Ihr, die ihr vorübergeht ...
... die Menschen von Golgatha

Rainer Imming

© R. Imming, online seit: 16.03.2004, aktualisiert: 13.09.2018

Leitverse: Matthäus 26–27; Lukas 23; Markus 14–15; Johannes 19

Einleitung

Das Ereignis, um das es geht, ist den meisten Menschen zumindest irgendwie vom Hörensagen bekannt. Und die Person, die im Mittelpunkt stand, auch: Jesus, der vor ca. 2000 Jahren vor den Toren der Stadt Jerusalem öffentlich am Kreuz hingerichtet wurde.

Der Ort, man nannte ihn „Schädelstätte“ (Golgatha), war vielleicht nicht zum ersten Mal Schauplatz solch eines Ereignisses. Damals wurden auf diese oder ähnliche Weise zahllose Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen hingerichtet. Doch kein anderer Prozess und kein anderes Urteil hat in der Folge – bis heute – ein derartiges Aufsehen erregt wie die Kreuzigung von Jesus. Warum eigentlich?

Schon damals wurden die unterschiedlichsten Leute in den Strudel dieser Ereignisse hineingezogen. Was waren das für Menschen, die damals Augenzeugen oder gar Mitwirkende der Verurteilung und Hinrichtung von Jesus waren? Wie standen sie zu der Sache? Könnte es sein, dass wir uns heute in ihnen wiederfinden? Um die Menschen von Golgatha soll es im Folgenden gehen.

Die folgenden Skizzen beruhen auf den Schilderungen, die uns in den Berichten über das Leben von Jesus, den Evangelien, von Matthäus, von Markus, Lukas und Johannes mitgeteilt werden.

Die Vorübergehenden

Eigentlich interessierte sie das alles nicht besonders. Es gab Wichtigeres und Schöneres im Leben. Und als sie eben damit beschäftigt waren, kamen sie nun – zufällig? – gerade auf der Straße nach Jerusalem hinein, an der seit dem Vormittag die drei Kreuze standen: Jesus in der Mitte, rechts und links je ein Schwerverbrecher. Darum herum eine Menge Leute und Soldaten.

Den in der Mitte kannten sie so flüchtig: dieser Jesus aus Nazareth – Schwärmer, Angeber, Störenfried, Narr …? Jedenfalls nicht wert, länger beachtet zu werden. So hatten sie es bisher mit Ihm gehalten. Und dieser elende Anblick, wie Er jetzt halbnackt am Kreuz hing, gab ihnen endgültig recht: „Vergiss ihn!“

Mehr als ein paar Worte hämischen Spottes fielen ihnen im Vorübergehen nicht ein. Und wozu Mitleid, da Er doch selbst an allem schuld war. „Leben und leben lassen“ war ihr Motto. Warum hat Er sich in alles Mögliche eingemischt, das Ihn nichts anging? Hätte Er ein einigermaßen „anständiges“ Leben geführt, so wie sie, sich mit niemandem groß angelegt – alle hätten ihre Ruhe gehabt!

Ihr Leben sollte jedenfalls in den gewohnten Bahnen weiterlaufen. „Tue Recht und scheue niemand“ – und wehe dem Menschen, der es wagt, die Fassade dieser seriösen Bürgerlichkeit etwas genauer zu betrachten. Bloß nicht darüber nachdenken, ob ihre wichtigen Dinge wirklich so wichtig, ihre schönen Dinge wirklich so schön sind.

Oberflächliche Menschen, die nicht begreifen, dass Leben mehr ist als die Kunst, unter den gegebenen Umständen das Beste daraus zu machen. Die blind dafür sind, dass jeder Tag mehr Inhalt haben kann als Arbeit und Feierabend, kaufen und verkaufen, sehen und gesehen werden und dazu noch eine wohl dosierte Prise „Abenteuer“ und Spaß in der Freizeit oder im Urlaub. Keine Zeit für den, der ihrem Leben echten Sinn geben will – und den sie nur als Störenfried auf ihren ausgetretenen Pfaden ansehen.

Spottend gingen sie am Kreuz vorbei – unwichtig war Jesus ihnen. Wenn sie nicht irgendwann dorthin umkehren, haben sie um den Preis ihrer Seelen geirrt.

Simon von Kyrene

Er wollte eigentlich auch nur „vorübergehen“ – allerdings ohne noch zu lästern. Denn das war nicht seine Art. Er kam vom Feld – ehrbare Arbeit! – und wollte nach Hause, zu Frau und Kindern.

Mit Aufruhr und solchen Sachen wollte er nichts zu tun haben. Unauffällig vorbeigehen und nicht hineingezogen werden in diesen ganzen Kram mit Jesus. Ein bisschen Religion ist ja in Ordnung – aber bloß kein „Fanatismus“. Die Arbeit hatte er schließlich, wie es sich gehörte, rechtzeitig vor Beginn der Feiertage erledigt.

So hatte er es sich gedacht. Doch dann kam alles ganz anders. Plötzlich griff ihn der Chef des Hinrichtungskommandos und befahl ihm: „Trag dem da das Kreuz!“ Da gab es kein Ausweichen mehr. Nun musste er in dieser makaberen Prozession mitziehen und das auch noch mittendrin! Wenige Schritte vor ihm ging Jesus, für den dieses Kreuz bestimmt war. Simon musste alles mit eigenen Augen ansehen.

Vorbei das beschauliche Leben eines Mannes, der weder für noch gegen Jesus sein wollte. Sie, die Feinde von Jesus, hatten ihn auf ihre Seite gezerrt: Er wurde zum Erfüllungsgehilfen derer, die Jesus ermordeten.

Niemand kann im Blick auf Jesus ein Leben lang neutral bleiben. Es kommt irgendwann die Stunde, wo wir Farbe bekennen müssen. Wo wir vielleicht mitten unter denen stehen, die über Jesus schimpfen, lachen, spotten … – Lassen wir uns ohne Widerspruch auf ihre Seite ziehen?

Wir werden nicht sagen können, wir haben nichts davon gewusst. Simon sah alles mit an. Er würde danach nicht mehr derselbe sein. Entweder Helfer derer, die Jesus aus dieser Welt beseitigen wollen, oder …

Simons Söhne waren den ersten Christen später wohl namentlich bekannt. Wie mag sich Simon entschieden haben? Wie entscheiden wir uns?

Die Volksmenge

Die Menschenmenge, in die Simon von Kyrene unfreiwillig hineingezogen wurde, war ein brodelndes Gewirr. Gedränge und noch manche Schläge für die Verurteilten, einzelne Schmährufe und gemeinsames Geschrei: „Kreuzige ihn!“ So zogen sie aus der Stadt hinaus nach Golgatha. – Nicht wenige von ihnen waren vermutlich auch dabei, als etwa eine Woche vorher Jesus in Jerusalem ankam. Da war die Volksmenge auch ganz aufgeregt, begrüßte Ihn wie einen König und jubelte: „Gelobt, der da kommt im Namen Gottes!“ – Kein Wort mehr davon heute.

War in dieser Woche irgendetwas passiert, womit sich Jesus die Sympathien der Volksmenge verscherzt hatte? Keineswegs, aber seit dem frühen Morgen hatten seine Feinde, die religiösen Führer, Leute unter das Volk gebracht, die immer nur wieder eines sagten und schrien: „Er ist ein Verbrecher! Er muss sterben!“ Und wenn viele das laut und oft sagen, muss ja was dran sein. Und so schrien sie jetzt mit: „Kreuzige ihn!“

Wenn man sie gefragt hätte, warum sie das denn heute schreien und letzte Woche das ganze Gegenteil – sie hätten vermutlich keine rechte Antwort gehabt. Sie dachten heute so, weil alle so dachten, sie liefen heute mit, weil alle mitliefen, sie schrien, was alle schrien.

Zu allen Zeiten haben gewissenlose Demagogen um die Gefügigkeit des Menschen in der Masse gewusst und sie für ihre Zwecke missbraucht. Bis in die Neuzeit: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ – „Ja! Ja! Ja! …!“

Bilden wir uns unsere eigene Meinung, oder lassen wir sie uns durch Meinungsmacher vorschreiben? Die Leute in der Menge haben heute so und morgen anders über Jesus gedacht. Ja, haben sie eigentlich wirklich über Ihn nachgedacht? Wollten sie sich diese Mühe überhaupt machen? Wirklich kennengelernt hatte Ihn nur, wer den Mut hatte, aus dieser Menge auszuscheren und Ihm persönlich zu begegnen.

Die religiösen Führer

In diesem Gewirr von Menschen, die zum Hinrichtungsort strömten, waren auch etliche, die man in dieser Gesellschaft eher selten sah. Die sonst sehr auf einen ausreichenden Abstand zum gemeinen Volk achteten: die religiösen Führer des Volkes, Hohepriester und Oberste. Man konnte sie gut erkennen an ihren Kleidern und ihrem typischen Verhalten, das sie sofort als „Geistliche“ auswies.

Aber heute vergaßen sie ein wenig ihre sonst übliche vornehme Zurückhaltung. Sie waren endlich am Ziel ihrer lang gehegten Pläne: Jesus wurde öffentlich als Verbrecher beseitigt! Das Schauspiel wollten sie sich nicht entgehen lassen.

Von Anfang an standen sie diesem Zimmermannssohn, diesem selbsternannten Wanderprediger mit seiner ungebildeten Anhängerschaft aus Fischern und ähnlichen Leuten skeptisch gegenüber: Was konnte von so jemandem schon Gescheites kommen?

Und ihre Vorsicht war berechtigt; der Mann stellte alles auf den Kopf! Ihre perfekt gespielte Frömmigkeit nannte Er öffentlich Heuchelei, ihre schön formulierten Predigten und Gebete nannte Er verlogen und wertlos, ihre Geldsammlungen Ausbeuterei der Armen. – Und das gemeine Volk applaudierte Ihm! Er wagte sogar zu behaupten, dass stadtbekanntes Gesindel wie Steuerbetrüger, Huren und Bettler, die um ihre Schuld wussten, Gott näher seien als sie mit all ihrer Religiosität. Und sein ganzes Leben war eine Anklage gegen ihr frommes Getue.

Je größer sein Einfluss im Volk wurde, desto mehr sahen sie ihre Felle wegschwimmen: ihr Ansehen, ihre lukrativen Posten, ihre Macht als angebliche Mittler zwischen Gott und Menschen. Ihre Wut kannte keine Grenzen. Neid und Eifersucht steigerten sich zu äußerstem Hass.

Die Gefangennahme von Jesus in der letzten Nacht war nicht der erste Versuch, Ihn zu beseitigen. Eigentlich sollte es ohne Aufsehen in der Stille geschehen, aber das hatte irgendwie nicht geklappt. Genauso wie der Schnellprozess im Morgengrauen eine unleugbare Farce war. Aber was soll’s? Sie hatten Ihn dennoch verurteilt und auch die Hinrichtung durch die Römer durchgesetzt. Heute Abend würde Er endlich tot sein, für immer schweigen. Und bekanntlich stand ja das Passah bevor, das wichtigste religiöse Fest in Jerusalem. Da mussten sie als Geistliche wieder in Würde ihren Mann stehen. Endlich wieder ungestört; niemand mehr, der ihren Anspruch auf Mittlerschaft zwischen Gott und Menschen angreifen würde …

Sie, die Mitglieder der religiösen Elite, waren die entschiedendsten Feinde von Jesus, die eigentlichen Antreiber seiner Kreuzigung. Neid und Eifersucht, Selbstgerechtigkeit und Ehrsucht hatten sie völlig im Griff. Religion war für sie weithin nur Mittel zum Zweck und in dieser ihrer selbst gemachten Religion war kein Platz für Jesus. – Und wie viel Platz ist in unserem Glauben für Ihn?

König Herodes

Er gehörte auch zur Elite des Volkes, denn über einen Teil des ehemaligen Königreiches Israel wurde er als König von den Römern geduldet. Er war in vielerlei Hinsicht nur eine Marionettenfigur und spielte im Prozess gegen Jesus auch keine bedeutende Rolle. Das hinderte ihn aber nicht, sein Leben als ein rauschendes Fest zu begehen. Geld spielte keine Rolle, moralische Grenzen kannte er kaum: „Erlaubt ist, was gefällt“ war sein Motto.

Diesen Jesus als König und Herrn ernst zu nehmen, kam ihm nicht in den Sinn. Darum teilte er auch nicht die Eifersucht der Pharisäer; ihre und anderer Leute religiösen Ideen waren ihm, dem welterfahrenen Lebemann, sowieso zu spießig. Er wollte Jesus nur mal kennenlernen als originelle Abwechslung seines normalen Tagesprogramms: ein Wundermann als Showeinlage sozusagen. – Wie viele Menschen unserer luxuriösen mitteleuropäischen Gesellschaft denken ähnlich: Auf der Suche nach immer neuer Unterhaltung ist auch ein religiöser Schauder höchst willkommen: der Medizinmann aus Afrika, der Voodoo-Priester aus der Karibik oder auch mal Jesus.

Als Jesus gefangen genommen war, ergab sich endlich diese Chance für Herodes. Pilatus schickt Ihn zu ihm. Aber es war nur ein kurzes Treffen: Herodes’ Unterhaltungswünsche wurden nicht befriedigt, denn Jesus schwieg beharrlich. Da machte er sich über Ihn lustig und schickte Ihn zurück an Pilatus.

Menschen lachen und Jesus schweigt dazu. Sie merken nicht, dass dieses Schweigen schon ihr Gericht ist, dass ihr Lachen, mit dem sie Jesus wegschicken, das hohle Lachen von Menschen ist, die bereits auf dem geraden Weg in die ewige Gottesferne sind. Ihre Überheblichkeit, der Luxus, in dem sie heute leben, und der Applaus ihrer Umgebung mag sie darüber täuschen – aber Gott lässt sich nicht spotten.

Pilatus

Weil die religiösen Führer des Volkes unter der damaligen Oberherrschaft der Römer keine Todesurteile vollstrecken durften, mussten sie Jesus also vor Pilatus schleifen. Pilatus war der vom römischen Kaiser eingesetzte Statthalter.

Sozusagen von Amts wegen hatte er die ganze Sache mit Jesus in den letzten Jahren auch so ein wenig mitverfolgt. Schließlich war er für die Ruhe in dieser Provinz persönlich verantwortlich. Aber in der Sache konnte er diese religiösen Streitigkeiten nicht ganz ernstnehmen; er war halt Politiker und stand mit beiden Füßen auf der Erde. Und wenn er am Anfang seiner politischen Laufbahn vielleicht auch noch etliche Ideale gehabt hatte – der graue politische Alltag hatte sie ihm ausgetrieben. In der Welt überlebt man nur als der Stärkere oder wenn man mit den Wölfen heult; das hatte er gut gelernt.

Als dann Jesus an diesem Morgen gefesselt vor ihm stand und irgendetwas von „Wahrheit“ redete – ansonsten sagte Er ja bemerkenswert wenig –, da konnte er Ihm nur antworten: „Was ist schon Wahrheit?“ Das Leben hatte ihm alle Illusionen genommen. Ein Leben der Taktik und Diplomatie, des Machtpokers, der geschickten Vermischung von Lüge und Wahrheit, Versprechen und Ausflucht, um das Volk ruhig und bei Laune zu halten – und dabei selber immer obenauf zu bleiben. Ein Leben in Abhängigkeiten, aus denen er sich jetzt nicht mehr lösen konnte. – Pilatus war blind geworden für eine Realität jenseits des politisch Machbaren.

Aber durch seine Erfahrung wusste er auch ganz genau, dass die religiösen Führer diesen Jesus nur aus Neid verurteilen wollten. Mehrmals stellte er dann auch dessen Unschuld fest und versuchte, Ihn freizulassen. Denn ein derart krasses Fehlurteil war eigentlich nicht nach seinem Geschmack, im Sinne des römischen Rechts, das er wahren sollte.

Doch die Leute waren wie verrückt – sie wollten unbedingt Jesus sterben sehen. Sogar doch lieber als den berüchtigten Mörder Barabbas. Was tun?

Plötzlich ein Zuruf aus den Reihen der religiösen Führer: „Wenn du diesen Jesus freilässt, der sich König nennt, bist du des Kaisers Freund nicht!“ Pilatus wurde es mulmig zumute; jetzt wurde es für in selber kritisch. Einige Fehlgriffe, die zu Unruhen und damit Verärgerung beim Kaiser in Rom führten, hatte er sich in seiner Amtszeit dummerweise schon geleistet. Wenn diese Leute ihn nun wieder dort anschwärzten … Römische Kaiser gingen mit unfähigen Beamten nicht sehr gnädig um.

In Pilatus’ Hirn arbeitete es fieberhaft. Dann kam ihm der geniale Gedanke: Vom offiziellen Richterstuhl fragte er: „Euren König soll ich kreuzigen?“ – „Ja, wir haben keinen König als nur den Kaiser!“– da verurteilte er Jesus zum Tode.

Mit genialem politischen Instinkt zog Pilatus seinen Kopf aus der Schlinge und drehte den Spieß um, so dass die oft so störrischen Juden offiziell proklamierten: Der Kaiser in Rom ist unser Herr. Dazu waren sie bisher nur mit Gewalt zu bringen, hier taten sie es freiwillig. Ein hervorragender Abschluss für den Bericht, den Pilatus über die ganze Sache nach Rom wird schicken müssen. Man wird ihn dafür von höchster Stelle loben. Ein bisschen tat ihm dieser Idealist ja doch leid. Aber im harten Alltag springen so Leute halt manchmal über die Klinge. Schade, aber nicht zu ändern. Oder hätte er etwa allen Ernstes seine Position und mehr riskieren sollen für diesen Jesus? Sicherheitshalber wusch er in einer publikumswirksamen Szene noch seine Hände in Unschuld. Man konnte ja nie wissen, und als Politiker hatte er auch die Kunst der Rückversicherung schätzen gelernt.

Zur Hinrichtung ging er nicht mit. An den Qualen der Verurteilten sich zu freuen, war unter seiner Würde. Für ihn war die Sache jetzt abgeschlossen. Aber ob das alles wirklich sein Fehlurteil entschuldigte?

Pilatus’ Frau

Mitten hinein in die Verhandlungen erhielt Pilatus eine dringende Nachricht von seiner Frau. Voll unbestimmter Ahnungen vor dem, was geschah, wollte sie, dass ihr Mann sich aus all dem heraushielt.

Träume hatte sie gehabt wegen Jesus. Sie hatte darunter gelitten. Angst erfasste sie. Hatten die Wahrsager nicht immer wieder gesagt, dass Träume Vorboten zukünftiger Ereignisse sind? Als Römerin hatte sie solche Leute schon oftmals befragt. Aber es war alles so undeutlich, ihre Träume sagten ihr nichts Genaues – genauso wenig wie der Rat der Astrologen, Wahrsager und Beschwörer. Sie saß im Finsteren mit ihren düsteren Ahnungen.

Von Jesus hatte sie aus zweiter oder dritter Hand schön gehört, und zwar nur Gutes – sie nannte Ihn „den Gerechten“. Aber was ihr die Leute aus ihrer Umgebung erzählten, waren doch lauter merkwürdige Dinge, mysteriöse Wunder. Sie hatte davor abergläubische Angst gehabt und war der Sache nicht näher nachgegangen. Sie wollte mit all dem lieber gar nichts zu tun haben; sie versuchte, den Kopf in den Sand zu stecken.

„Hab nichts zu schaffen mit Jesus“, warnte sie ihren Mann. Aber wie sollte der das anstellen? Und Jesus als „Gerechten“ freizusprechen, kam ihr genauso wenig in den Sinn wie ihrem Mann.

So blieb sie allein mit ihren Ängsten. Ihr Aberglaube war auch ein Glaube. Aber ein Glaube, der in unbestimmter Angst gefangen hielt, der lähmte. Sie ahnte das Besondere an Jesus. Aber sie war zu sehr in ihre abergläubischen Denkweisen verstrickt, als dass sie auch begriff: Vor Jesus braucht niemand Angst zu haben. Jesus ist kein undurchsichtiger Magier. Keiner, der sie mit seinen Künsten an sich binden wollte. Jesus will befreien, wer zu Ihm kommt! Er will unbestimmte Angst durch zuversichtliche Freude ersetzen!

Barabbas

Er war der Todeskandidat, den Pilatus zusammen mit Jesus vor das Volk stellte. Einen von ihnen wollte er anlässlich des Passahfestes gnadenhalber freilassen, und er hoffte, sie würden Jesus wählen. Doch den wollten sie sterben sehen und Barabbas frei haben!

Barabbas war ein landesweit bekannter Mörder. Nach Recht und Gesetz der damaligen Zeit hatte er den Tod verdient. – Was mag er gedacht haben in seiner letzten Nacht? An dem Morgen, als der Wärter ihn aus dem Gefängnis holte? Als er völlig unerwartet noch eine Chance bekam und dort neben Jesus zur Wahl stand? – Kannte er Ihn? – Als er langsam begriff, dass Jesus sterben sollte und er leben? – Als ein Kriegsknecht ihm die Fesseln abnahm und Pilatus ihn wegschickte – in die Freiheit! Was hat er mit dieser Freiheit angefangen? Wie hat er sein neues Leben, das ihm geschenkt wurde, gelebt? Barabbas hat persönlich konkret erlebt, was Jesus als Zweck seines Kreuzestodes nannte: Er, der Unschuldige, wollte die gerechte Strafe für unsere Schuld auf sich nehmen, damit wir frei ausgehen können, ein Leben mit Gott beginnen können. Leben in Ewigkeit. Eine andere Chance gab es für Barabbas nicht mehr – einen anderen Weg, mit Gott ins Reine zu kommen, gibt es für uns nicht.

Das Angebot von Jesus steht wie für Barabbas so für jeden Menschen. Nehmen wir es an?

Die Kriegsknechte

Nachdem das Volk zwischen Jesus und Barabbas gewählt hatte und Pilatus Jesus zum Tode verurteilt hatte, übergab er Ihn und zwei wegen Raubes verurteilte Männer den Kriegsknechten zur Hinrichtung.

Durch ihr Soldatenleben waren sie roh und hart geworden. Ihre Späße waren derb, denn viel zu lachen hatten sie nicht. Schon etliche Menschen hatten sie vom Leben zum Tode befördert. Und es war ihnen ein beliebtes Spiel, sich über die Leute vorher noch etwas lustig zu machen. Gerade dieser Jesus war ein gutes Opfer dafür.

Oft genug wurden sie unter Druck gesetzt – in der römischen Armee galt eiserne Disziplin –; jetzt durften sie sich mal an einem Schwächeren austoben. Mitleid fand bei ihnen da keinen Raum; dass ihr Spott und ihre Gewalt dem Wehrlosen gegenüber feige war, störte sie nicht. Hauptsache, ein bisschen Spaß gehabt.

Dann führten sie die drei zur Hinrichtung, kreuzigten sie und setzten sich zur Bewachung davor. Weil es so Vorschrift war, gaben sie ihnen eine Art Betäubungsmittel, aber der Mann in der Mitte wollte es nicht. Selber schuld. Später hat der dann irgendetwas gerufen, und den Vorschlag aus der Menge, ihm Essig zu geben, fanden sie ganz lustig. Ansonsten hatten sie kein Auge für die Sterbenden, kein Ohr für ihre Schreie, kein Herz für ihre Schmerzen …

Mehr Interesse fanden bei ihnen die wenigen Habseligkeiten der Todeskandidaten. Die sollten ihnen gehören. Und so saßen sie vor den Kreuzen und spielten um die Kleider. Die Blicke auf die Würfel gebannt – wer würde diesmal das beste Los ziehen? –, die Würfel, mit denen sie schon um so manches gespielt hatten. Das war spannend! – Was da hinter ihnen am Kreuz geschah, ließ sie kalt. Verroht und abgestumpft hatten sie kein Empfingen dafür.

Der Hauptmann

Als Leiter des Hinrichtungskommandos war er aus keinem anderen Holz geschnitzt als seine Untergebenen, die Kriegsknechte. Seine Stellung als Offizier ließ ihn nur etwas mehr Zurückhaltung üben.

Außerdem hatte er kein Teil an den Kleidern der Hingerichteten. So wurde er nicht durch das Glücksspiel abgelenkt und hatte Zeit, die ganze Hinrichtung genauer zu verfolgen. Er beobachtete den Mann in der Mitte, der ganz anders war als alle anderen, die er bisher so sterben sah. Er beobachtete den blindwütigen, feigen Hass und Spott der Menschen diesem Mann gegenüber. – Er war vieles gewohnt, aber was hier vorging, war ihm fremd.

Er hatte bei den Verhandlungen vor Pilatus deutlich mitbekommen, dass dieser Mann eigentlich unschuldig war. Und als er Ihn jetzt beobachtete, sein Verhalten und seine wenigen Worte, begann er zu ahnen, dass es hier um mehr als einen Justizmord ging, von denen er vielleicht schon so manche erlebt hatte. In sein von Härte und Rohheit gezeichnetes Leben prägt sich der Anblick eines Mannes ein, der noch in der extremsten Situation in seinem ganzen Wesen anders war als alle Menschen. Der dort am Kreuz noch für seine Feinde betete. Als Jesus schließlich stirbt, wie Er noch nie einen Menschen hat sterben sehen, konnte er nicht anders als ausrufen: „Wahrhaftig, dieser Mensch war gerecht, war Gottes Sohn!“ – Was hatte er da gesagt!? „Gottes Sohn!?“ – Er würde noch Zeit brauchen, um zu verarbeiten, was er hier erlebt hatte. Aber diesen Jesus würde er nicht mehr vergessen. Über diesen Menschen musste er mehr in Erfahrung bringen!

Die zwei Räuber

Noch zwei hart gesottene Gesellen. Aber jetzt standen sie auf der anderen Seite. Auf der Verliererseite, hilflos der Gewalt der aufgebrachten Menschenmenge und der Kriegsknechte ausgeliefert. – Solange man der Stärkere ist, ist Brutalität ein leichtes Spiel. Aber wie sieht es aus, wenn es uns dann mal erwischt?

Sie winselten nicht um Gnade oder hatten es aufgegeben. Sie wussten, dass ihre letzten Stunden gekommen waren. Oft hatten sie darüber ihre Sprüche gemacht, auch jetzt konnten sie nicht anders. Den Mann zwischen ihnen, der so irres Zeug redete und selbst auf dem Weg zum Kreuz noch eine Kurzpredigt hielt, den überschütteten auch sie mit rohen Lästerungen.

Den einen hatte die Verzweiflung voll im Griff: Roh und spottend lebte er und starb er – wie nicht wenige Gewaltmenschen, die mit Flüchen auf den Lippen in die Ewigkeit gingen.

Der andere wurde leiser. Wenn irgendetwas irre ist, dann das Spotten und Fluchen Sterbender über einen anderen Sterbenden. Aber genau das tat der Mann in der Mitte nicht. Er fragte sich, was mit diesem Jesus wohl wirklich los war. Er erinnerte sich – war er vielleicht auch mal dabei, oder hatten ihm andere davon erzählt? –, was dieser Mann gesagt und gelebt hatte. Damals hatte er darüber auch nur gelacht, aber jetzt …

Unerwartet wies er seinen lästernden Kumpel zur Linken zurecht. Glasklar stellte er fest, dass sie schließlich zu Recht, dieser Jesus aber völlig unschuldig hier hing. Und was in diesen Stunden niemand sonst in dieser Deutlichkeit sah, begriff er plötzlich: Dieser sterbende Jesus ist tatsächlich König und Herr und wird nicht im Tod bleiben, sondern auferstehen und wiederkommen in Macht und Herrlichkeit! Und dieser Jesus wandte sich zu ihm, dem schuldigen Verbrecher, und nahm ihn an.

Mitten im Getöse dieses Tages fand er Ruhe, Ruhe selbst zum Sterben. Kaum jemand nahm das so recht wahr, aber er fand Gewissheit auf ein Leben bei Gott.

Dabeistehende

Und dann gab es damals auch noch eine ganze Menge Schaulustige, die sich eingefunden hatten, um das Spektakel mitzuerleben. Sie standen da, beobachteten alles und machten ihre Witze und Sprüche. – Coole Sprüche sind so billig, wenn man selbst nicht betroffen ist.

Nachher konnten sie dann alles brühwarm am Abendbrottisch, an der Theke in der Kneipe, in der Clique mit den Mitschülern berichten. Sie waren dabei gewesen! Die Berichte würde noch etwas lauter, blutiger, schriller sein … Hauptsache, man hatte mal wieder eine tolle Story zu bieten, mit der man selbst im Mittelpunkt stand. Und im Übrigen konnte man über diesen Jesus ja wirklich nur lachen.

Besonders mutig waren sie nicht, eben nur Zuschauer. Die Kriegsknechte noch aus sicherer Entfernung durch Zuruf auf gute Ideen bringen, das konnten sie. Selber würden sie sich die Finger aber nur zu ungern schmutzig machen. So brutal wie diese Kriegsknechte waren sie ja dann bitte doch nicht.

Diese Leute waren dabei – und doch nicht dabei, haben zugeschaut – und doch nicht gesehen. Und so boten sie nur ein paar blöde Witze, die meisten sogar nur aufgeschnappt und nachgeplappert – hohl und unmenschlich. Genauso unmenschlich wie die Kriegsknechte.

Am Ende des „Schauspiels“, so empfanden sie es, gingen sie nach Hause und schlugen sich dabei an die Brust. Denn irgendwie unheimlich war es ihnen doch geworden – vor allem diese völlige Finsternis zur Mittagszeit. Und diese Verhalten von Jesus. Waren Ihre Sprüche vielleicht doch etwas fehl am Platz? – Aber was soll’s, jetzt ist er tot. Kommt, lasst uns nach Hause gehen!

Menschen, die Jesus aus Sensationslust begegneten. Die sehen wollten, wie seine Sache ausging, aber nur aus Neugier. – Wer Jesus nicht anders anschaut als diese Leute, wird nicht begreifen, wer Er wirklich war.

Klagefrauen

Andere zogen keine derart coole Show ab, sie ließen ihren Gefühlen freien Lauf: die Frauen, die Jesus auf dem Weg zum Kreuz beweinten.

Das war einerseits Tradition, andererseits aber auch mutig. Schließlich war Jesus ja als Verbrecher abgeurteilt. Seine männlichen Anhänger hatten zwar bis vor kurzem noch starke Sprüche gemacht, aber jetzt hatten sie fast alle die Beine in die Hände genommen und waren verschwunden.

So blieben die Frauen mit ihren Trauerliedern übrig. Da wandte sich Jesus um und sagte: „Weint nicht über mich, weint über euch …“ – Er wollte ihnen klarmachen, dass reine Gefühlsausbrüche im Blick auf sein Kreuz niemandem helfen. Bevor wir über Ihn weinen, müssen wir über uns selbst weinen – über unsere Schuld, um derentwillen Jesus starb.

Wer das begreift, dessen Betroffenheit und Trauer wird mehr als ein momentaner Gefühlsausbruch sein, sondern dessen Leben wird verändert. Dessen Trauer wird Ausdruck von Treue zu Jesus werden, auch wenn wir, wie diese Frauen, im Augenblick nicht recht verstehen, wieso so vieles geschieht, und wir auch sonst nicht viel tun können.

Einige Frauen gingen diesen Weg. Sie beobachteten alles aus der Ferne bis zum bitteren Ende. Sahen, wo Jesus begraben wurde – und würden noch viel Größeres erleben. Ihre Treue zahlte sich aus.

Johannes und Maria

Die Mutter Jesu und sein Jünger Johannes wagten als Einzige seiner Anhänger, in diesen Stunden wenigstens einigermaßen bei Ihm zu bleiben. Aber sie sagten kein Wort, keinen Trost. Sie waren völlig hilflos, kaum selber in der Lage zu ertragen, was sie ansehen mussten.

Da wandte sich Jesus, bereits am Kreuz hängend, an die beiden. Er half ihnen, indem Er ihren weiteren Weg aufzeigte. Der Mann am Kreuz tröstete noch die anderen!

Danach sind Johannes und Maria vermutlich irgendwann gegangen. Fassten sie diese Worte als letztes Testament auf? – Ihre Kraft war erschöpft. Sie verstanden nicht, was geschah. Alle ihre Hoffnungen starben dort mit Jesus am Kreuz. Alles umsonst? Sie konnten Jesus in keinster Weise helfen und trösten. Jesus war allein.

Eine Finsternis am hellen Mittag überschattete plötzlich das Land. Drei Stunden lang sah man die Hand vor Augen nicht mehr. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ruft Jesus in die Dunkelheit hinein. – Dann wurde es langsam wieder heller. „Es ist vollbracht“ und „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist“ waren seine letzten Worte. Dann starb Jesus.

Wir können der Tat von Jesus nichts hinzufügen, wir können Ihm nichts abnehmen, so gut es auch von uns gemeint ist. Die Folgen unserer Schuld, den Tod und das Verlassensein von Gott, trug Er für uns – ganz allein. Und – Gott sei Dank! – Er konnte es auch wirklich tun und hat es „vollkommen“ getan. Die frustrierenden und gescheiterten Versuche, selber mit Gott ins Reine zu kommen, sind vorbei. Wenn wir unser Unvermögen und Jesu Stellvertretung im Glauben akzeptieren, dann öffnet sich die Tür zu einem befreiten Leben.

Joseph und Nikodemus

Jesus ist tot. Alle waren gegangen. Alles vorbei?

Zwei Menschen kamen zum Kreuz, wagten jetzt doch den Schritt in die Öffentlichkeit. Führende Männer, die damit all ihre Ehre, ihren Besitz riskierten. Joseph war Ratsherr und Nikodemus einer der bekanntesten Geistlichen seiner Zeit. Innerlich standen sie schon längst zu Jesus, trauten sich aber nicht, sich zu Ihm zu bekennen aus Angst vor ihren Mitmenschen.

Es war spät, sehr spät, als sie Pilatus um den Leib von Jesus baten, um Ihn mit aller Würde zu beerdigen. Und es war noch nicht zu spät! – Wann wagen wir den Schritt auf die Seite dieses Jesus, gegen alle echten und vermeintlichen Widerstände?

Wir werden etwas erleben, was wir vorher nicht im Entferntesten für möglich gehalten hätten! Joseph und Nikodemus beerdigten Jesus, weil sie Ihn hoch schätzten. Eine letzte Tat der Liebe ihrerseits. Sie wussten nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Die Einsicht des Räubers zur Rechten Jesu, dass sein Tod nicht das letzte Wort sein konnte, hatten sie und alle anderen noch nicht erfasst. Aber wenige Tage später, am Sonntagmorgen, werden alle in Jerusalem vor der unleugbaren Tatsache stehen, dass das Grab, in das sie Jesus legten, leer war!

Jesus war aus den Toten auferstanden! Alle Zweifel, Resignation und Angst entfernte Er aus ihren Herzen und Gesichtern. Er hatte den Tod überwunden. Golgatha ist nicht Schlusspunkt, sondern Wendepunkt. Wer an Jesus vorbeigeht, verpasst die Wende vom sicheren Tod zu einem neuen Leben. Wer sich auf seine Seite stellt, findet dieses Leben im Überfluss.

Ihr, die ihr vorübergeht – wohin geht ihr?


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

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