Leitvers: Titus 2,13
Tit 2,13: Wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus.
Es ist bemerkenswert, dass der Geist Gottes niemals einen längeren Beweis der Lehre vom Kommen des Herrn anführt. Er setzt voraus, dass das Kommen des Herrn die eigentliche, feststehende, klar dargelegte Hoffnung der Kirche Gottes ist, und verwendet sie dementsprechend bei allen Gelegenheiten. So finden wir in Titus 2 diese „glückselige Hoffnung“ im Zusammenhang mit den alltäglichsten Beziehungen und Pflichten des häuslichen Lebens, beispielsweise dass Knechte „nicht widersprechen und nichts unterschlagen“ sollen (Tit 2,9-10).
Es ist sehr wichtig, dies zu beachten. Es lehrt uns nämlich, dass das Kommen des Herrn nicht nur eine Erwartung für die Kundigen ist, sondern dass sein Kommen eine „glückselige Hoffnung“ ist, die das Herz eines einfachen Knechtes inmitten der Mühsal, der Erschöpfung und der Plackerei des täglichen Lebens belebt. So jemand kann „die Lehre, die unseres Heiland-Gottes ist“, nach seinem Maß ebenso „zieren“ wie ein Apostel, indem er „nicht widerspricht und nichts unterschlägt“ (Tit 2,10). Und zugleich kann er an der „glückseligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus“ festhalten. Wie gesegnet einfach ist das! Ein Knecht [od. Arbeitnehmer] könnte geneigt sein zu fragen: „Was kann ich für den Herrn tun? Wie kann ich seine ‚Lehre zieren‘ oder seine Sache fördern?“ Der Heilige Geist eröffnet ihm eine ganz bestimmte, einfache und glückliche Sphäre, indem Er ihn lehrt, nicht zu stehlen und nicht zu widersprechen.
Einige mögen entgegnen: „Würde einfache Ehrlichkeit jemand nicht davon abhalten, zu ‚stehlen‘, und würde ein moralisches Empfinden für Anstand jemand nicht davon abhalten, zu ‚widersprechen‘?“ Sehr wahrscheinlich; aber der Natur, der einfachen Ehrlichkeit und dem moralischen Empfinden kann man nicht trauen, denn: „Die im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen“ (Röm 8,8). Um Gott zu gefallen, müssen wir der göttlichen Natur teilhaftig werden und in ihrer Kraft wandeln. Diese göttliche Natur erhalten wir, indem wir „an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glauben“ (1Joh 5,13); und in der Kraft dieser Natur wandeln wir „durch Glauben“ (2Kor 5,7).
Auf diese Weise ist jede Kleinigkeit, die wir tun, Frucht für Gott: Alles duftet nach der Gnade Christi und steigt als lieblicher Wohlgeruch zum Thron Gottes auf. Ein Apostel, der mit apostolischem Eifer und apostolischer Macht in der Kraft des Geistes von Volk zu Volk reist, der Gemeinden pflanzt und bewässert, und ein Arbeitnehmer, der seiner täglichen Arbeit nachgeht, können beide in ihrem eigenen Bereich „die Lehre, die unseres Heiland-Gottes ist, zieren in allem“ (Tit 2,10), und jeder kann die „glückselige Hoffnung“ als das schätzen, was genau den Bedürfnissen und dem sehnlichen Verlangen seiner Seele entspricht.
Wie gnädig ist unser Gott, uns eine solche Hoffnung zu geben! Wie glücklich können wir sein, dass wir nicht auf den Tod und das Gericht warten sollen, sondern auf den Einen, „der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut“ (Off 1,5) – der Eine, der vor aller Zeit an uns gedacht, uns zur bestimmten Zeit besucht (vgl. Lk 1,78) und für uns am Holz gelitten hat, damit Er uns zum höchsten Ort der Würde und Herrlichkeit erheben kann: in Gemeinschaft mit sich selbst.
Im Neuen Testament beziehen sich eigentlich nur vier Stellen auf den Zustand der Seele, während sie vom Körper getrennt ist:
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Lk 23,43: „Er sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
Ein gesegneter Tausch! Das Kreuz eines Übeltäters wurde gegen das strahlende Paradies Gottes eingetauscht – eine Welt des Leids gegen eine Welt der Glückseligkeit!
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Apg 7,59: „Sie steinigten Stephanus, der betete und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“
Auch hier haben wir einen gesegneten Tausch. Wer kann die Freude eines Geistes beschreiben oder begreifen, der aus der Gegenwart grausamer Mörder, die mit den Zähnen knirschen und mit Steinen werfen, in die Gegenwart dessen übergeht, der mit offenen Armen dastand, um die Seele seines Dieners zu empfangen?
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2Kor 5,8: „Wir sind aber guten Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein.“
Der entkleidete oder getrennte Zustand ist nicht das Ziel der Hoffnung, obwohl er sicherlich ein glücklicher Übergang ist von einem „Leib der Sünde und des Todes“ (Röm 6,6; 7,24) – einem „Leib der Niedrigkeit“ (Phil 3,21), einer verfallenden Hütte – in den Bereich ungehinderter geistlicher Gemeinschaft. „Wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben“ (2Kor 5,4). Der entkleidete Zustand ist zwar ein Zustand ungehinderter Gemeinschaft, jedoch nicht vollkommener Glückseligkeit. Der Gläubige wird erst dann vollkommen sein, wenn „das Sterbliche von dem Leben verschlungen wird“, und das wird am Morgen der „ersten Auferstehung“ sein (Off 20,5-6), wenn er nach Leib, Seele und Geist dem Bild seines Herrn gleich sein wird (vgl. Phil 3,21; 1Joh 3,2).
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Phil 1,23: „Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser.“
Hier wird eindeutig gesagt, dass es „weit besser“ ist, von diesem Schauplatz des Kampfes, der Prüfung und des Leids fort zu sein. Aber der Apostel sagt nicht, dass es das Beste ist. Es ist gut, hier zu sein, solange der Herr es so will. Es ist besser, bei Christus zu sein, wenn unsere Arbeit getan ist. Aber das Beste von allem wird sein, wenn „der Herr selbst mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes vom Himmel herabkommen wird und die Toten in Christus zuerst auferstehen werden; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1Thes 4,16-17).
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Dies ist „die glückselige Hoffnung“, die der Herr Jesus am Vorabend seines Weggangs seinen traurigen Jüngern geradewegs vor ihre Herzen stellte in den Worten: „Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet“ (Joh 14,3).
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Dies ist „die glückselige Hoffnung“, die die Engel den Aposteln verkündeten, als sie sagten: „Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht hinauf zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden ist, wird ebenso kommen, wie ihr ihn habt auffahren sehen in den Himmel“ (Apg 1,11). Das Kommen ist so sicher wie das Gehen, und zwar auf dieselbe Weise.
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Schließlich ist dies „die glückselige Hoffnung“, die wie ein kostbarer Edelstein auf fast jeder Seite des Neuen Testaments glänzt und die der Geist Gottes als den Polarstern am Horizont der Kirche gesetzt hat. Diese Hoffnung sollte die Kirche nie aus den Augen verlieren und sollte all ihren Wegen auf der Erde ihr Gepräge verleihen.
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In 3. Mose 25,14-16 finden wir, dass ein Israelit darin unterwiesen wurde, den Verkauf seines Landes entsprechend dem Jubeljahr zu regeln. Wenn dieses Jahr bevorstand, wurde der Wert des Eigentums gemindert. Genauso verhält es sich mit der „glückseligen Hoffnung“. Wenn das Herz danach verlangt, den Bräutigam zu sehen, wird es den gegenwärtigen Dingen nur wenig Bedeutung beimessen. Wenn wir danach Ausschau hielten, in der frühesten Morgendämmerung an jenem wolkenlosen Morgen das Erscheinen des „Morgensterns“ zu sehen (vgl. 2Pet 1,19), wie unweltlich und weltabgewandt müssten wir dann sein! Wie abgesondert und wie erhaben über alle Verbindungen mit dem Irdischen!
Leider hat die Kirche das Empfinden für „diese glückselige Hoffnung“ verloren und das Kommen des Todes an die Stelle des Kommens des himmlischen Bräutigams gesetzt. Möge der Herr inmitten seines Volkes diese reinigende und tröstliche Hoffnung auf das Kommen des Herrn wiederbeleben. Möge Er eine treue Schar „kluger Jungfrauen“ vorbereiten und hervorbringen (vgl. Mt 11,1-11). Und mögen sie mit Herzen, die „befestigt sind durch Gnade“ (Heb 13,9), die „allen erschienen ist“ (Tit 2,11), und mit geschmückten Lampen und brennenden Lichtern auf den Ruf „Siehe, der Bräutigam!“ (Mt 25,6[1]) von Herzen mit den passenden Worten antworten: „KOMM, HERR JESUS!“ (Off 22,20).
Originaltitel: „That blessed Hope“
in Things New and Old, Jg. 1, 1858, S. 61–64.
Übersetzung: Gabriele Naujoks
Anmerkungen
[1] Amm. d. Red.: Die von CHM verwendete King-James-Bibel hat: „Behold, the bridegroom cometh.“