Leitverse: 3. Mose 16; 1. Johannes 2,2
1Joh 2,2: Und er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt.
Sühnung und Stellvertretung
Viel Dunkelheit herrscht in der Art, wie das Evangelium verkündigt und aufgefasst wird, und sie kommt nicht zum kleinen Teil daher, dass die sühnende und die stellvertretende Seite des Werkes Christi nicht voneinander unterschieden werden. So wenig es auch auf Worte ankommt (denn in gewissem Sinn war Christus auch in der Sühnung unser Stellvertreter), so wichtig ist die praktische Unterscheidung dieser zwei Begriffe, die wir in der Schrift deutlich dargelegt finden.
Der Unterschied zwischen Sühnung und Stellvertretung tritt uns klar in den Opfern des großen Sühnungstages entgegen (3Mo 16). Aaron schlachtete den Farren und den Bock, das „Teil des HERRN“, wie es genannt wurde, und sprengte sein Blut auf den Gnadenstuhl, auf den Deckel und vor den Deckel, wie auch auf den Altar. Das Blut wurde dadurch Gott dargebracht, dessen heilige Gegenwart durch die Sünde verunehrt und verletzt worden war.
Diesem Vorbild entsprechend hat Christus auf der Erde Gott vollkommen verherrlicht, indem Er sich in vollkommenem Gehorsam und aus Liebe zu seinem Vater hingab und zur Sünde gemacht wurde, Er, „der Sünde nicht kannte“ (2Kor 5,21). Unsere Sünden waren die Veranlassung zu diesem Werk, aber Gottes Majestät, seine Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit, ja alles, was Er ist, wurde durch Christus vollkommen verherrlicht. Sein Blut, mit dem Er in das Heiligtum einging, ist das Zeugnis und der Beweis dafür. Daher kann nun an alle die gute Botschaft ausgehen, dass Gott befriedigt, ja mehr als befriedigt, verherrlicht worden ist; und ein jeder, der sich nun Gott im Vertrauen auf dieses Blut naht, wird von Ihm umsonst und völlig angenommen. Auf den Kopf des Bockes, der dieses vorbildete, wurden keine Sünden bekannt, obschon er wegen Israels Sünde geschlachtet wurde. Das Blut wurde einfach Gott dargebracht, zum Zeichen, dass die Sünde seiner Herrlichkeit und Ehre gemäß beurteilt und gerichtet worden war. Und nie traten Gottes Majestät und seine Liebe, aber auch sein Hass gegen die Sünde so klar ans Licht, nie wurde Er so völlig verherrlicht wie in dem Tod Christi. Gott konnte aufgrund desselben dem umkehrenden Sünder nach seiner Gnade und Liebe begegnen, ja in der Unendlichkeit derselben die Menschen bitten, zu Ihm zurückzukehren.
Außer diesem aber war noch persönliche Schuld vorhanden, bestimmte persönliche Sünden, für die Israel und alle Menschen heutzutage noch verantwortlich sind, gemäß der Forderung, die gerechterweise an jeden gestellt werden kann. Demnach bekannte der Hohepriester am großen Versöhnungstag die Ungerechtigkeiten des Volkes auf den Kopf des Bockes Asasel, indem er beide Hände darauf legte. Ihre persönliche Schuld wurde durch ihn, der das ganze Volk darstellte, auf den Bock der Abwendung (Asasel) gelegt und durch diesen fortgetragen, um nie wieder gefunden oder in Erinnerung gebracht zu werden. Christus nun ist sowohl Hoherpriester als auch Opfer. Er hat alle die Sünden der Seinen bekannt, als ob es seine eigenen wären, und „hat unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen“ (1Pet 2,24). Wir finden in Ihm die Verwirklichung dessen, was die zwei Böcke uns vorbildlich darstellen. Sein Werk hat einen doppelten Charakter, indem Er sich opferte zur Verherrlichung Gottes und um unsere Sünden zu tragen.
„Nicht ohne Blut“ ging unser Hoherpriester ins Heiligtum ein (Heb 9,7.18), und das Blut war der Beweis der Vollendung des Werkes. Er ist „die Sühnung für unsere Sünden“, ja, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, „für die ganze Welt“ (1Joh 2,2). Er tat alles, was nötig war, und sein Blut ist mehr als genug, um auch dem größten Sünder Vergebung zu erwerben. Daher lautet die Botschaft an die Welt: „Wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Off 22,17). In dieser Hinsicht kann man sagen: Christus ist „für alle gestorben“ (2Kor 5,15), Er schmeckte „für alles (oder jeden) den Tod“ (Heb 2,9), Er gab „sich selbst zum Lösegeld für alle“ (1Tim 2,6). Das heißt: Sein Opfer für die Sünde ist die völlige, genügende Sühnung für jeden, der da kommt.
Wenn es sich aber um Christus als den Sündenträger handelt, so finden wir stets eine gänzlich andere Sprache. Er hat unsere Sünden getragen: Er ist „einmal geopfert worden, um vieler Sünden zu tragen“ (1Pet 2,24; Heb 9,28). Der Ausdruck „alle“ wird sorgfältig vermieden. Ich sage sorgfältig, weil in Römer 5,18.19 der Unterschied sorgfältig beachtet wird. Es heißt „alle“, wenn von dem Spielraum der Handlung die Rede ist; es heißt „die Vielen“, wenn es um die eindeutige Auswirkung seines Werkes in Bezug auf die Menschen geht, das heißt auf die Vielen, die mit dem, der die Handlung vollbrachte, verbunden waren. Nirgends wird man in der Schrift finden, dass Christus die Sünden aller getragen hätte. Hätte Er dies getan, so könnte nie mehr von ihnen die Rede sein noch könnten die Menschen nach ihren Werken gerichtet werden.
Anderseits lesen wir in der Bibel oft, dass Christus für alle gestorben ist. Und mit dieser Botschaft können wir zu allen Menschen gehen und ihnen in dem Tod Christi den Grund, ja den einzigen Grund zeigen, auf dem sie Gott nahen können, und zugleich die Liebe Gottes, die sich darin offenbart. Wenn jemand dann glaubt, kann ich weiter sagen: „Christus hat jede einzelne deiner Sünden getragen, so dass ihrer nie mehr gedacht werden kann.“
Wenn wir den Unterschied zwischen der sogenannten arminianischen und calvinistischen Lehre betrachten, so erkennen wir sofort die Wichtigkeit einer genauen Auffassung der Dinge:
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Die Arminianer sehen in dem Tod Christi nichts weiter als ein Opfer für alle und verbinden damit gewöhnlich auf allgemeine Weise das Tragen der Sünden. Dadurch wird alles unklar in Bezug darauf, dass Christus die Sünden des Einzelnen wirklich und vollgültig getragen oder ein besonderes Werk für die Seinen getan hat. Sie sagen, dass, wenn Gott alle liebte, Er nicht einige insbesondere lieben konnte. Die Errettung wird somit unsicher gemacht und der Mensch nicht selten erhoben, während die Lehre des Vorbildes, die wir in dem Bock der Abwendung haben, gänzlich außer Acht gelassen wird.
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Die Calvinisten dagegen halten fest daran, dass Christus die Sünden der Seinen getragen habe und ihre Errettung somit ganz gewiss sei. Sie bleiben aber bei dem Schluss stehen, dass, wenn Er die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben habe, seine Liebe außer ihr keinen anderen Gegenstand gehabt haben könne. Sie übersehen den unverkennbaren Charakter der Sühnung, sein Sterben für alle und alles. Sie sehen nur die Stellvertretung und berücksichtigen nicht die Bedeutung des Blutes auf dem Gnadenstuhl [d.h. des Blutes des Bockes für den Herrn].
Genau genommen lesen wir von Christus nie, dass Er die Welt, sondern dass Er „die Versammlung geliebt hat“, und zwar mit der Liebe eines besonderen Verhältnisses (Eph 5,25-29). Von Gott dagegen heißt es nie, dass Er die Versammlung, sondern dass Er „die Welt geliebt hat“ (Joh 3,16), was seiner göttlichen Güte entsprach, seiner göttlichen Natur angemessen war; sein Ratschluss aber ist etwas anderes. Seine Herrlichkeit ist das Endziel von allem.
Ohne mich aber dabei aufzuhalten, möchte ich nur darauf hinweisen, welch eine Verwirrung unklare Begriffe über Sühnung und Stellvertretung in der Verkündigung des Evangeliums hervorbringen müssen, indem sie den Ruf an die Welt schwächen oder die Sicherheit des Gläubigen zweifelhaft erscheinen lassen und der Verkündigung der Wahrheit im Allgemeinen Sicherheit und Bestimmtheit rauben. Gewiss wird ein ernstes Verlangen nach der Rettung der Seelen und die Verkündigung Christi, die aus der Liebe zu Ihm hervorgeht, stets gesegnet werden. Diese Dinge sind wichtiger als große Klarheit und Genauigkeit in der Darlegung von Lehren. Nichtsdestoweniger aber ist Klarheit über die besprochenen Gegenstände eine große Hilfe für den Prediger, selbst wenn er im Augenblick nicht gerade darüber denkt oder spricht. Und für die nachherige Auferbauung der Heiligen ist Festigkeit der Grundlage von großer Wichtigkeit.
Originaltitel: „Sühnung und Stellvertretung“
aus Halte fest, Jg. 28, 1985, S. 285ff.
Mit freundlicher Genehmigung des Beröa-Verlages, Zürich.
Engl. Orginaltitel: „Propitiation and Substitution. 1 Timothy 2:6“
aus Collected Writings of J.N. Darby, Bd. 27, S. 318–320.
Quelle: https://stempublishing.com
Zitate anderer „Brüder“
Hier noch einige Zitate von verschiedenen „Brüdern“, die die Tatsache bestätigen, dass für sie Stellvertretung ein Aspekt der Sühnung war:
J.N. Darby
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Atonement comes by substitution (Notes and Comments, Bd. 3, S. 27).
Sühnung kommt durch Stellvertretung. -
… had no such thought, I am assured, as that wrath was not due to us, but only objected to the use of the word as applied to Christ – not to the substitution of Christ in atonement for us as bearing our sins and drinking the cup and being made a curse (Letters of J.N. Darby, Bd. 2, S. 461).
… hatte solch einen Gedanken nicht, da bin ich sicher, weil uns dieser Zorn nicht gebührte, sondern er wandte sich nur gegen den Gebrauch des Wortes in Bezug auf Christus – nicht gegen die Stellvertretung Christi in der Sühnung für uns, als Er unsere Sünden trug und den Kelch trank und zum Fluch gemacht wurde. -
… and the truth of the atonement, viewed as substitution (Collected Writings of J.N. Darby, Bd. 29, S. 185).
… und die Wahrheit der Sühnung, gesehen als Stellvertretung. -
… a propitiation for sins, as bearing our sins in His own body on the tree, as One who drank that dreadful cup of wrath (Collected Writings of J.N. Darby, Bd. 7, S. 366).
… eine Sühnung für Sünden, indem Er unsere Sünden an seinem eigenen Leib auf dem Holz getragen hat als einer, der den schrecklichen Kelch des Zornes trank. -
The Remnant … confess that it is through their sins. Now Christ did enter into this, and in bearing them in the way of atonement (Notes and Comments, Bd. 3, S. 157).
Der Überrest … bekennt, dass es wahr ist aufgrund ihrer Sünden. Nun trat Christus in das ein und trug sie auf dem Weg der Sühnung. -
… the sins on the goat … As having the sins laid upon him, atonement was made in respect of him, not of the goat, but what was on him, and the blood being shed, all the sins carried away into the land where they are no more found (Notes and Comments, Bd. 3, S. 59).
… die Sünden auf dem Bock … Indem die Sünden auf ihn gelegt wurden, wurde Sühnung in Bezug auf ihn gemacht, nicht des Bockes, sondern dessen, was auf ihm war, und da das Blut vergossen war, werden alle die Sünden weggetragen in das Land, wo sie nie wieder gefunden werden können.
C. Wolston
- … as under divine judgment bearing our sins, and thus making atonement (aus Divine Love and Care).
… wie Er unter göttlichen Gericht unsere Sünden trug und auf diese Weise Sühnung machte.
W.T.P. Wolston
- If you look at the atonement, there are two sides to it, the Godward and the manward (Night Scenes of Scripture, Seventeen Bible Night Scenes, Illustrating and Elucidating various Truths of the Gospel, by W.T.P. Wolston, M.D., 1896. „Chapter 7: A Night in Egypt – Redemption. 2Mo 12“).
Wenn man sich die Sühnung ansieht, dann gibt es dabei zwei Seiten, einmal in Richtung auf Gott und einmal auf den Menschen gerichtet.
W. Kelly
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This is atonement. And atonement has two parts in its character and range. It is expiation before God; it is also substitution for our sins (3Mo 16:7-10), Jehovah (Psalm 22. The substance of a lecture in Ryde in 1873 by W. Kelly).
Das ist Sühnung. Und Sühnung hat zwei Seiten in ihrem Charakter und in ihrer Reichweite. Es ist Genugtuung vor Gott; es ist genauso Stellvertretung für unsere Sünden (3Mo 16:7-10), das Los für den HERRN und für das Volk, obwohl das Letztere nicht so sehr der Gegenstand des Psalmisten hier ist, und daher werde ich hier nicht weiter darauf eingehen. -
Thus two goats, in fact, were needed to complete atonement, the formal and particular confession being upon the scapegoat or people’s lot. Still they were both involved for the type of atonement in its two great parts, the vindicating of God, which was the first thought, and next the allied comfort of knowing that all evil on the part of the people was minutely brought out, laid upon that goat, and discharged to be seen no more. And these two truths are distinctly before us in Rom. 3 and Rom. 4; chapter 3 answering more to Jehovah’s lot, chapter 4 to the people’s lot, the latter part of both chapters. In the one case it is God just and justifying him that believes in Jesus; and there we have the blood on the mercy-seat. In the other, Christ is said to be delivered for our offences, and raised again for our justification, which delivering of Him up for our offences is exactly what the scapegoat figured when sent away with their sins over his head (The Priesthood of Christ).
Zur vollständigen Sühnung bedurfte es also zweier Böcke. Das formelle und spezielle Bekenntnis war dabei auf dem Asasel oder dem Los des Volkes. Beide Böcke dienten dazu, die Sühnung in ihren beiden bedeutsamsten Seiten vorzustellen. Die eine Handlung war der Ausdruck des gerechten Gerichts Gottes über die Sünde, die andere die damit in Verbindung stehende Tröstung für uns, dass alle Sünden hinweggetan sind und nicht mehr gesehen werden. Beide Handlungen finden wir im Neuen Testament, zum Beispiel in Römer 3 und 4, deutlich wieder. Der letzte Teil des dritten Kapitels entspricht mehr dem Los des HERRN, während der letzte Teil des vierten Kapitels uns das Los vor Augen stellt, das auf den Bock Asasel fiel. Der erste Fall zeigt uns, dass Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der an Jesus glaubt; und hier finden wir das Blut auf dem Gnadenstuhl. Im zweiten Fall aber sehen wir Christus als den, „der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“; denn seine Dahingabe wegen unserer Sünden wird uns in dem Bock vorgebildet, der mit den Sünden des Volkes in die Wüste geschickt wurde.
C.H.Mackintosh
- (3Mo 16:7-10) In these two goats, we have the two aspects of atonement already referred to. The „Lord’s lot“ fell upon one; and the people’s lot fell upon the other.
In den beiden Böcken (3Mo 16,7-10) sehen wir die zwei bereits erwähnten Seiten der Versöhnung. Das „Los für den HERRN“ fiel auf den einen und das „Los für das Volk“ auf den anderen Bock.
C.E. Stuart
- But the dealing with the live goat was also an integral part of atonement, the two goats being but one sin offering; so all that was done with both, was together what was comprised under the one word atonement (Salvation and Atonement).
Aber das Handeln mit dem Asasel war auch ein integraler Bestandteil der Sühnung. Die zwei Böcke sind ein Sündopfer. So ist alles, was mit beiden getan wurde, zusammen das, was in dem Wort „Sühnung“ enthalten ist.