Einleitung
Die Geschichte von Jona gehört zu den bekanntesten biblischen Geschichten. Die wundersamen Erlebnisse eines ungehorsamen Propheten, der von einem großen Fisch verschluckt wurde und da drei Tage später wieder lebendig herauskommt, hat man als Kind mit roten Ohren angehört. Das Stadium der roten Ohren ist bei mir inzwischen vorbei, aber ich empfinde immer noch die Geschichte von Jona als eine der hintergründigsten Geschichten der Bibel. Einerseits hat die Geschichte etwas Komisches – Jona ist unwidersprochen der größte Dickkopf des Alten Testaments. Andererseits hat die Geschichte etwas Unbegreifliches – was geht in der Seele eines Propheten vor, dass er Gott so verbissenen Widerstand leistet? Wenn für einen Propheten aus dem Alten Testament die Bezeichnung „Seltsamer Vogel“ in Frage kommt, dann ist es wohl Jona.
Durch seinen Widerstand gegen den Auftrag Gottes hat Jona den Stempel des ungehorsamen Propheten erhalten. Manchmal sehen Menschen darin einen Grund, um etwas herabsetzend von Jona zu sprechen: Jona ist eigentlich nur ein „kleiner Prophet“, ein Prophet, der nicht sehr viel von Gottes Herz begriffen hat. Wenn er das Herz Gottes gut gekannt hätte, dann wäre er mit großer Begeisterung nach Ninive gegangen, um dort das Evangelium zu verkündigen, meint man dann. Dadurch dass wir die Geschichte von Jona so früh mit roten Ohren gehört haben und uns sein Makel auch schon früh vorgestellt wurde, gelingt es uns nicht mehr so leicht, das Buch Jona unbefangen zu lesen. Kürzlich gelang es mir, das Buch Jona „frisch“ zu lesen – und ich entdeckte, dass die Geschichte schockierender war, als ich bis dahin jemals gedacht hatte.
Jona ist ein großer Prophet
Ich glaube nicht, dass Jona ein „kleiner Prophet“ ist. Dass Jona sicher ein großer Prophet ist, zeigt sich zuallererst aus den Worten des Herrn Jesus, der zu den Umstehenden sagte, indem Er auf sich selbst zeigte: „Mehr als Jona ist hier“ (Mt 12,41). Der Herr nennt Jona in einem Atemzug mit dem König Salomo, und das hätte Er nie getan, wenn Jona in diesen Tagen in Israel den Ruf eines „kleinen Propheten“ gehabt hätte. Es liegt zum Zweiten nicht auf der Hand, anzunehmen, dass der Herr Gott einen so großen Auftrag, nämlich eineinhalb Monate lang zu versuchen, Ninive zur Einkehr zu bringen, irgendeinem dahergelaufenen Hinterhof-Propheten erteilen würde. Allein aus der Tatsache, dass Jona vom Herrn ausgewählt wurde, um dieser großen Aktion Gestalt zu verleihen, können wir ablesen, dass er unter allen Propheten, die es in jener Zeit reichlich in Israel gab, der am besten geeignete Mann war, um diesen Auftrag zu einem guten Ende zu bringen. Aber dass Jona kein „kleiner Prophet“ ist, zeigt sich drittens gerade in der Art und Weise, wie er auf Gottes Auftrag reagiert. „Predige gegen Ninive, denn ihre Bosheit ist vor mich aufgestiegen“, sagt der Herr zu Jona (Jona 1,2). Das sind inhaltsschwere Worte, die viele Menschen als eine Unheilsnachricht interpretieren würden: Über den Köpfen von Ninive hängt drohend ein schweres Gericht.
Gottes Auftrag muss Jona – der Ninive offenbar gern von der Landkarte verschwinden sehen würde – doch wie Musik in den Ohren geklungen haben. Aber nein, Jona ist von Anfang an nicht mit Gott einig, und darum nimmt er die Beine in die Hand. Bei Jona kommen Gottes Worte nicht als eine Ankündigung des Gerichts an. Jona kapiert direkt, was sich hinter der Botschaft „Predige gegen Ninive, denn ihre Bosheit ist vor mein Angesicht aufgestiegen“ verbirgt. Die Einwohner von Ninive haben es bei Gott zu bunt getrieben, und eigentlich müsste er sie dafür heftig bestrafen. Aber Jona kennt das Herz Gottes sehr gut. Gott will Ninive überhaupt nicht vernichten, und Gott kann den Niniviten alles vergeben, wenn sie nur zur Umkehr kommen wollen. Jona fühlt es bis in seine Fußspitzen, dass es eine Kleinigkeit sein wird, Ninive massenhaft auf die Knie zu bekommen. Nach drei Sätzen von ihm wird ein Gejammer losbrechen, wie er es noch nie in seinem Leben gehört hat. Das ist das Erstaunliche an den ersten Versen des Buches Jona: Gott erwähnt Gnade und Vergebung mit keinem Wort, aber Jona begreift sekundenschnell, dass der Herr genau darauf hinaus will. Das ist genau das, was er Gott später vorwirft: „Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich das Unheil gereuen lässt“ (4,2). Eben hieraus zeigt sich, dass Jona ein großer Prophet ist. Er gehört zu denjenigen, die das Herz Gottes selten gut verstehen; ihm ist ein halbes Wort von Gott genug, um zu begreifen, was in Gottes Herz lebt.
Folterpraktiken
Jona will nicht nach Ninive, weil er haarscharf fühlt, worauf seine Predigt hinauslaufen wird: Die Niniviten werden sich wie ein Mann bekehren, und Gott wird sich daraufhin erbitten lassen. Na ja, das ist nicht toll – das würde er zu verhindern wissen. Und so fliegt die Taube (der Name Jona bedeutet „Taube“) in die verkehrte Richtung: nicht nach Osten, sondern in nordwestliche Richtung.
Wir wollen die seltsame Taube nun nicht zu hart fallen lassen wegen ihres Unwillens, dem Auftrag Gottes zu gehorchen. Wenn Gott selbst sagt, dass die Bosheit von Ninive vor sein Angesicht aufgestiegen ist, dann ist das keine Übertreibung. Es ist bekannt, dass das alte Ninive grausame Folterpraktiken für Kriegsgefangene bereithielt. Es erfordert nur wenig Einfühlungsvermögen, sich vorzustellen, dass Jona es nicht gerade als tolle Aussicht empfand, dass Gott gerade dieser Stadt eine große Demonstration der Gnade geben wollte – einer Stadt mit so einem schlechten Ruf? Jona könnte mit Leichtigkeit hundert Städte aufzählen, die nach seinem Gefühl Gottes Gnade eher verdient hätten als Ninive. Jona findet es prima, dass Gott gnädig sein will, aber das hier ist nicht mehr nett. Was Gott jetzt sagt, geht so total gegen Jonas Gerechtigkeitsgefühl, dass er dagegen den Aufstand probt.
Auch hier haben wir das Pech, dass wir die Geschichte zu gut kennen; es dringt nicht gut zu uns durch, wie eingreifend es ist, was hier in ein paar Worten gesagt wird. Jona geht nicht, ohne zu fragen, für ein paar Wochen auf Urlaub nach Tarsus. Er flieht nach Tarsus – das heißt, er ist fest entschlossen, Israel für längere Zeit zu verlassen oder sogar in Tarsus eine neue Existenz aufzubauen. Gottes Auftrag ist für Jona so unverdaulich, dass er bereit ist, das ganze Leben, das er bisher geführt hat, zur Diskussion zu stellen, nur um vor diesem Auftrag verschont zu bleiben. Das beinhaltet, dass er zugleich seine Prophetenschaft aufgibt. Lieber selbst „weg vom Angesicht des Herrn“ (Jona 1,3.10), als dass Ninive Gnade zuteilwird.
Zerbrechlich und verletzbar
Das Schockierende am Buch Jona ist, dass man einen großen Propheten von einem Tag auf den anderen von seinem Sockel fallen sieht. An Jona kann man sehen, wie zerbrechlich und verletzbar ein Prophet eigentlich ist. Eine Prophetenschaft ist kein Beruf im üblichen Sinn, für den man die Theorie lernen und Praxiserfahrung sammeln kann. Prophet sein steht und fällt mit einer scharfen Antenne für Signale aus dem Himmel und der Bereitschaft, diesen Signalen Gehorsam zu leisten. Sobald man diese Signale bewusst überhört, bleibt von der Prophetenschaft nichts mehr übrig, ungeachtet dessen, wie viel Kenntnis man sich angeeignet oder wie viel Arbeit für den Herrn man getan hat.
Wir sehen in Jonas Geschichte zuallererst, dass er die Realität um sich hin nicht mehr in den richtigen Größenverhältnissen wahrnimmt. Als er auf dem Meer in eine gefährliche Situation gerät, hat er davon keine blasse Ahnung. Er liegt so fest im Schlaf, dass der Kapitän ihn wach machen muss. Vor Ninive dagegen macht er sich schreckliche Sorgen um ein kleines Bäumchen. Einerseits bleibt er ruhig in einer Situation, in der er ganz aufgeregt sein müsste; andererseits regt er sich furchtbar auf über eine Situation, in der er ganz ruhig bleiben könnte. Zum Zweiten bekommen wir den Eindruck, dass Jona es fertigbekommt, auf einmal ganz klein von Gott zu denken. Als Jona sich einschifft, will der Kapitän gern wissen, warum Jona das Land Israel verlassen will. Jona hat dem Kapitän und seiner Mannschaft keinen Bären aufgebunden: „Die Männer hatten erfahren, dass er vor dem Angesicht des Herrn auf der Flucht war, denn er hatte es ihnen mitgeteilt“, lesen wir später (Jona 1,10). Das scheint eigenartiger, als es ist. Es kam in dieser Zeit viel öfter vor, dass Menschen vor Göttern flüchteten. Man glaubte, dass der Einfluss der Götter eines Landes bis zu den Grenzen dieses Landes reichte. Sobald man die Grenze überschritten hatte, war man außerhalb des Einflussbereichs dieser Götter ankommen. Dann konnte man also erleichtert aufatmen – oder ruhig ein Nickerchen machen gehen. Die Bibel schweigt über die genauen Gedanken von Jona. Aber die Beschreibung weckt den Eindruck, dass Jona anfing, ganz klein von Gott zu denken. Ob er selbst ernsthaft gemeint hat, auf diese Weise dem Einfluss Gottes zu entfliehen, lässt sich nicht beweisen, aber es scheint so zu sein, dass er gegenüber dem Kapitän und der Mannschaft den Herrn vorgestellt hat als einen Gott, dem man einfach entkommen kann, indem man das Land Israel verlässt.
Das Unglaubliche am Buch Jona ist, dass der große Prophet Jona sogar später durch die gleichen heidnischen Kerle seinen eigenen Gott „ausgelegt“ bekommen muss. Während des Sturms scheinen die heidnischen Schiffsleute (die Gott überhaupt nicht kennen, so zeigt es sich aus den Worten des Kapitäns in Jona 1,6) in diesem Moment mehr von Gott zu begreifen als Jona selbst. Als Jona ihnen erzählt hatte, dass er „dem Herrn, dem Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat“ (Jona 1,9) dient, kapieren sie direkt, dass der Machtbereich dieses Gottes nicht auf die Grenzen des Landes Israel beschränkt bleibt. Und sie haben es auch sofort verstanden, dass sie es nun mit diesem Gott zu tun haben.
Etwas Vergleichbares geschieht später bei den Niniviten. Jonas Alptraum wird wahr: Seine Predigt schlägt ein wie eine Bombe, und die ganze Stadt beginnt zu jammern. Die Niniviten liefern sich selbst daraufhin einem Gott aus, von dem sie nicht einmal wissen, ob er gnädig ist oder nicht; Jona weiß wohl, dass Gott „gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich das Unheil gereuen lässt“ ist, aber er unterließ es trotzdem konsequent, sich selbst der Gnade Gottes auszuliefern. Mit anderen Worten, wieder einmal scheinen die Heiden besser begriffen zu haben, was in Gottes Herz vorgeht, als der erfahrene Prophet.
„Hast du es jetzt verstanden?“
Das Buch Jona enthält eine eindringliche Warnung an die Propheten von heute: Prophet ist man niemals auf der Basis von Routine. Man erreicht als Prophet nie ein Stadium, dass man von sich selbst behaupten kann, dass man die „Grundsätze“ seines Berufs jetzt so gut unter den Füßen hat, dass man höchstens noch Probleme mit neu dazu kommenden Kleinigkeiten bekommen könnte. Auch wir können in einer Situation landen, dass uns ein ungläubiger Kollege oder ein kleines Kind von sechs Jahren Gottes Gedanken auslegen muss. Ungläubige sehen (zu Recht!) kritisch auf uns. Und kleine Kinder lassen sich von unserem Theaterspiel nicht blenden, die stochern durch alle Scheinheiligkeit hindurch. Wir können auch auf einmal anfangen, ganz klein von Gott zu denken. Dafür sind wir nicht zu gut. Tatsächlich sind wir genau solche seltsamen Vögel wie Jona. Der „große Prophet“ Jona hat mehr Gnade von Gott nötig als alle Bewohner von Ninive zusammen. Dass Gott „gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich das Unheil gereuen lässt“ ist, ist in erster Linie eine Botschaft für Jona, danach erst für alle anderen Personen in der Geschichte. Das offene Ende des Buches Jona (Gott stellt in Jona 4,10.11 eine Frage, auf die keine Antwort von Jona folgt) ist, was den Erzählstil betrifft, ein geschickter Volltreffer. Es lässt uns im Ungewissen bezüglich der Frage, ob Jona es nun endlich begriffen hat. Aber Gottes Frage kommt so auf jeden Propheten zu, der das Buch Jona liest: „He, seltsamer Vogel, hast du es jetzt verstanden?“
Aus Bode van het heil in Christus, Vaassen, NL
Jg. 143, Nr. 10, Oktober 2000, S. 14–16
Übersetzung: Frank Schönbach