von dem verlorenen Sohn, die Geschichte von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, von Zachäus dem Oberzöllner usw. In dem ganzen Evangelium tritt uns das anbetungswürdige Verlangen des Herzens Gottes entgegen, die im Judentum aufgerichteten engen Schranken zu durchbrechen und die Ströme seiner Liebe überallhin ausfließen zu lassen, wo die Sünde Not und Elend angerichtet hatte. Deshalb steht hier das Gebet des Herrn auch nicht im Gegensatz zu der eigengerechten und prahlerischen Anbetung der Pharisäer, sondern ist vielmehr eins der Elemente, die zum geistlichen Leben notwendig sind.

In keinem Evangelium wird uns so oft erzählt, dass der Herr betete, als gerade in Lukas, und dies ist wieder in Übereinstimmung mit dem ganzen Charakter des Herrn in diesem Teil der Schrift. Er ist der Sohn des Menschen, der in völliger Abhängigkeit von Gott, dem Vater, durch diese Welt pilgert und nötig hat – ich sage dies mit tiefer Ehrerbietung, denn es ist ein Beweis von der Vollkommenheit Jesu als Mensch –, von Gott gestärkt und erquickt zu werden. Am Ende von Matthäus 10 sehen wir Maria zu den Füßen Jesu, um aus seinem Mund Worte des ewigen Lebens zu vernehmen. Sie hat das gute Teil erwählt: Ihn selbst, das lebendige Wort.

Doch außer dem Wort Gottes haben wir ein anderes Element nötig. Wir sind durch dieses Wort wiedergezeugt und werden durch dasselbe belehrt, ernährt und gereinigt. Doch trotzdem bedürfen wir als abhängige, schwache Menschen auf der Erde noch etwas anderes, und das ist das Gebet. Das Gebet ist das praktische Mittel, uns in der Gegenwart Gottes zu erhalten und das Wort nutzenbringend und heiligend für uns zu machen. Und so finden wir in Lukas das Gebet des Herrn als eine Antwort auf das Bedürfnis der Jünger. Sie bitten ihn: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte“ (Lk 11,1). Die Auslassung der dritten Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde“ (Mt 6,10), ist ein weiterer Beweis für die Wahrheit unserer Behauptung, dass wir in Lukas auf ganz anderem Boden stehen als in Matthäus. Für einen Israeliten war jene Bitte völlig passend. Für ihn bleibt es stets ein richtiger Wunsch, dass der Wille Gottes auf der Erde geschehe wie im Himmel. Aber was wusste ein armer Heide von den gerechten Erwartungen Israels bezüglich der Erde?

Doch es würde uns zu weit führen, wollten wir den Unterschied zwischen den beiden Formen des Gebets noch länger verfolgen. Kehren wir deshalb zurück zu der umfassenderen Form, wie sie uns von Matthäus gegeben wird, um an der Hand der Worte des Herrn unsere erste Frage zu beantworten: Welches ist die Bedeutung des Gebets des Herrn und auf wen ist es anzuwenden?

Der erste wichtige Punkt, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers richten möchte, ist die Übereinstimmung des Gebets mit dem Platz, den es einnimmt, und mit dem Zweck, den der Herr verfolgte. Es findet sich bekanntlich in der sogenannten Bergpredigt, in der der Herr sich an seine jüdischen Jünger wendet, um sie aus ihren bisherigen Gedanken, Gefühlen und Wegen in die neuen Grundsätze des Reiches der Himmel einzuführen, das aufzurichten Er im Begriff stand. Wir müssen dies durchaus festhalten, wenn wir die Bedeutung und den Zweck des Gebets verstehen wollen.

Es ist nicht bestimmt für das ganze Menschengeschlecht ohne Unterschied. (Dies geht auch deutlich aus dem Evangelium nach Lukas hervor, wo wir lesen: „Und es geschah, als er an einem gewissen Ort war und betete, da sprach, als er aufhörte, einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten“ [Lk 11,1].) Es drückt nicht den Zustand, die Bedürfnisse und Gefühle eines jeden Menschen aus, der ein gewisses Verlangen nach Gott oder eine gewisse Furcht vor dem kommenden Zorn hat. Der Zöllner, der sich im tiefen Bewusstsein seiner Schuld und seiner Unwürdigkeit Gott naht, wagt nicht einmal, seine Augen aufzuheben, geschweige denn zu sagen: „Vater“, oder: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln“. Er denkt nicht im Entferntesten daran, die erhabenen Bitten auszusprechen, mit denen das Gebet des Herrn beginnt, noch hat er den Mut, an das Erbarmen Gottes zu denken und an seine Bereitwilligkeit, dem Sünder zu vergeben, wie wir sie in der letzten Hälfte des Gebets ausgedrückt finden. „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ (Lk 18,13) – das war der richtige und passende Schrei, der aus seinem zermalmten Herzen hervordrang. Und deshalb ging er gerechtfertigt hinab in sein Haus, mehr als jener Pharisäer, der in seinem Gebet nur seiner Eigengerechtigkeit Ausdruck gab und Gott für das dankte, was er und nicht was Gott war.

Wenn wir nun fragen: Wie können wir wissen, für wen das Gebet des Herrn bestimmt war?, so gibt es zwei Wege, auf denen wir zu einer richtigen Antwort kommen können. Zunächst haben wir zu untersuchen, welche Personen der Herr im Auge hatte und in welcher Verbindung das Gebet vorkommt, und dann müssen wir die Natur der Bitten getrennt und im Ganzen betrachten, und wir werden finden, dass dieselben mit den wahren Bedürfnissen derer, für die das Gebet bestimmt war, in völliger Harmonie standen.

Es ist offenbar, dass eine große Menschenmenge der Bergpredigt zuhörte, aber ebenso klar geht aus dem Anfang von Matthäus 5 hervor, dass der Herr seine Worte nicht unmittelbar an die Menge richtete. Er hatte seine Jünger vor sich, und für ihre Bedürfnisse trug Er Sorge als solche, die sich noch immer unter dem Gesetz befanden. „Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Glückselig die Armen im Geist …“ (Mt 5,1-3). Die Jünger bildeten eine Klasse von Personen, die (mit Ausnahme von Judas) Jesus in Wahrheit als den von Gott gesandten Messias angenommen hatten. Er hatte sie auserwählt; sie waren um Ihn versammelt als seine Zeugen und schon damals in gewisser Beziehung von dem übrigen Volk getrennt – auch wenn sie das nach seinem Tod und seiner Auferstehung in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes unendlich weit mehr waren. An sie wandte sich der Herr in seiner Predigt, und sie waren auch die Personen, an die Er in seinem Gebet dachte.

Obwohl daher die Predigt aus einer bewunderungswürdigen Darstellung der Grundsätze des Reiches besteht und große und kostbare Wahrheiten verkündigt, die stets bleiben werden, so übersah der Herr in seiner Gnade doch nicht die damaligen tatsächlichen Umstände seiner Jünger. Im Gegenteil sind viele einzelne Stellen ihrer vollen Bedeutung nach auf ihre Bedürfnisse anzuwenden und ihrem Zustand angepasst. Und der Herr sorgte nicht nur für sie als der, der infolge seiner göttlichen Allwissenheit alles kannte, sondern der als Mensch – geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz – aus Erfahrung wusste, was sie am meisten bedurften und wo ihre wahren Gefahren lagen. Denn obwohl Er Sohn war, lernte Er an dem, was Er litt, den Gehorsam (Heb 5,8).

Der Gehorsam war eine ganz neue Sache für Ihn; nicht als ob Er eine rebellische, widerspenstige Natur besessen hätte wie wir – o nein, denn Er war der Reine, der Heilige, Er war Gott selbst –, sondern weil Er das Wort war, das alle Dinge, die sichtbaren und die unsichtbaren, ins Dasein gerufen hatte. Deshalb musste Er Gehorsam lernen, denn Er hatte in diesem Sinne nie zu gehorchen brauchen, und Er lernte den Gehorsam auf einem Pfad voller Leiden, wie sie niemand außer Ihm kennen konnte.

Was war nun sein erster, letzter und beständiger Gedanke, während Er über die Erde pilgerte und in vollkommener Gnade seinen Dienst ausübte? Es war der Name seines Vaters, wie Er an einer Stelle sagt: „Der lebendige Vater hat mich gesandt, und ich lebe des Vaters wegen“ (Joh 6,57). Er war gekommen, um den Namen des Vaters zu offenbaren, und in Übereinstimmung damit stellt Er die Gefühle seines eigenen Herzens als den ersten und vorherrschenden Gedanken seiner Jünger in ihrer Unterredung mit dem Vater dar. Einige der Bitten, die Er in ihren Mund legen wollte, waren nur für sie passend, wie zum Beispiel die Bitte bezüglich der Vergebung ihrer Sünden; aber Er wollte, dass sie mit ihrem Vater, nicht mit sich selbst beginnen sollten.

Dementsprechend teilt sich das Gebet naturgemäß in zwei Hälften. Der erste Teil besteht aus Wünschen, die der Gerechtigkeit in ihrem weitesten und höchsten Sinn angemessen sind; es ist, wenn wir so sagen dürfen, die Atmosphäre, in der der Herr selbst auf der Erde lebte und sich bewegte. Der zweite Teil setzt sich aus Bitten zusammen, passend für solche, die in jeder Beziehung bedürftig, trotzdem aber die Gegenstände der Gnade waren. Die drei ersten Bitten bilden den einen, die vier letzten den anderen Teil.

Der Titel, mit dem Gott im Beginn des Gebets angeredet wird, steht im völligen Einklang mit dem Evangelium und der damaligen Stellung der Jünger: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln …“ (Mt 6,9). Es ist dies ein Ausdruck, der häufig im Matthäusevangelium vorkommt, und zwar hier allein. Im Evangelium nach Lukas heißt es einfach: „Vater“. Woher kommt dieser Unterschied?

Wie schon oben angedeutet, werden die Jünger bei Matthäus mehr in ihrer Verbindung mit dem irdischen Volk betrachtet; als solche waren sie gewöhnt, auf die Erde zu blicken als den Schauplatz, auf dem ihr Volk die verheißene Erhebung und Segnung zu erwarten hatte. Der Herr aber ist beschäftigt, ihre rein jüdischen Bande zu lösen, indem Er ihnen einen himmlischen Vater offenbart, mit dem sie es fernerhin zu tun haben würden. Es ist hier nicht „der Herr der ganzen Erde“, der den Jordan zu einer Heerstraße für sein siegreiches Volk machte, so dass es trockenen Fußes hindurchziehen und das Land in Besitz nehmen konnte, noch ist es „der Gott des Himmel“, der in unumschränkter Macht und nach seinem höchsten Willen den Nationen in der Person Nebukadnezars die Herrschaft übergab, nachdem sein Volk in der traurigsten Weise gefehlt hatte. Aber ebenso wenig findet sich hier die Fülle des Segens, die die Botschaft enthielt, die durch Maria Magdalena vonseiten des auferstandenen Herrn den Jüngern gebracht wurde: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh 20,17).

Die Anrede trägt, wenn ich so sagen darf, einen Zwischencharakter. Sie geht über die rein jüdische Stellung hinaus, erreicht aber nicht die Höhe der christlichen Stellung. Der Vater wird betrachtet als im Himmel befindlich, und diejenigen, die zu Ihm emporblicken, sind auf der Erde, gleichsam weit von Ihm entfernt und in einem Zustand der Schwachheit, des Bedürfnisses und der Gefahr, obgleich mit Herzen, die in einem gewissen Maß sich nach seiner Verherrlichung sehnen. (Wie unendlich höher ist die Segnung, die wir in Epheser 1,3 und 2,6 finden! Dort wird der Christ, selbst während er noch in dieser Welt ist, betrachtet als versetzt in die himmlischen Örter, auf das Innigste verbunden mit dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Es ist ein unermesslicher Schritt vorwärts.) Der Herr wünscht ihren ersten Gedanken auf den Vater droben zu richten und ihren Geist damit vertraut zu machen, auf Ihn zu blicken als den unendlich gesegneten und gnädigen und zugleich höchsten Gott. In jenem Augenblick war das Gefühl und Bewusstsein der Nähe, die später ihr Vorrecht sein sollte, unmöglich. Nichtsdestoweniger behandelt sie der Herr als wahre Gläubige aus den Juden und leitet ihre Seelen zu höheren Dingen, indem Er die Autorität des Gesetzes aufrechthält und seinen Bereich ausdehnt.

Allein, wir suchen vergebens nach einer Anspielung auf das Erlösungswerk, sowohl in dem Gebet als auch in der ganzen Bergpredigt. Diejenigen, die der Herr zu beten lehrt, werden durchaus nicht als Anbeter betrachtet, die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden haben. Sie waren so weit davon entfernt, einen solchen Platz der Annehmung zu kennen und zu genießen, dass sie damals eine solche Sprache gar nicht verstanden hätten. Es findet sich hier keine Spur von einer Danksagung dem Vater gegenüber, „der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt hat in das Reich des Sohnes seiner Liebe“ (Kol 1,12.13). Alles dieses und noch vieles andere konnte damals nicht gesagt werden, weil das Werk der Erlösung wohl verheißen, aber noch nicht vollbracht war. Dies verleiht dem ganzen Gebet seinen besonderen Charakter. Gott übereilt nichts in seinen Wegen. Die Gläubigen konnten erst dann die Resultate des Leidens Christi und der Sendung des Heiligen Geistes kennen und genießen, als diese beiden glorreichen Tatsachen erfüllt waren. Nicht dass ich dem Gebet des Herrn oder seiner Predigt eine Unvollkommenheit unterschieben wollte – Gott bewahre mich vor einem solchen Gedanken! Ich betrachte im Gegenteil einen jeden, der von dem einen oder anderen in verächtlicher Weise redet, als einen Lästerer.

Der Herr begegnet den Jüngern auf dem Boden, den sie damals einnahmen. Hätte Er ihnen die Wahrheiten mitgeteilt, die erst offenbart wurden, nachdem Er gestorben und der Heilige Geist herniedergekommen war, so wäre ihnen seine Sprache völlig unverständlich geblieben. Das Gebet war durchaus passend für ihren damaligen Zustand und deshalb vollkommen. Ein Gebet, das der Stellung, der Erfahrung und Anbetung entsprochen hätte, die einer vollendeten Erlösung angemessen sind, wäre für sie nicht das vollkommene Gebet gewesen.

Nehmen wir als Beispiel einen Majestätsverbrecher, der im Gefängnis sitzt und für den eine Bittschrift aufgesetzt und an den König geschickt wird. Wenn sie richtig abgefasst ist, so werden wenigstens zwei Dinge sie kennzeichnen: Zunächst wird sie eine völlige Anerkennung der beleidigten Majestät und dann ein demütiges, umfassendes Bekenntnis der Schuld des Gefangenen enthalten. Denn das ist die einzig passende Sprache unter solchen Umständen. Der Gefangene mag Grund haben, zu hoffen, dass seine Bittschrift in den Augen des Königs Gnade finden werde. Aber diese Hoffnung gründet sich nicht auf eine Unkenntnis der tatsächlichen Umstände, sondern vielmehr auf sein freimütiges Bekenntnis und auf die Gnade des Königs. Die Sprache eines freien Mannes zu führen, würde ihm nicht geziemen.

Der Zustand derer, die sich unter dem Gesetz befanden, war der Hauptsache nach dem jenes Gefangenen gleich, bis die vollbrachte Versöhnung alles änderte. Sie besaßen Vertrauen auf Gott, dass Er sie retten würde, und mit Recht; denn dieses Vertrauen gründete sich auf eine gläubige Würdigung des Charakters Gottes und auf seine bestimmten Verheißungen, obgleich die Israeliten wussten, was sie selbst waren. Er hatte ihnen wieder und wieder, durch Wort und Eid, in Vorbildern und Prophezeiungen, ankündigen lassen, dass Er durch den Messias die Befreiung aller vollführen würde, die ihr Vertrauen auf Ihn setzten. Dennoch waren sie noch nicht in Freiheit gesetzt, so gewiss sie sein mochten, dass es geschehen würde, weil dies von seiner Güte und Treue abhing; und „nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge“ (4Mo 23,19). Aber bis dahin war es nur eine Sache des Begehrens, nicht des Besitzes, ein ersehntes und erbetenes Vorrecht; es konnte erst dann von ihnen als ein beständiges Teil empfangen und genossen werden, als der Tod und die Auferstehung Christi es zu einer Forderung der Gerechtigkeit Gottes machten, so mit dem Gläubigen zu handeln.

In den Psalmen finden wir den Ausdruck der Gefühle und Erfahrungen des gläubigen Israeliten. Zuweilen sind die Sprecher voll von Hoffnung, dann wieder voll von Furcht; in dem einen Augenblick bekennen sie, Schafe der Weide Gottes zu sein, und im nächsten sind sie bange, von der Glut seines Zornes verzehrt zu werden. All dies war die Erfahrung der Gläubigen, bevor das Kreuz Christi es dem Heiligen Geist möglich machte, der Seele von dem vollkommenen und ewigen Hinwegtun der Sünden Zeugnis zu geben. Es war gut und von Gott, dass jene Gläubige ihren Zustand fühlten, aber es war nicht die Erfahrung, die der von dem Heiligen Geist unterwiesene Christ macht. Und in jenem Zustand befanden sich die Jünger vor dem Tod des Herrn ebenfalls. Viele Propheten und Könige hatten begehrt, zu sehen, was die Jünger sahen, und zu hören, was sie hörten; aber dennoch war die Versöhnung mit all ihren herrlichen Folgen noch eine zukünftige Segnung; ihre Blicke waren darauf hingerichtet, aber die Versöhnung war noch nicht vollbracht. Das Gebet des Herrn nun war der vollkommene Ausdruck ihrer Wünsche und Bedürfnisse, bevor jener mächtige Wechsel eintrat. Ich mache wiederholt hierauf aufmerksam, da es zu einem klaren Verständnis des Gebets des Herrn vor allem nötig ist, die Stellung derer zu erkennen, denen es ursprünglich gegeben wurde. Stets wird es missverstanden werden, wenn man den neuen Boden nicht in Betracht zieht, auf dem der Gläubige durch die vollbrachte Erlösung gestellt ist.

Beachtenswert ist es auch, dass das Gebet der Ausdruck persönlicher Bedürfnisse ist. Ich meine nicht, dass die Jünger es nicht gemeinsam so gut wie einzeln gebraucht haben mögen; allein, nirgendwo setzt es Christen voraus, die zu einem Leib gebildet sind. Ein Gebet für die Kirche oder Versammlung als solche ist es daher nicht, denn nie geht es über den Begriff einer Gemeinschaft von einzelnen Gläubigen hinaus, und nirgendwo berücksichtigt es das einigende Band des Geistes, der zu einem Leib tauft. Dies wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir, so kurz wie möglich, einen Blick auf die einzelnen Teile werfen.

„Geheiligt werde dein Name“ ist die Grundlage von allem – das erste und stärkste Gefühl eines erneuerten Gemütes. Hervorfließend aus dem Bewusstsein der Heiligkeit, die dem Namen des Vaters angemessen und für jede Seele, die mit Ihm zu tun hat, sowie für sein Haus auf ewig geziemend ist, schließt sich sogleich der Wunsch nach der Herrlichkeit daran, in der alles dem Herzen und Charakter des Vaters entsprechen wird.

„Dein Reich komme!“ Es ist hier nicht gerade das Reich Christi, sondern das des Vaters. Wenn wir das Evangelium des Matthäus sorgfältig lesen, werden wir finden, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Reich des Vaters und dem Reich des Sohnes des Menschen. Am Ende des gegenwärtigen Zeitalters wird der Herr die Welt als sein Reich übernehmen und es durch seine richterliche Macht früher oder später von allem Bösen reinigen (vgl. Mt 13,41-43). Das Reich des Vaters trägt mehr einen himmlischen Charakter; in diesem Reich werden nur die Gerechten leuchten wie die Sonne.

Doch es genügt dem Herzen nicht, dass des Vaters Wille nur im Himmel geschehe. Deshalb lautet die dritte Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde.“ Hiermit schließt der erste Teil des Gebets. Es folgt dann das, was passend war für die Jünger als die Gegenstände des göttlichen Mitgefühls, inmitten eines Schauplatzes des Elends und der mannigfaltigsten Versuchungen. Zunächst wird ihr leibliches Bedürfnis bekannt, dann das der Seele: „Unser nötiges Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.“ Die erste Bitte bedarf keiner Erklärung, die zweite stellt die Jünger auf den Boden des barmherzigen Geistes, der am Schluss von Matthäus 5 ihnen so nachdrücklich von dem Herrn vorgehalten worden war. Es sollte nicht länger heißen: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, nicht länger sollte Böses mit Bösem vergolten werden, sondern es galt jetzt, nur Gutes und allezeit Gutes zu tun. Das vollkommene Muster für die Jünger war ihr himmlischer Vater, nicht nur Gott als Gott. In diesem letzteren Charakter hat Gott von Zeit zu Zeit sein Gericht über die Bösen ausgeübt und sie seinen starken Arm fühlen lassen, und Er wird dies am Ende in vollkommener, gerechter Weise tun. Als Vater im Himmel aber lässt Er seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Es handelt sich hier nicht um seine innigen und ewigen Beziehungen zu seinen Kindern; diese genießen seine Liebe in ihrer ganzen überströmenden Fülle.)

So belehrt denn der Herr seine Jünger, auch dieselbe vergebende Liebe andern gegenüber zu offenbaren, und zwar im Bewusstsein ihres eigenen Bedürfnisses dieser Liebe. Israel als Volk war verantwortlich, nach dem Gesetz zu wandeln, und der Charakter des Gesetzes war nicht Gnade und Barmherzigkeit, sondern es erforderte ein gerechtes Gericht über den Schuldigen. Aber jetzt sollte in den Jüngern ein anderer Grundsatz herrschen, nicht der einer irdischen, vergeltenden Gerechtigkeit, sondern einer himmlischen Gnade, die die Macht hat, den Sünder umzuwandeln und seine Schuld zu vergeben. Die gläubigen Juden wurden so aus ihrer alten Stellung herausgenommen und auf einen ganz neuen Boden versetzt, wo sie es mit einem Vater im Himmel zu tun hatten und verantwortlich waren, seinen Charakter auf der Erde widerzuspiegeln.

Wieder tun wir wohl, uns daran zu erinnern, welche Personen es waren, die der Herr belehrte, so mit ihrem Vater zu reden. Es waren Jünger, die auf diese Weise die beständige Notwendigkeit der Abhängigkeit von dem Vater sowie des Bekenntnisses ihrer Schuld gezeigt wurde. Nichtsdestoweniger wird der Vater gebeten, die Schuld seiner Kinder zu vergeben; es handelt sich hier nicht im Geringsten um einen armen Sünder, der über seine Sünden in Not ist und Christus nicht kennt. Die Schrift hat an vielen anderen Stellen Vorsorge für einen solchen getroffen, aber hier stehen ganz andere Personen in Frage. Macht Gott in irgendeiner Weise oder in irgendeinem Maß die Vergebung der Sünden eines Unbekehrten abhängig von der Vergebung, die dieser seinem Mitmenschen zuteilwerden lässt? Ganz gewiss nicht. Das hieße in der Tat, an einen Menschen, der sich in dem niedrigsten Zustand befindet, die höchstmögliche Anforderung stellen; es hieße, dem Sünder ein neues und weit verhängnisvolleres Gesetz auflegen, als das vom Berg Sinai war. Mit einem Wort: Es würde das Evangelium leugnen, jede Hoffnung des Sünders zerstören und die Errettung von Werken und nicht mehr von der Gnade abhängig machen.

Diese Bitte, die von Unwissenden oft angeführt wird, um zu beweisen, dass die Menschen ohne Unterschied hier gemeint wären, zeigt also gerade, wie völlig unmöglich es ist, das Gebet des Herrn auf den Menschen von Natur anzuwenden. Es setzt eine lebendige Verbindung mit Gott durch den Glauben voraus. Diejenigen, zu denen der Herr redete, kannten allerdings weder die Versöhnung noch die neuen Rechte, die die Erfüllung der Versöhnung herbeiführen sollte; aber sie besaßen einen lebendigen Glauben an den Herrn Jesus – es waren Personen, die sicher in den Himmel gegangen wären, wenn Gott sie damals abgerufen hätte. Sie standen insoweit auf demselben Boden wie die alttestamentlichen Heiligen; sie wurden wie jene von Gott mit Nachsicht getragen kraft eines noch nicht vollendeten, aber sicheren Werkes; sie waren in den Gedanken Gottes errettet, weil Er auf jenes Werk hinblickte. Die Jünger besaßen das Vorrecht, den Herrn in ihrer Mitte zu haben, aber von dem gesegneten, vollkommenen Heil, das Er durch seinen Tod und seine Auferstehung herbeiführen wollte, hatten sie nur eine höchst schwache, dunkle Vorstellung. In dieser und für diesen Zustand der Dinge wurde das Gebet des Herrn gegeben.

Weiter werden die Jünger belehrt, den Vater zu bitten, sie nicht in Versuchung zu führen. Es ist offenbar, dass es sich hier nicht um Versuchungen im Sinne von sündigen Begierden handelt; denn Gott versucht niemand zum Bösen. Vielmehr sind es Prüfungen und Sichtungen, durch die Gott die Seinen nach seiner Weisheit gehen lässt. Eine Versuchung in diesem Sinn war es, wenn Petrus auf die Probe gestellt wurde, ob er angesichts der Schmach und Schande seinen Herrn und Meister verleugnen würde. Der hatte ihn gewarnt, aber in seinem hohen Selbstvertrauen ließ der Apostel die Warnung unbeachtet, schlief, als er hätte wachen und beten sollen, und fiel infolgedessen wiederholt in der traurigsten Weise. Es war daher ganz richtig, wenn die Jünger, im Bewusstsein ihrer Kraftlosigkeit und ihrer Geneigtheit zu fallen, den Vater baten, sie nicht in solch versuchungsreiche Umstände zu führen. Die Folge einer solchen Versuchung ist, dass da, wo es ungerichtetes Böses im Herzen gibt, das Böse zur eigenen Demütigung zum Vorschein kommt. Das im Innern verborgen wirkende Böse wird dadurch ans Licht gebracht.

Der Herr Jesus ging durch jede Art von Versuchung hindurch: zuerst in der Wüste und dann, am Ende seines Weges, in Gethsemane, wo die Macht der Finsternis Ihn aufs Äußerste bedrängte. Allein, Er hatte nicht in sich, auf das Satan hätte einwirken können, wie Er auch sagte: „Der Fürst der Welt kommt und hat nichts in mir“ (Joh 14,30). In uns gibt es etwas, was durch die Versuchung zum Vorschein gebracht wird, und wenn wir uns dann nicht in aller Einfalt auf den Herrn stützen, so fallen wir in Sünde gegen Ihn. Deshalb wird auch sogleich die Bitte hinzugefügt: „… sondern errette uns von dem Bösen.“ Denn die Wirkung der Versuchung ist, wie gesagt, das Offenbarwerden des Bösen, wenn das Fleisch nicht gerichtet ist, und Satan, die Quelle und der erste Anreger des Bösen, gewinnt einen Vorteil über die Seele.

Auf die Lobpreisung am Ende des Gebets: „Denn dein ist das Reich …“, das sich in vielen Übersetzungen findet, brauchen wir nicht näher einzugehen, da sie in den meisten älteren Handschriften fehlt und wahrscheinlich im Laufe des vierten Jahrhunderts von Abschreibern eingefügt worden ist.

Was ist der Zweck des „Vaterunsers“?

Wir kommen jetzt zur Beantwortung der zweiten Frage: Was war die Absicht des Herrn bezüglich des Gebrauchs seines Gebets? Ist dieser Gebrauch auf die Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu beschränken oder auch auf die Zeit nach seinem Tod und auf die Gegenwart auszudehnen? Die Antwort auf diese Fragen ist eigentlich schon in dem früher Gesagten eingeschlossen. Wir haben gesehen, dass das Gebet genau dem Zustand entsprach, in dem sich die Jünger befanden, bevor der Herr sein Werk vollendet hatte. Hieraus folgt: Sobald die Erlösung eine Tatsache und eine bekannte Grundlage der Beziehungen zu Gott geworden war, wurden für diejenigen, die im Genuss der vollen Resultate des Erlösungswerkes standen, andere Gebete passend, die ihren neuen Umständen angemessen waren. Mit anderen Worten: Die Bitten jenes aus dem Gefängnis entlassenen Verbrechers – um unser Bild weiter zu gebrauchen – können nicht denen gleich sein, die er im Gefängnis äußerte; er müsste sich denn in einer großen Selbsttäuschung befinden, wenn er nach seiner Befreiung Gesuch um Begnadigung und Vergebung erneuern würde. Vielmehr wird er im Bewusstsein der erhaltenen Begnadigung seinem Herrn danken und ihm in Treue und Unterwürfigkeit sein Leben lang dienen.

Aber wir wissen, dass außerdem die Erfüllung der Versöhnung die Grundlage eines anderen erhabenen Vorrechts wurde, nämlich der Gabe des Heiligen Geistes in einer Weise, von der die alttestamentlichen Heiligen keine Erfahrung hatten. Wir müssen uns erinnern, dass es gewisse Wirkungen des Geistes gibt, die das gemeinsame Teil aller Gläubigen jedes Zeitalters sind, wie zum Beispiel die neue Geburt, die Überführung von der Sünde und die Hervorbringung eines heiligen Gehorsams in Herz und Wandel. Noah, Abraham, David etc. waren alle aus Gott geboren, sie waren gläubige Männer, und der Heilige Geist wirkte in ihnen. Die Propheten des Alten Testaments redeten, getrieben von dem Heiligen Geist.

Aber während dies wohl alle Christen anerkennen, gibt es eine andere Wahrheit, die nicht so allgemein erkannt und angenommen wird. Als der Herr im Begriff stand, sein Werk auf Erden zu vollenden und zum Vater zurückzukehren, verhieß Er seinen Jüngern, ihnen den Heiligen Geist in einer bisher unbekannten Weise zu geben. Die Jünger waren damals ohne Zweifel Gläubige und im Besitz des ewigen Lebens. Allein, wir hören aus dem Mund des Herrn kurz vor seinem Weggang die Worte: „Es ist euch nützlich, dass ich weggehe.“ Wie konnte es nützlich für sie sein, ihren besten Freund und ihren Heiland zu verlieren? War es für sie nicht weit besser und in jeder Hinsicht vorzuziehen, wenn Er bei ihnen blieb? Das Wort des Herrn ist klar und einfach: „Es ist euch nützlich, das ich weggehe; denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7).

Zeigen diese Worte nicht deutlich, dass den Jüngern eine neue, unermessliche Segnung zuteilwerden sollte, die sie bis dahin nicht gekannt und genossen hatten? Ohne alle Frage. Aber mehr als das. Manche wollen die Gabe des Heiligen Geistes auf „Sprachen, Wunderkräfte, Gaben des Dienstes etc.“ beschränken. Doch „der Sachwalter“ darf nicht verwechselt werden mit den mannigfaltigen Kräften, die Er verleiht und hervorbringt. Der Heilige Geist in Person war es, den der Vater im Namen Jesu senden wollte. In allen Gläubigen von Anfang an war der Heilige Geist wirksam gewesen, aber der Herr belehrt hier seine Jünger, dass der Geist, außer diesem und über dieses hinaus, nach seinem Weggang herabkommen würde, und zwar in einer persönlichen, unmittelbaren Weise als bisher, um in und bei ihnen zu sein bis ans Ende. Der Sohn Gottes war in einer besonderen Weise herabgekommen und hatte Fleisch und Blut angenommen, und jetzt sollte der Heilige Geist kommen, nachdem Christus sein Werk vollendet hatte und hinaufgestiegen war in die Höhe. Deshalb lesen wir in Apostelgeschichte 2,33: „Nachdem er nun durch die Rechte Gottes erhöht worden ist und die Verheißung des Heiligen Geistes vom Vater empfangen, hat er dies ausgegossen, was ihr seht und hört.“ Die wunderbaren Kräfte, die am Tag der Pfingsten ausgeteilt wurden, lenkten die Aufmerksamkeit auf diese gesegnete, göttliche Person, deren Gegenwart eben durch diese Kräfte angezeigt wurde. Sie waren der äußere Beweis und die Wirkung dieser nie da gewesenen Gabe, der Verheißung des Vaters.

Das ist also die große Wahrheit, die für die Frage über das Gebet des Herrn von so hoher Wichtigkeit ist. Dieses Gebet war für solche bestimmt, die wahrhaft gläubig waren, für die aber die Versöhnung noch in der Zukunft lag und die den Heiligen Geist in jener völligeren und bisher ungekannten Weise noch nicht empfangen hatten. In dem Evangelium nach Lukas sagt der Herr in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von Ihm gegebenen Gebet: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euern Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater, der vom Himmel ist, den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!“ Hier finden wir den Ausdruck ihres wahren Zustandes. Sie waren errettet und besaßen das Leben aus Gott, und doch sollten sie den Vater bitten, ihnen den Heiligen Geist zu geben; offenbar nicht, um sie zu Gläubigen zu machen – sondern der Heilige Geist sollte ihnen persönlich gegeben werden, um sie in die vollen Resultate des Versöhnungswerkes Christi einzuführen und sie – in Gemeinschaft mit Ihm, dem zur Rechten Gottes verherrlichten Menschen – zu Gliedern seines Leibes zu machen.

Diese Vorrechte, die von den Gläubigen vor dem Kreuz weder gekannt noch genossen werden konnten, sind die wesentlichen Charakterzüge des Christentums. Deshalb zögere ich nicht, zu behaupten, dass das Gebet des Herrn, das den vollkommenen Ausdruck der Bitten der Jünger in ihren damaligen Umständen und in ihrem tatsächlichen Zustand bildete, aus ebendiesem Grund nicht dazu bestimmt war, der Ausdruck ihrer Gefühle zu sein, nachdem ihre ganze Stellung und ihr ganzer Zustand verändert war, nachdem das Werk vollbracht, alle Übertretungen vergeben und alle Gläubigen, ob Juden oder Griechen, durch den einen Geist zu einem Leib getauft und alle mit einem Geist getränkt waren.

Die Veränderung war in der Tat so vollständig und überaus wichtig, dass der Herr selbst die Jünger in Johannes 16 in feierlicher Weise darauf vorbereitet. Nachdem Er ausführlich von der Sendung des Sachwalters und seines Bleibens in und bei ihnen gesprochen hat, sagt Er: „An jenem Tag werdet ihr mich nichts fragen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Alles, was irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, das wird er euch geben. Bis jetzt habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude völlig sei. … An jenem Tag werdet ihr bitten in meinem Namen“ (Joh 16,23.24.26).

Was bedeuten die Worte „An jenem Tag werdet ihr mich nichts fragen“? Dies war es, was die Jünger getan hatten während seines Wandels durch die Welt; sie waren stets zu Ihm gegangen als zu ihrem gesegneten und gnädigen Messias, und sie hatten recht daran getan. Nie aber hatten sie bis dahin etwas in seinem Namen gebeten. Wie? Nie etwas in seinem Namen gebeten? Hatten sie nicht das Gebet des Herrn schon seit mehreren Jahren gebraucht? Ganz gewiss; und dennoch hatten sie nichts in Christi Namen gebeten. Der stellt seine Jünger hier auf einen ganz neuen Boden; nicht länger sollten sie bloß zu Ihm kommen und Ihn bitten, sondern sie sollten den Vater bitten, und zwar in seinem Namen. Bedeutet es, am Ende eines Gebets bloß zu sagen: „Wir bitten dieses im Namen Jesu“? O nein. Die Bedeutung ist vielmehr: Kraft der vollbrachten Erlösung und der durch den Heiligen Geist bewirkten Verbindung mit dem Herrn Jesus im Himmel sollten die Jünger in dieselbe Stellung versetzt werden, in der Er sich befand. Deshalb heißt es in 1. Johannes 4,17: „Wie er ist, sind auch wir in dieser Welt“; und ebenso sagt Paulus in 1. Korinther 6.17: „Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm.“ Dies erklärt die Bedeutung des Bittens im Namen Jesu oder besser die Bedeutung des Bodens, auf dem es beruht. Es bedeutet, den Vater bitten in dem Bewusstsein, dass alle meine Sünden hinweggetan sind, dass ich in Christus Gott nahegebracht bin und in dem vollen Genuss seiner Gunst stehe, ohne dass es noch eine Frage oder eine Wolke zwischen Gott und meiner Seele gibt; es heißt, zu Gott gehen und zu Ihm flehen als in dem Besitz der vollen Segnung stehend, zu der ein Christus droben und der Heilige Geist hier auf der Erde mich berechtigen.

Der Herr hatte sein Gebet bereits gegeben, und die Jünger hatten es ohne Zweifel gebraucht. Doch Er teilt ihnen jetzt mit, dass sie in eine ganz neue Stellung eingeführt werden sollten und dass ihre Gebete eine dieser neuen Stellung und der darin offenbarten vollkommenen Gnade entsprechende Form anzunehmen hätten. Was ist die Wirkung, wenn sich Gläubige jetzt selbst in die Stellung versetzen, in der sich die Jünger vor Vollbringung des Versöhnungswerkes befanden? Sie können niemals wissen, was es heißt, einen wirklich gegründeten Frieden zu besitzen, sie können nicht den Platz von Anbetern einnehmen, die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden haben. Mit einem Wort: Sie gehen, was ihren Genuss anbetrifft, all der reichen und unermesslichen Segnungen verlustig, die der Tod und die Auferstehung Christi hervorgebracht haben.

Noch offenbarer ist der Fehler, wenn eine Gemeinschaft von Gläubigen oder gar von Gläubigen und Ungläubigen das Gebet des Herrn als den Ausdruck ihres gemeinsamen Bedürfnisses und ihrer gemeinsamen Anbetung annimmt. In der Stelle selbst ist gar kein Gedanke an einen solchen Gebrauch des Gebets vonseiten einer Körperschaft. Nachdem der Herr seine Jünger aufgefordert hat, ins einsame Kämmerlein zu gehen, wenn sie beten wollten, lässt Er das Gebet selbst folgen als die passende Sprache für eine einzelne Person, um ihre Bedürfnisse Gott vorzutragen. Alle, die das Gebet des Herrn gebrauchen, sei es in Gemeinschaft mit anderen, sei es für sich persönlich, begeben sich – ich wiederhole es – zurück in den Zustand und die Stellung der Jünger unter dem Gesetz, bevor der Herr sein Werk vollbracht hatte, und offenbaren auf diese Weise, obwohl unbewusst, eine Geringschätzung des Willens Gottes, des Vaters, des Werkes Christi und des gegenwärtigen Zeugnisses des Heiligen Geistes (vgl. Heb 10).

Wenn eine Seele, die tatsächlich bekehrt ist, aber wenig von den Wegen des Herrn und von der ganzen Tragweite seines vollbrachten Werkes kennt, niederknien und ihr Herz in den Worten ausschütten würde, die der Herr seine Jünger lehrte, so würde ich völlig mit ihr fühlen können; denn ein solcher Zustand des Herzens und Gewissens ist demjenigen der Jünger, die um den Herrn versammelt waren, äußerst ähnlich. Nichtsdestoweniger ist er jetzt, unter dem Evangelium von der völlig offenbarten Gnade Gottes, kein richtiger. Eine solche Seele geht gleichsam selbst vor das Kreuz, vor die Erlösung zurück – denn Gott führt sie nicht dahin. Obgleich sie an Christus glaubt, so ist sie sich doch weder ihrer völligen Rechtfertigung bewusst noch weiß sie, dass sie für immer in der Gunst Gottes steht. Sie gebraucht ein Gebet, das den Jüngern gegeben wurde, das die Gefühle nicht kennen konnte, die das Herz eines jeden Christen seit dem Kreuz erfüllen und die seine Gebete mehr oder weniger vor Gott zum Ausdruck bringen sollten. Obwohl daher eine solche Seele ohne Zweifel in Christus ihre ewige Sicherheit gefunden hat, so erkennt sie doch ihre kostbarsten Vorrechte nicht an und macht sich so, ohne es zu ahnen und zu wollen, einer wirklichen Herabwürdigung der Leiden und der Verherrlichung Christi schuldig.

Es ist also Tatsache, dass das Gebet des Herrn für Gläubige auf der Erde bestimmt war, bevor Christus starb und wieder auferstand und ehe der Heilige Geist vom Himmel herabgesandt wurde, um von der vollkommenen Annahme des Gläubigen in dem Geliebten Zeugnis abzulegen. Wollen wir Christus in Wahrheit ehren, so müssen wir seine Worte so anwenden, wie Er sie gemeint hat. Haben unsere Seelen verstanden, dass wir Gott nahegebracht, dass alle unsere Sünden vergeben sind und dass wir den Heiligen Geist empfangen haben, damit Er uns versiegele und mit einem im Himmel verherrlichten Christus verbinde, so stehen wir auf einem ganz neuen Boden und unsere Gebete sollten davon Zeugnis ablegen; wir sollten dann als geliebte Kinder den Vater bitten im Namen des Sohnes.

Indessen möchte die Frage erhoben werden: Weshalb hat der Herr uns das Gebet in seinem Wort mitgeteilt, wenn es nicht für den fortwährenden Gebrauch seines Volkes bestimmt war? Hierauf antworte ich: Der Herr hat vieles gesagt und gelehrt, was sich nicht auf all die Seinen anwenden lässt noch auch für sie alle bestimmt war. Lesen wir zum Beispiel Matthäus 10. Wir finden in diesem Kapitel viele Grundsätze, die immer gültig bleiben und zu unserer steten Belehrung dienen; aber wer wollte es leugnen, dass die Sendung der Zwölf rein jüdisch war? Wenn wir unter Anführung von Matthäus 10,5 und 6 sagen wollten: „Das sind die eigenen Worte des Herrn; wir haben auf keinen Weg der Nationen zu gehen noch in irgendeine Stadt der Samariter einzutreten, sondern wir sollen nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gehen“, so würde die Torheit und Verkehrtheit einer solchen Sprache einem jeden offenbar sein.

Wir selbst, von Haus aus arme Heiden, sind, wenn wirklich errettet, Beweis genug, dass eine solche Anwendung der Worte des Herrn völlig falsch sein muss, und man würde auf diese Weise einen einzelnen Ausspruch der ganzen Lehre des Neuen Testamentes entgegenstellen, die gerade jenen Heiden eine überströmende Gnade verkündigt. Und so wie der Herr damals seine Jünger mit einer besonderen Botschaft aussandte, so hatte Er auch vorher in dem Gebet für ihren damaligen Zustand Vorsorge getroffen. Der Tod Christi hob notwendigerweise das Verbot, zu den Heiden zu gehen, auf, dehnte den Boden des Gebets weit aus und legte den Grund zur Einführung einer ganz neuen Ordnung der Dinge. Deshalb gibt der Herr auch (am Ende desselben Evangeliums) den Jüngern nach seiner Auferstehung den Auftrag, hinauszugehen und alle Nationen zu Jüngern zu machen, und im Johannesevangelium sagt Er ihnen im Vorausblick auf seine Erhöhung zur Rechten des Vaters, dass sie an jenem Tag den Vater bitten würden in seinem Namen, was sie bis dahin nicht getan hatten.

So tief ich daher die Schwierigkeiten derer fühle, die meinen, den Gebrauch des Gebetes des Herrn auch auf die Gegenwart ausdehnen zu müssen, so glaube ich doch, dass sie den Willen und das Wort des Herrn mit Aufrichtigkeit prüfen sollten. Welches Verständnis kann da sein, wo nicht einmal erkannt wird, dass das vollbrachte Erlösungswerk und die Gabe des Heiligen Geistes eine völlige Veränderung im Blick auf Gewissen, Gemeinschaft, Anbetung und Wandel hervorgebracht haben? Diese beiden Tatsachen haben uns aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt und infolgedessen auch unsere Gebete auf eine ganz andere Grundlage gestellt, als sie vor unserer Befreiung für uns richtig und passend war.

Daher findet sich in der Apostelgeschichte nicht eine Spur von einem solchen Gebrauch des Gebetes des Herrn, wie er in der Christenheit seit Jahrhunderten eingeführt worden ist. Und wenn man die verschiedenen Gebete liest, die der Heilige Geist eingab, wie zum Beispiel in dem Brief an die Römer, an die Epheser etc., so findet man, dass überall der Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt Christi die Grundlage und den wesentlichen Inhalt dieser Gebete bilden. Die Bitten des Apostels gründen sich auf die glorreichen Tatsachen, auf die auch unser Glaube und unsere Hoffnung ruhen.

Fassen wir zum Schluss das Gesagte noch einmal kurz zusammen. Wir alle glauben, dass das Gebet des Herrn göttlich passend war für den Zustand der Jünger zur Zeit, als der Herr es ihnen gab. Aber aus demselben Grund konnte es nicht den vollkommenen Ausdruck ihrer späteren Beziehungen zum Vater bilden noch der Zuneigungen, die diesen Beziehungen angemessen sind. All diejenigen, die die Tragweite des Wechsels verstehen, der nach dem Tod Christi eingetreten ist, können aus jedem einzelnen Ausdruck in dem Gebet des Herrn Nutzen ziehen, obwohl sie es nicht buchstäblich wiederholen. Aber ein Außerachtlassen der Resultate des vollbrachten Erlösungswerkes gereicht nicht zur Ehre des Herrn, sondern ist vielmehr eine Geringschätzung der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes sowie eine freiwillig erwählte Armut inmitten der Reichtümer der Gnade, die über uns ausgeschüttet sind. Ein demütiges und gehorsames Herz wird suchen, den Willen des Herrn hierin, wie in allem anderen, kennenzulernen und zu tun.

Möchten wir doch stets alles so annehmen, wie es der Herr uns in seinem Wort darbietet! Er wolle uns Gnade und Kraft schenken, um uns über unsere natürlichen Gedanken, unsere vorgefassten Meinungen und althergebrachten Vorurteile erheben zu können! Möchten wir alle in Ihm wandeln, gewurzelt und auferbaut in Ihm und befestigt in dem Glauben, so wie wir gelehrt worden sind, überströmend darin mit Danksagung (Kol 2,7)!


Originaltitel: „The Lord’s Prayer“
aus The Bible Treasury, Jg. 16, 1886.
Der Artikel wurde bei der Übersetzung ins Deutsche gekürzt.

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