Was sind „offene Grundsätze“?
Der „Brief der Zehn“

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© SoundWords, online seit: 06.11.2005, aktualisiert: 31.05.2020

Leitverse: 2. Johannes 10.11

2Joh 10.11: Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf, und grüßt ihn nicht. Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken.

Was sind „offene Grundsätze“?

Jede Gruppierung von Christen wird wohl ihre eigene Sprache „Kanaans“ haben. Da gibt es Floskeln, die typisch für eine bestimmte Bewegung sind. In der Brüderbewegung kann man im eher konservativen Flügel oft das Wort „offene Grundsätze“ vernehmen. Leider geschieht das oftmals in einer Weise, die mit dem eigentlichen Sinn dieses Ausdruckes nichts mehr zu tun hat. Deshalb wollen wir einmal der Frage nachgehen, was es ursprünglich bedeutete, wenn man unter „Brüdern“ von einem „offenen Grundsatz“ sprach.

Dazu wollen wir den sogenannten „Brief der Zehn“ in seinen neun Punkten kommentieren. Dieser historische Brief dokumentiert die unterschiedliche Auffassung der heutigen „geschlossenen“ und „offenen“ Brüder.

Historischer Hintergrund dieses Briefes

In Bristol waren Geschwister zum Brotbrechen aufgenommen worden, die mit einem Irrlehrer in Plymouth Gemeinschaft hatten (selbst die Irrlehre jedoch nicht angenommen hatten). In der Folge kam es zu Unruhe in der Gemeinde in Bristol. Schließlich trennten sich sogar einige Brüder dort und verfassten einen Brief an die Gemeinde, in dem sie ihre Gründe für die Ablehnung des dort beschrittenen Weges darlegten. Daraufhin schrieben zehn Älteste der Gemeinde einen Brief, der auf einer besonderen Zusammenkunft der Versammlung am 29. Juni und 3. Juli 1848 vorgelesen und erläutert wurde. Dieser Brief wurde als der „Brief der Zehn“ bekannt, vor allem deshalb, weil er bis heute die Grundlage wiedergibt, auf der sich die „offenen Brüder“ versammeln, und weil er mit Recht als ihre „Magna Charta“ betrachtet werden kann.

Hintergrund der Schreiber dieses Artikels

Der Leser möge beim Lesen dieses Artikels berücksichtigen, dass die Schreiber dieses Artikels sich weder zu der geschlossenen noch zu der offenen Brüderbewegung zählen. Durch bestimmte Entwicklungen und sicher auch durch eigenes Versagen in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist uns ein gemeinsamer Weg zurzeit nicht möglich. Trotzdem fühlen wir uns in Ausrichtung und Lehre sehr mit der allgemeinen Brüderbewegung verbunden. Auch wissen wir, dass solche Trennungen und Gruppierungen von Christen nicht dem Willen Gottes entsprechen, und wir verwenden die Begriffe „exklusive“ oder „offene“ Brüder nur, weil sie sehr hilfreich sind, um dem Leser einen Eindruck über den Hintergrund zu geben, aus dem wir diese Zeilen schreiben. In der Bibel gibt es nur Brüder oder Christen; zu ihnen gehören dann alle wiedergeborenen Christen.

Wir gehen nicht deshalb auf die Punkte des „Briefes der Zehn“ ein, weil wir die Gräben zwischen den beiden Brüdergruppen weiter aufreißen möchten, sondern wir möchten eine Diskussion über dieses Thema in Gang setzen oder am Leben erhalten, damit wir heute ganz praktisch eine Hilfe in unseren Beurteilungen haben über die Frage: Was ist biblisch und was ist nicht biblisch? Es ist kein Fehler, aus der Geschichte zu lernen. Im Allgemeinen hat man ja heute den Eindruck, dass das Einzige, was wir aus der Geschichte lernen, das ist, dass wir gerade nichts lernen ;-).

Kommentierung der neun Punkte

Eingerückt in kleinerer Schrift findet sich jeweils der Grundsatz der Schreiber des Briefes der Zehn. Der Kommentar ist jeweils von der Redaktion.

Punkt 1:

Wir waren von Anfang an der Meinung, dass es nicht zum Trost oder zur Auferbauung der hiesigen Gläubigen und auch nicht zur Ehre Gottes sei, wenn wir in Bristol in die mit den erwähnten Lehren verbundene Auseinandersetzung verwickelt würden. Wir denken nicht, dass wir als Gemeinschaft verpflichtet sind, Irrtümer zu untersuchen, nur weil sie in Plymouth oder sonst wo gelehrt werden mögen.

Kommentar:
Wenn an einem anderen Ort, mit dem wir bis heute in gemeinschaftlicher Verbindung standen, die Gefahr des Aufkommens einer bösen Lehre besteht und bereits offensichtliche und für alle nachvollziehbare Fakten auf dem Tisch liegen, dann ist eine Versammlung, die in wechselseitiger Gemeinschaft steht, verpflichtet, sich mit dem Unrecht in der anderen Versammlung zu beschäftigen, zumal wenn die Gefahr besteht, dass fundamentale Dinge zur Debatte stehen. Epheser 4 sagt uns: „Da ist ein Leib.“ Wir sind also mit allen Gliedern des Leibes auf das Innigste verbunden. Kann es uns da gleichgültig sein, wenn Glieder des Leibes in Gefahr stehen, einen falschen Weg einzuschlagen, besonders dann, wenn man mit diesen Gliedern in der Ausübung christlicher Gemeinschaft steht?

Auch spricht Epheser 4 von der „Einheit des Geistes“. Der Heilige Geist kam zu Pfingsten auf die Erde und hat aus Juden und Nationen einen Leib gebildet (Eph 2). Der Heilige Geist ist die verbindende Person und Kraft, um in der Einheit der Kinder Gottes voranzugehen, und dies hört nicht vor den Toren der Versammlung in Ephesus auf, an die der Brief natürlich zuerst gerichtet war. Wenn auch eine Versammlung nicht über eine andere zu Gericht sitzen darf, so ist aber jede aufnehmende[1] oder auch zu einer anderen Versammlung hin empfehlende[2] Gemeinde verpflichtet zu untersuchen, wen sie aufnimmt oder zu wem sie empfiehlt. Der Apostel Paulus sagt in Apostelgeschichte 20,28: „Habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch als Aufseher gesetzt hat, die Versammlung Gottes zu hüten, welche er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen.“

Es geht gar nicht darum, nur ja nicht in diese Sache verwickelt zu werden, wie oben beschrieben, sondern darum, in Bezug auf die Ehre des Herrn nicht gleichgültig zu sein. Das heißt: Wenn eine Lehre aufkommt, die die Person oder das Werk des Herrn Jesus antastet, dann darf ich mich nicht gleichgültig gegenüber diesen Dingen zeigen und nach dem Motto handeln: Solange ich selbst diese Lehre nicht annehme, ist alles in Ordnung! Die Schrift sagt sehr deutlich, dass wir den nicht grüßen sollen, der nicht die Lehre des Christus bringt (2Joh 10.11) – tue ich das doch, bin ich gleichgültig gegenüber der Ehre des Herrn. Aber es geht nicht „nur“ um die Ehre des Herrn, sondern auch darum, möglicherweise der irrenden Versammlung zu dienen, indem man eine deutliche Stimme gegen das Böse hören lässt. Bibelstellen wie 1. Korinther 12 und Epheser 4 zeigen, dass wir als Glieder auf das Engste verbunden sind und dass die „Hand“ zum „Fuß“ nicht sagen kann: Ich bedarf deiner nicht! Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit, denn wir sind alle zusammen verbunden in dem einen Leib. Aber auch Bibelstellen wie 1. Thessalonicher 5,22; 2. Timotheus 2,19.20; 1. Korinther 15,33 und andere fordern uns auf, vom Bösen abzustehen und nicht einen neutralen Standpunkt einzunehmen.

Also, ganz so einfach können wir uns es nicht machen, zumal dann nicht, wenn die eigene Gemeinschaft auch noch in der Weise betroffen ist, dass Gläubige von einem zweifelhaften Ort kommen, wo böse Lehre geduldet wird.

Punkt 2:

Der angebliche praktische Grund, warum wir die Untersuchung verschiedener in Plymouth herausgegebener Traktate vornehmen sollten, war, dass wir dadurch in der Lage wären, zu wissen, wie wir uns gegenüber solchen zu verhalten haben, die uns vielleicht von dort besuchen oder von denen angenommen wird, dass sie Anhänger des Verfassers der genannten Veröffentlichungen sind. Als Antwort darauf müssen wir sagen, dass die Ansichten des Autors, auf den angespielt wird, nur durch die Prüfung seiner eigenen anerkannten Schriften wirklich ermittelt werden können. Wir glaubten nicht, dass wir berechtigt seien, unseren Eindruck von den tatsächlich von ihm vertretenen Ansichten aus irgendeiner anderen Quelle zu beziehen als nur aus einer von ihm selbst geschriebenen Abhandlung, in der er die betreffenden Lehren erklärtermaßen verteidigt. Nun waren die Ansichten, die der in Frage stehende Autor vertrat, von solcher Unbeständigkeit, dass es schwierig ist, festzustellen, was er jetzt als seine Ansicht anerkennen würde.

Kommentar:
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es für dieselben Brüder kein halbes Jahr später sehr wohl möglich war, eine solche Beurteilung durchzuführen. Darüber hinaus muss uns klar sein: Wenn die Ehre des Herrn angetastet wird, kann nicht „Unbeständigkeit“ des Verantwortlichen Grund sein, sich nicht mit dem Fall zu beschäftigen. Wenn wir das Neue Testament aufschlagen, sehen wir, dass es gerade ein Kennzeichen von Irrlehrern ist, dass sie mit Verwirrung und Widersprüchen kommen, die es schwierig machen, ihre Lehre in den Griff zu bekommen. Paulus sagt: „Wer euch aber verwirrt, wird das Urteil tragen, wer er auch sei“ (Gal 5,10). „Niemand verführe euch mit eitlen [leeren] Worten“ (Eph 5,6). „… wovon etliche abgeirrt sind und sich zu eitlem Geschwätz gewandt haben“ (1Tim 1,6). „Die ungöttlichen eitlen Geschwätze aber vermeide; denn sie werden zu weiterer Gottlosigkeit fortschreiten, und ihr Wort wird um sich fressen wie ein Krebs“ (2Tim 2,16.17; vgl. 1Tim 6,20).

Punkt 3:

In Bezug auf diese Schriften sind die christlichen Brüder, die, was ihre Gesundheit im Glauben betrifft, bisher einen untadeligen Ruf hatten, zu verschiedenen Schlussfolgerungen über den tatsächlichen Umfang des in ihnen enthaltenen Irrtums gelangt. Einige von uns wussten, dass die Traktate in einem so zweideutigen Stil geschrieben sind, dass wir sehr vor der Verantwortung zurückschreckten, irgendein offizielles Urteil über die Angelegenheit zu fällen.

Kommentar:
Wenn jemand in Bezug auf die Person des Herrn eine zweideutige Lehre bringt, dann sollte man das schon sehr ernst nehmen und sich nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn man mit dieser Versammlung in Verbindung steht.

Punkt 4:

Da bewährte Brüder an verschiedenen Orten über den Umfang des in diesen Traktaten enthaltenen Irrtums zu so verschiedenen Schlussfolgerungen gelangt sind, konnten wir weder wünschen noch erwarten, dass die hiesigen Gläubigen mit der Entscheidung von einem oder zwei führenden Brüdern zufrieden sein würden. Diejenigen, die sich selbst zu vergewissern wünschten, würden natürlich das Verlangen haben, die Schriften selbst durchzusehen. Dafür haben viele von uns nicht die Zeit; viele würden aufgrund der Ausdrucksweise auch nicht verstehen, was die Traktate beinhalten; und das Ergebnis würden, wie man mit gutem Grund befürchten muss, verderbliche Auseinandersetzungen und Wortgefechte sein von der Art, die mehr Streitfragen hervorbringt, als die göttliche Auferbauung fördert.

Kommentar:
Das Schlimme an diesem Punkt ist eigentlich, dass selbst dann, wenn sich alle einig gewesen wären, die Versammlung in Bristol dennoch keinen Grund gesehen hätte, Geschwister, die von einem Ort kamen, wo die böse Lehre geduldet wurde, nicht in die Gemeinschaft aufzunehmen (vorausgesetzt, diese Geschwister würden selbst die böse Lehre nicht vertreten). Siehe Punkt 6!

Punkt 5:

Sogar einige von denen, die die Traktate jetzt verurteilen, weil sie grundsätzlich ungesunde Lehre enthalten, haben sie bei der ersten Durchsicht nicht so verstanden. Diejenigen von uns, die besonders gebeten wurden, die in ihnen enthaltenen Irrtümer zu untersuchen und zu beurteilen, waren der Meinung, dass es unter solchen Umständen nur wenig wahrscheinlich sei, zu einem einmütigen Urteil über das Wesen der betreffenden Lehren zu kommen.

Kommentar:
Wir wollen den Unterschied zwischen „falscher Lehre“ und „fundamentaler Irrlehre“ sicher nicht verwischen, aber selbst wenn man eine böse Lehre erst nach der dritten Durchsicht entdeckt, so bleibt sie doch eine böse Lehre; selbst von grundsätzlicher ungesunder Lehre sollten wir uns fernhalten. Meinungsverschiedenheiten über einen lehrmäßigen Punkt dürfen wir natürlich nicht auf die gleiche Stufe stellen wie eine ungesunde oder gar böse Lehre über Christus und sein Werk.

Punkt 6:

Selbst wenn man annimmt, dass diejenigen, die die Sache erforschten, im Hinblick auf den Umfang des darin enthaltenen eindeutigen Irrtums zum gleichen Ergebnis gekommen wären, so hätte uns dies nicht in unserer Entscheidung über Einzelne geleitet, die von Plymouth kommen. Denn angenommen der Autor der Traktate wäre ein fundamentaler Irrlehrer, so würde uns dies nicht berechtigen, solche, die unter seiner Belehrung waren, zurückzuweisen, bis wir überzeugt wären, dass sie Ansichten, die ihrem Wesen nach die Grundlage der Wahrheit umstürzen, verstanden und in sich aufgenommen haben; insbesondere da diejenigen, die in Plymouth in der Ebrington Street zusammenkommen, im vergangenen Januar eine Erklärung herausgegeben haben, in der sie die Irrtümer, die den Traktaten zur Last gelegt werden, von sich weisen.

Kommentar:
Hier finden wir den eigentlich sogenannten „offenen Grundsatz“. Dieser Grundsatz zieht sich auch durch die heutige Brüderbewegung. Es handelt sich hier nicht um einen Punkt, den man nur schwer intellektuell verstehen könnte. Es ist höchstens ein Punkt, den man menschlich nur schwer durchsetzen kann/will. Die Lehre der Heiligen Schrift ist hier ganz klar. Wer bloß jemand grüßt, der eine böse Lehre bringt, nimmt schon teil an seinen bösen Werken. Er wird ein Teilhaber an dem bösen Werk, obwohl er die böse Lehre selbst ablehnen mag. Dies ist die klare Anweisung in 2. Johannes 10.11: „Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht. Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken.“

Und sollen wir nun einen Teilhaber an bösen Werken in die Gemeinschaft aufnehmen? Ist er denn verunreinigt, nur weil er unter der Kanzel des Irrlehrers saß? Ist das nicht ein wenig mystisch? Natürlich gibt es keine Verunreinigung von außen. Natürlich geht die Verunreinigung nicht von dem einen auf den anderen über, indem man ihn per Handschlag grüßt. So dürfen wir uns das nicht vorstellen. Im Neuen Testament sagt der Herr, dass es keine Verunreinigung gibt, die von außen kommt, sondern sie kommt immer von innen (Mk 7,21-23). Wie geschieht dies aber nun in unserem vorliegenden Fall? Nun, genau so wie es der Herr in Markus 7 sagt: Die Verunreinigung kommt von innen. Jemand, der zwar die böse Lehre ablehnt, aber in Gemeinschaft mit dem Irrlehrer ist, der ist gleichgültig gegenüber dem Bösen; ja, er ist gleichgültig gegenüber Christus – er will sich nicht von den Gefäßen zur Unehre wegreinigen (2Tim 2,21). Die Verunreinigung kommt also von innen, aus dem bösen Herz der Gleichgültigkeit! Sein Herr wird verunehrt, und er sagt (etwas überspitzt ausgedrückt): „Das ist mir egal, ich tue es ja nicht – und sage sogar auch was dagegen.“ Aber die Schrift beurteilt dies ganz anders.

Die Korinther zum Beispiel waren rein äußerlich mit dem Dämonentisch in Verbindung, sie aßen dort die Opfer, die den Dämonen geopfert wurden (1Kor 10). Wollten die Korinther den Dämonen Opfer darbringen? Nein, natürlich nicht, und doch sagt Gott: „Ihr könnt nicht des Herrn Tisches teilhaftig sein und des Dämonen Tisches.“ Warum nicht? Wurden sie kultisch oder irgendwie mystisch verunreinigt? Nein. Aber die Gleichgültigkeit in ihrem Herzen gegenüber den Dämonen offenbarte ihren schlechten geistlichen Zustand. Sie hätten wissen können, dass man sich nicht an einem Götzenopfertisch niederlassen darf (Apg 15,20.28). Sie verstießen also gegen eine offenbare Anweisung des Herrn, und das ist es, was sie verunreinigte bzw. zu Teilhabern am Tisch der Dämonen machte. Wenn ich gleichgültig gegenüber dem Bösen bin, dann disqualifiziert mich das für jegliche Art von christlicher Gemeinschaft – das gilt übrigens nicht nur für das Brotbrechen. Es wäre ja im höchsten Maße inkonsequent, jemand auf der Straße in den Arm zu nehmen und gleichzeitig zu sagen: „Aber das Brot kann ich leider mit dir nicht brechen.“ Genauso wäre es, wenn man einen Irrlehrer ins Haus einlädt und mit ihm isst, aber gleichzeitig sagt: „Das Brot können wir aber nicht gemeinsam brechen.“ (Eine Ausnahme davon kann höchstens ein seelsorgerliches Gespräch sein, um jemand von seiner bösen Lehre zu überführen; nur geht es dabei auch gerade nicht um Gemeinschaft auf gleichem Niveau.)

Leider ist dieser Punkt bis heute von den „offenen“ Brüdern nicht korrigiert worden, und darüber hinaus sehen wir leider, dass viele (glücklicherweise nicht alle), die diesen Punkt ehemals noch richtig gesehen haben, diesen auch nur allzu leicht über Bord werfen, sobald sie den konservativen Flügel der Brüderbewegung verlassen haben. Diese beschriebene Tatsache trennt bis heute zwei Lager in der Brüderbewegung, die sich von ihrer Ausrichtung her in einzigartiger Weise ergänzen würden. Sicher gibt es noch andere Punkte, wo man unterschiedlicher Ansicht ist, aber diese Punkte ließen sich doch in den allermeisten Fällen überbrücken.

Ein Bruder schreibt:

Bethesda hat immer nach dem Grundsatz gehandelt, dass man in den Dingen Gottes unterscheiden kann zwischen einer Person und ihren Verbindungen. Ein derartiger Grundsatz öffnet die Tür für die Unreinigkeit der Christenheit und würde in menschlichen Dingen keinen Augenblick geduldet werden. Nimm zum Beispiel an, dass ich an der Schwelle meines Hauses einen Mann treffe, der darum bittet, einen Abend in meinem Familienkreis verleben zu dürfen, der jedoch, wenn ich ihn frage, zugeben muss, dass in seiner Familie Scharlach ist oder dass er sich in gesellschaftlichen Kreisen bewegt, wo ein Verleumder meiner Mutter willkommen geheißen wird oder dass er in anderen Beziehungen sich mit Dieben und unmoralischen Personen einlässt. Was würde man von mir denken, wenn ich so jemand in meiner Familie willkommen hieße? Ich würde sie nicht nur der Ansteckung preisgeben, sondern würde jedem normalen moralischen Gefühl Gewalt antun und würde den Schein auf mich laden, jemand zu sein, der dem, was sich geziemt, gleichgültig gegenübersteht. Was macht es aus, dass ich, wenn ich so jemand ablehne, als ein „Exklusiver“ bezeichnet werde? (George W. Ware: Early Contentions for the Faith, 1927, S. 77)

Der bekannte Bruder Andrew Miller sagt von diesem Exklusivismus:

Ohne Zweifel sollte diese Bezeichnung ein Vorwurf sein, um Ängstliche in Furcht zu setzen, wie es bis zu diesem Tage üblich ist. Sie ist aber fraglos in Übereinstimmung mit dem Worte Gottes. Aus 1. Korinther 5 ersehen wir, dass die Versammlung „exklusiv“ sein muss, wenn gesunde Zucht ausgeübt und das Haus Gottes für seine Gegenwart rein erhalten werden soll. Die Kirche ist gewiss feierlich verpflichtet, Lehre und Verhalten aller zu prüfen, die sich zum Tisch des Herrn melden, und die zurückzuweisen, die Böses in die Versammlung hineintragen würden, sowie die hinauszutun, die in Irrlehre oder Unmoral gefallen sind, obwohl ihr Glaube an Christus nicht angezweifelt werden mag. Das heißt in Wahrheit exklusiv sein. (A. Miller, Die Brüder [allgemein so genannt]. Eine kurze Übersicht über ihren Ursprung, ihre Entwicklung und ihr Zeugnis, Neustadt, 1971, überarbeitet, S. 68–69)

Punkt 7:

Die Forderung, Herrn Newtons Traktate zu untersuchen und zu beurteilen, erschien manchen von uns wie die Einführung eines neuen Prüfsteins für die Gemeinschaft. Es wurde von uns verlangt, dass wir – zusätzlich zu einem gesunden Bekenntnis und einem entsprechenden Wandel – als Gemeinschaft zu einer offiziellen Entscheidung über etwas kommen sollten, was viele von uns vielleicht gar nicht verstehen konnten.

Kommentar:
Dafür hat der Herr sicherlich die Aufseher und Ältesten gegeben, dass sie eine Sache beurteilen und „achthaben auf die Herde“ und die Wölfe erkennen, die sich im Schafspelz verstecken (Apg 20). Zu der Gemeinde in Bristol kamen Gläubige von der Versammlung, die einen bösen Lehrer duldeten. Und es ist an dieser Stelle sogar völlig gleichgültig, ob B.W. Newton nun geschichtlich nachweisbar ein Irrlehrer gewesen ist oder nicht, denn die Versammlung in Bristol schrieb ja in Punkt 6: „Denn angenommen, der Autor der Traktate wäre ein fundamentaler Irrlehrer, so würde uns dies nicht berechtigen, solche, die unter seiner Belehrung waren, zurückzuweisen“ – sie konstruieren also selbst (!) einen klaren Fall und zeigen dadurch, dass sie die Konsequenzen der Stelle in 2. Johannes 10.11 nicht verstanden haben. Selbst in „exklusiven Brüderkreisen“ kann man immer wieder hören: „Na ja, der und der hat zwar eine böse Lehre, aber solange er/sie nicht mit uns das Brot bricht, können wir weiterhin Gemeinschaft mit ihm/ihr pflegen.“ Oftmals sagt man noch: „Die sind ja so nett!“ Das ist, wenn auch menschlich verständlich, ein schlechter Grundsatz. Aber darum darf es im Haus des Herrn natürlich nicht gehen. „Seinem Haus geziemt Heiligkeit auf immerdar.“

Punkt 8:

Wir erinnerten uns an das Wort des Herrn, dass „der Anfang eines Zankes ist, wie wenn einer Wasser entfesselt“. Wir waren uns wohl bewusst, dass die große Masse der Gläubigen unter uns in glücklicher Unwissenheit über die Auseinandersetzung in Plymouth war, und wir hielten es nicht für gut, als solche betrachtet zu werden, die sich mit einer der beiden Parteien einsmachen. Wir urteilen, dass diese Auseinandersetzung in einer Weise geführt worden ist, dass die Wahrheit in Verruf gebracht wurde; und wir wünschen nicht als solche betrachtet zu werden, die sich mit dem einsmachen, was den Gegnern Ursache gegeben hat, den Weg des Herrn zu verachten. Gleichzeitig möchten wir eindeutig klarstellen, dass wir die Gemeinschaft mit allen Gläubigen aufrechtzuerhalten suchen und uns besonders mit denen verbunden fühlen, die sich wie wir einfach im Namen des Herrn Jesus versammeln.

Kommentar:
Frieden zu bewahren ist grundsätzlich ein löblicher und lieblicher Ansatz. Und es wäre an vielen Stellen der Brüdergeschichte sicher besser gewesen, hätte man darauf mehr Wert gelegt. Wie viel Trennungen wegen nicht fundamentaler Dinge hat es gegeben, die nicht hätten sein müssen (zumindest aus heutiger Sicht!). Aber hier ging es eben nicht um Meinungsverschiedenheiten in einigen lehrmäßigen Fragen, sondern um die Frage „wahrer oder falscher Christus“. Es kann und darf nicht Frieden um jeden Preis geben. Kann ich die Geschwister der eigenen Versammlung in Unwissenheit lassen, wenn sie in eine Versammlung gehen wollen, wo ein Irrlehrer geduldet wird? Sind die Aufseher nicht verpflichtet, die Gemeinde darüber aufzuklären? Versteht man das unter „Habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“, dass man die Schafe ins Verderben rennen lässt? Viele Stellen der Schrift zeigen uns, dass „Gemeinschaft mit allen Gläubigen“ eben nicht möglich ist. 1. Korinther 5 zeigt uns zum Beispiel, dass jemand, der Bruder genannt wurde, aus der Gemeinschaft hinausgetan werden sollte. Sich nicht „mit einer der Parteien einsmachen“ bedeutet – wenn es um die Ehre der Person des Herrn geht, und das war in diesem Fall so – Neutralität gegen über dem Bösen, und das ist Gleichgültigkeit gegenüber dem Herrn.

W. Kelly schrieb darüber:

Neutral zu sein, wo es sich um die Wahrheit handelt, bedeutet teilzunehmen an den bösen Werken der Widersacher [Christi]. Der 2. Johannesbrief zeigt entschieden, dass es nicht ausreicht, persönlich gesund im Glauben zu sein. Selbst eine Frau, die auserwählte Frau, und ihre Kinder werden ernstlich von dem Apostel gewarnt bezüglich ihrer unmittelbaren Verantwortung, falls sie jemanden aufnehmen würden, der die Lehre Christi nicht brachte … So deutlich legt der Heilige Geist den Grundsatz dar, dass die einfältigsten Gläubigen, die solche unterstützen, die einen falschen Christus bringen, teilnehmen an ihren bösen Werken [2Joh 10.11], selbst wenn sie die böse Lehre nicht aufnehmen. Eine geistliche Gesinnung wird fühlen, dass, wie schrecklich es auch ist, in solch eine Irrlehre zu verfallen, doch in gewissem Sinn der mehr Schuld trägt, der, während er die Wahrheit von Christus bekennt, bereit ist, Gemeinschaft mit jemanden zu pflegen, der sie leugnet. ,Nun ihr aber saget: Wir sehen, so bleibt eure Sünde.‘ Neutralität in solch einem Fall ist eine abscheuliche Sünde, und dies entsprechend der Erkenntnis. (W. Kelly, The Doctrine of Christ and Bethesdaism, Winschoten, 1971; neu aufgelegt in Pamphlets, S. 473–474)

Punkt 9:

Wir waren der Meinung, dass die Erfüllung von Herrn Alexanders Bitte die Einführung eines bösen Präzedenzfalls sein würde. Wenn ein Bruder das Recht hat, von uns die Prüfung eines Werkes von fünfzig Seiten zu verlangen, kann er auch fordern, dass wir Irrtümer untersuchen, die in einem Werk von viel größerem Umfang enthalten sein sollen, so dass unsere ganze Zeit mit der Prüfung von Irrtümern anderer Leute vergeudet wird, anstatt dass wir uns wichtigerem Dienst widmen.

Kommentar:
Es ist immer eine Frage, inwieweit mir die Ehre des Herrn am Herzen liegt. Wenn ich erfahre, dass jemand ein Buch über dreihundert Seiten geschrieben hat, in dem nach Aussage eines Freundes böse Lehren vertreten werden, dann werde ich mir doch – wenn ich mit dem Autor in Kontakt stehe und wenn ich als Aufseher oder Ältester für die Herde am Ort Sorge zu tragen habe – die Mühe machen, dies zu untersuchen.

Schlussgedanken

Es ist nicht bekannt, dass die „Grundsätze“, die in dem „Brief der Zehn“ beschrieben wurden, irgendwann zurückgenommen worden wären. Im Gegenteil! Leider kann man die gleiche Handlungsweise heute weiterhin vielfach entdecken. Den „Brief der Zehn“ kennen in der Brüderbewegung nur noch Insider, die die Geschichte der Brüder ein wenig studiert haben. Darum kann es uns also nicht in erster Linie gehen, wenn wir solch einen Artikel schreiben. Aber es geht um die Grundsätze, die dort behandelt wurden, unabhängig davon, was unserer Meinung nach 1848 auf beiden Seiten falsch gemacht wurde. Es ist von immenser Wichtigkeit, sich selbst klarzuwerden, welche Grundsätze man selbst und auch die Gemeinde, in der man sich aufhält, vertreten will.


Anmerkungen

[1] Aufnehmende Gemeinde = Eine Gemeinde, die jemand zur Ausübung christlicher Gemeinschaft, zum Beispiel Brotbrechen, aufnimmt: gastweise, weil sich ein Christ besuchsweise an ihrem Ort aufhält, oder generell.

[2] Empfehlende Gemeinde = Zu neutestamentlichen Zeiten war es üblich, dass ein Christ durch einen Empfehlungsbrief in einer anderen Gemeinde bekannt gemacht wurde, wenn er er dort unbekannt war. Es war ein Zeugnis über den christlichen Weg eines Gläubigen, der in einer Gemeinde an einem anderen Ort in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollte (siehe z.B. Röm 16,1; Apg 18,27). Diese Vorgehensweise hat die Anfänge der Brüderbewegung gekennzeichnet und ist bei vielen auch heute noch schriftgemäße Sitte.

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