Die Auserwählung – eine Folge unseres Glaubens?
Epheser 1,4; Römer 8,29.30; Römer 9

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Leitverse: Epheser 1,4; Römer 8,29.30; Römer 9

Die Auserwählung – keine Folge unseres Glaubens

Unter den wichtigen Lehrsätzen der christlichen Wahrheit steht die Lehre von der Auserwählung an hervorragender Stelle. Sie macht uns mit den vor Grundlegung der Welt gefassten Ratschlüssen Gottes bekannt. „Er hat uns auserwählt in Christus vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4). Nicht die Schöpfung des Himmels und der Erde ist das Erste, was wir von Gott erfahren; o nein, vor Grundlegung der Welt, als noch nichts von dem bestand, was jetzt ist, hat Gott an uns gedacht, hat Er uns auserwählt, uns gekannt und uns verordnet, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein. Kostbare Wahrheit!

Gott ist Liebe; das ist seine Natur, sein Wesen, und diese Liebe hat Er offenbaren und mitteilen wollen. Das beschloss Er, ehe die Welt war. Es ist in der Tat herrlich, als gebeugte Sünder zu Jesu gekommen zu sein und die reiche Barmherzigkeit Gottes erfahren zu haben; aber weit herrlicher ist es, wenn wir, nachdem wir im Glauben an Jesus Frieden mit Gott gefunden haben, aus dem Mund Gottes vernehmen, dass Er nicht erst jetzt, sondern vor Grundlegung der Welt an uns gedacht hat. Ja, dann lernen wir, dass die Auserwählung nicht eine Folge unseres Glaubens, sondern dass unser Glaube eine Folge der Auserwählung ist, ja, dass sogar alle Dinge – die Erlösung, das Kommen Christi auf die Erde, die Schöpfung des Himmels und der Erde – ihre Ursache in der Auserwählung Gottes vor Grundlegung der Welt haben. Weil Gott uns auserwählt hatte, wurden Himmel und Erde, wurde der Mensch geschaffen, und nachdem der Mensch gefallen war, war diese Auserwählung die Ursache der durch Christus vollbrachten Erlösung.

Das Thema Auserwählung ist etwas für Christen

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist die Lehre von der Auserwählung eine unendlich trostreiche Kostbarkeit für den Christen. Er lernt daraus, dass seine ganze Glückseligkeit in der ewigen Liebe und den ewigen Absichten Gottes begründet liegt. Diese Erkenntnis löst ihn von sich selbst und bringt ihn in eine engere Verbindung mit Gott. Sie stellt seine Füße auf einen festen, unerschütterlichen Boden; denn was ist sicherer als die ewige Liebe Gottes? Sie beseitigt alle Gedanken an eigenes Wirken und eigene Vortrefflichkeit; denn „es liegt nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott“ (Röm 9,16).

Leider hat der Mensch diese herrliche Wahrheit missbraucht und sie als einen Stein des Anstoßes auf den Weg des verlorenen Sünders gelegt. Nichts steht mehr im Widerspruch zur Schrift und zur Absicht des Heiligen Geistes als diese missbräuchliche Anwendung. Die Auserwählung ist eine Wahrheit, die in der Gemeinde Christi gelehrt werden soll, die aber für eine an die Welt gerichtete Predigt ungeeignet ist. Den verlorenen Sündern muss das Evangelium der Gnade Gottes in Christus verkündet werden; sie müssen an Christi statt gebeten werden, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Wenn auch der Prediger des Evangeliums weiß, dass nur so viele glauben werden, als zum ewigen Leben verordnet sind, so darf er doch die Auserwählung nicht in seine Predigt einbeziehen. Tut er es, so schwächt er die Verkündigung der Gnade Gottes und das Gefühl der Verantwortlichkeit des Menschen bezüglich der Annahme des Evangeliums. Nie haben die Apostel so gehandelt. Sie predigten das Evangelium aller Kreatur; sie bewogen die Menschen zu glauben. In die christliche Wahrheit und mithin auch in die Auserwählung aber unterwiesen sie nur diejenigen, die glaubten. Also geziemt es sich auch jetzt. Die Lehre von der Auserwählung ist im Innern des Hauses zur Stärkung und Tröstung der Gläubigen am Platz. Es ist der Teufel, der ihr einen Platz außerhalb des Hauses angewiesen hat zum Anstoß bekümmerter Seelen.

Was nützt es auch, dass man mit unbekehrten Menschen oder mit bekümmerten, noch nicht erlösten Seelen über die Auserwählung redet? Die natürliche Folge einer solchen Torheit ist, dass viele sagen: Wenn ich nur wüsste, dass ich auserwählt wäre, dann dürfte ich mir Jesus und die Erlösung wohl zueignen. – Aber wer kann dies wissen? Wo steht in der Bibel, wer auserwählt ist? Nirgends. Unsere Namen stehen nicht darin. Und das wäre doch erforderlich, wenn ich vorher wissen müsste, ob ich ein Auserwählter sei oder nicht. In der Bibel aber steht, dass jeder, der an Jesus glaubt, das ewige Leben hat und dass alle auserwählt sind, die das Evangelium angenommen haben. Der Sünder braucht also nicht zu wissen, ob er auserwählt ist, um zu Jesus zu kommen; im Gegenteil, er darf nicht als ein Auserwählter, sondern muss als ein verlorener Sünder, als ein Gottloser, als ein Feind Gottes zu Jesus kommen. Erst dann, wenn er an Jesus glaubt, wird ihm gesagt, dass er auserwählt ist.

Woher wusste Paulus, dass die Thessalonicher auserwählt seien? Hören wir seine Worte: „… wissend, von Gott geliebte Brüder, eure Auserwählung. Denn unser Evangelium war nicht bei euch im Wort allein, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in großer Gewissheit, wie ihr wisst, was wir unter euch waren um euretwillen. Und ihr seid unsere Nachahmer geworden und die des Herrn, indem ihr das Wort aufgenommen habt in vieler Drangsal mit Freude des Heiligen Geistes“ (1Thes 1,4-6). Ihre Annahme des Evangeliums mit Freude des Heiligen Geistes war also für ihn Beweis ihrer Auserwählung. Und dieser Beweis kann auf keine andere Weise geführt werden.

Wie unglücklich sind solche, die, anstatt auf Jesus zu sehen und zu Ihm ihre Zuflucht zu nehmen, ihr Auge auf die Auserwählung richten! Verharren sie dabei, dann wird die für die Gläubigen so trostreiche Wahrheit durch deren Missbrauch für sie Anlass zu ihrem ewigen Verderben werden. Oh, dass alle Prediger des Evangeliums diese bedauernswürdige Torheit erkennen möchten, damit sie die Seelen nicht aufhalten und durch Lehrsätze verwirren, die nicht in diesen Bereich gehören. Ihre Aufgabe ist es, auf den einzigen Namen hinzuweisen, der unter dem Himmel gegeben ist und durch den wir errettet werden können (Apg 4,12).

Was ist nun Auserwählung?

Prüfen wir jetzt, was der Heilige Geist über die Auserwählung lehrt. Wir können uns zu diesem Zweck auf zwei oder drei Stellen in den Briefen des Paulus beschränken; denn an wie vielen Stellen des Neuen Testaments auch von Auserwählung und von Auserwählten gesprochen wird, die Lehre von der Auserwählung finden wir nur in diesen wenigen Stellen, und zwar am ausführlichsten im ersten Kapitel des Epheserbriefes, sodann in Römer 8,29.30 und schließlich in Römer 9. Hier wird jedoch nur der Grundsatz der Auserwählung hervorgehoben, um, wie wir sehen werden, den Juden zu beweisen, dass sie, da ihre eigene Existenz als Volk auf die Auserwählung Gottes gegründet sei, notwendigerweise auch die Auserwählung der Heiden annehmen müssten.

Epheser 1,4: Auserwählt vor Grundlegung der Welt

Eph 1,4: Er hat uns auserwählt in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe.

Wie bereits bemerkt, geschah unsere Auserwählung vor Grundlegung der Welt; sie ist der erste Gedanke im Herzen Gottes, der Plan seiner ewigen Liebe, ehe die Welt war. Diesem ersten wichtigen Gedanken folgt der zweite: wozu Er uns auserwählt hat, nämlich „dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe“. Gott wollte uns vor sich, vor seinem Angesicht haben; Er wollte uns in seine Gegenwart bringen. Dazu aber mussten wir Ihm gleichen. Ein ehrlicher Mensch kann sich in Gesellschaft eines unehrlichen Menschen nicht behaglich fühlen; noch viel weniger kann Gott das in seiner Gegenwart dulden, was im Gegensatz zu seiner Heiligkeit steht. Wollte Er uns daher in seine Gegenwart bringen, so mussten wir Ihm gleich sein. Christus ist es; Er ist persönlich das Bild des unsichtbaren Gottes. In Ihm sind die Liebe, die Heiligkeit, die Vollkommenheit in all seinen Wegen vereinigt. Darum sind wir in Ihm auserwählt. Gott ist heilig in seinem Charakter, tadellos in seinen Wegen, Liebe in seiner Natur, und wir sind in Christus auserwählt, damit wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe. Welch ein Glück! Wir sind in der Gegenwart Gottes, Ihm gleichend, und zwar in Christus, der der Gegenstand und der Maßstab der göttlichen Liebe ist, so dass Gott all seine Freude in uns finden kann, und da wir der göttlichen Natur teilhaftig sind, sind wir auch fähig, von dieser Natur völlig zu genießen.

Aber der Heilige Geist geht noch einen Schritt weiter (Eph 1,5). Erfordert die heilige Gegenwart Gottes, dass wir unbedingt heilig, tadellos und in Liebe sind, so hätten wir als Engel vor Gott sein können. Wir würden damit sicher zufrieden gewesen sein; aber seine Liebe wäre dadurch nicht befriedigt worden. Gott wollte nicht nur Engel vor seinem Angesicht haben; Er wollte Söhne besitzen. Er wollte in der engen und innigen Beziehung eines Vaters zu uns stehen und mit uns, als seinen Söhnen, Gemeinschaft haben. Darum fügt der Apostel hinzu: „nach dem Wohlgefallen seines Willens“. Das Heilig-und-tadellos-Sein in Liebe war – mit Ehrerbietung gesprochen – notwendig; das Zweite entsprang dem Bedürfnis des liebenden Herzens Gottes, seiner herrlichen Freude: „Er hat uns zuvorbestimmt zur Sohnschaft durch Jesus Christus für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens.“

Wir erfahren also, dass Gott uns vor Grundlegung der Welt auserwählt hat, damit wir – in sittlicher Beziehung Ihm gleich – vor seinem Angesicht stehen, und dass Er uns zuvorbestimmt hat, seine Kinder zu sein. Wir sind auserwählt in Christus und Kinder durch Jesus Christus. Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes; wir tragen dieses Bild, da wir in Ihm auserwählt sind. Christus ist der Sohn und wir treten in demselben Verhältnis vor den Vater. Welch eine unaussprechliche Gnade! Mögen unsere Herzen mehr befähigt werden, dieser Gnade zu vertrauen und sie zu genießen!

Römer 8,29.30: Nach Vorsatz berufen

Röm 8,29.30: Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Welche er aber zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und welche er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht.

Als zweite Stelle belehrt uns Römer 8,29.30 über die Auserwählung. Der Apostel geht hier davon aus, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind“ (Röm 8,28). Wir sind berufen nach dem Vorsatz, den Gott in sich selbst vor Grundlegung der Welt gefasst hat. „Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.“

Gott hat uns also zuvorerkannt – das will in Verbindung mit dem, was in Epheser 1 gelehrt wird, besagen: Gott hat uns vor Grundlegung der Welt als die Seinen erkannt, und Er hat die, die Er als die Seinen erkannt hat, auch zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein. Das will wohl nicht besagen, dass wir bestimmt wären, Christus durch unseren Wandel auf der Erde gleichförmig zu sein. Dazu sind wir sicher berufen; wir müssen seinen Fußstapfen nachfolgen und Ihm praktisch durch den Heiligen Geist mehr und mehr gleich werden. Darum aber geht es hier nicht. Die Vorbestimmung, dem Bild des Sohnes Gottes gleichförmig zu sein, bezieht sich auf die Gleichförmigkeit mit Christus in der Herrlichkeit. „Wir wissen“, sagt Johannes, „dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1Joh 3,3). Christus, das Weizenkorn, ist in die Erde gefallen und gestorben und hat in der Auferstehung Frucht hervorgebracht. Diese Frucht sind die Gläubigen. Sie sind mit Ihm verbunden; sie sind eins mit Ihm; sie sollen die Herrlichkeit mit Ihm teilen. Er sagt selbst: „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben“, und: „Ich will, dass die, die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin“ (Joh 17,22.24).

Jetzt sind wir noch auf der Erde und wandeln noch in einem sterblichen, verweslichen Leib umher; aber wenn Jesus kommt, so werden die Entschlafenen in Ihm auferweckt und die übriggebliebenen Lebenden verwandelt werden. Dann empfangen sie alle einen Leib, der seinem verherrlichten Leib gleichförmig ist (1Thes 4; Phil 2). Dann werden sie als Söhne Gottes geoffenbart sein, weil sie Söhne der Auferstehung sind und dann ist der Vorsatz Gottes in Erfüllung getreten; denn dann sind sie alle dem Bild seines Sohnes gleichförmig. Dann wird man eine Familie von Brüdern sehen; denn Jesus schämt sich nicht, uns Brüder zu nennen. Zu Maria Magdalena sagte Er nach seiner Auferstehung: „Gehe hin und sage meinen Brüdern!“ (Joh 20,17). Dabei dürfen wir jedoch eins nicht vergessen: Wie herrlich und innig die Gemeinschaft und die gesegnete Familie Gottes auch sein mögen, unser hochgelobter Herr wird dennoch den ersten Platz einnehmen. Wir sind durch die Gnade seine Brüder; aber Er ist das Haupt und der Erstgeborene vieler Brüder.

In Römer 8,30 finden wir eine Verbindung der Wege Gottes in der Zeit mit seinem vor Grundlegung der Welt gefassten Vorsatz. „Welche er aber zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen, und welche er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht.“ Alles wird hier unter einem göttlichen Gesichtspunkt und gemäß der Absicht Gottes betrachtet, nicht als ob die Berufung, die Rechtfertigung und die Verherrlichung bereits vollbrachte Tatsachen wären, sondern weil der Heilige Geist uns vorstellt, was nach Gottes Willen von Anfang bis zu Ende unsere herrliche Stellung ist. Es war der vor Grundlegung der Welt gefasste Ratschluss Gottes, uns dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu machen, und diesen Vorsatz erfüllt Er durch die Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der Auserwählten, so dass hier also das herrliche Resultat mit Gottes ewigem Vorsatze und Ratschluss verbunden ist.

Gott hat Personen auserwählt, nicht das, was sie sein oder tun würden!

In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass Gott Personen auserwählt hat. Dies kommt in Epheser 1 wie auch in Römer 8 deutlich zum Ausdruck. Es steht also mit der Wahrheit ganz und gar im Widerspruch, wenn behauptet wird, Gott hätte im Voraus nur gesehen, was einzelne Personen sein, tun und glauben würden. Der Apostel sagt durchaus nicht: „was Gott zuvorerkannt hat“, sondern: „welche er zuvorerkannt hat“. Gott hat die Menschen zuvorerkannt und nicht nur ihren Zustand oder ihr Verhalten. Und in Epheser 1 heißt es: „Wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos seien vor ihm in Liebe“, nicht aber: „… dass wir heilig und tadellos vor Ihm in Liebe waren.“

Römer 9: Es geht nicht um die ewige Auserwählung!

Auch die einschlägigen Stellen in Römer 9 sind oft höchst verkehrt ausgelegt worden. Aus diesem Grund müssen wir uns damit etwas ausführlicher beschäftigen. Was ist der Zweck der Belehrung des Apostels in diesem Kapitel? Er hat in den vorhergehenden Kapiteln bewiesen, dass die Juden wie die Nationen vor Gott Sünder und dem Gericht Gottes verfallen sind und dass sie also beide, wollten sie errettet werden, aus Gnaden und keineswegs aus Gesetzeswerken gerechtfertigt werden müssen. Das hob den Vorrang des gläubigen Juden gegenüber dem gläubigen Heiden auf. Als Sünder standen sie gleich, aber auch, wenn sie durch die Gnade erlöst und mit Christus vereinigt waren. Der Einwand der Juden hingegen zielte dahin, dass ihnen die Verheißungen Gottes anvertraut waren und dass sie deshalb weit über den Gläubigen aus den Nationen stehen würden, und es gereichte ihnen sehr zum Anstoß, in den Nationen Mitgenossen desselben Evangeliums und derselben Vorrechte in Christus erblicken zu müssen.

Der Apostel antwortet darauf, dass Israel ohne Zweifel im Besitz der Verheißungen ist, dass diese jedoch nicht dem Samen Abrahams nach dem Fleisch, „sondern den Kindern der Verheißung“ nach der Auswahl Gottes gegeben worden sind. Nicht alle aus Israel seien Israeliten, sonst hätten auch die anderen Söhne Abrahams Erben der Verheißung sein müssen. Doch Gott hatte gesagt: „In Isaak wird dir ein Same genannt werden.“ Bei Rebekka zeigte sich dies noch offenkundiger. Selbst als ihre Kinder noch nicht geboren waren, sagte Gott: „Der Größere wird dem Kleineren dienen.“ Damit will der Apostel sagen: Eure Existenz als Volk, eure Vorrechte, die euch gegebenen Verheißungen sind auf die Auserwählung Gottes gegründet. Hätte Gott nicht Isaak zum Sohn der Verheißung auserkoren, dann wäre Ismael euer Stammvater geworden, und hätte Gott nicht Jakob über Esau erhoben, dann würdet ihr jetzt keine Kinder der Verheißung sein.

Ist Gott ungerecht, weil Er die Nationen zu den Segnungen des Evangeliums beruft, dann war es auch ungerecht, dass Er Ismael und Esau als die Häupter seines Volkes verworfen und dass Er zu Mose gesagt hatte: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme.“ Diese aus 2. Mose angeführten Worte, die Gott zu einer Zeit sprach, als Israel das Gesetz, bevor es noch ins Lager gekommen, durch seinen Tanz um das goldene Kalb bereits übertreten hatte, zeigen deutlich, wie unberechtigt die Einwände der Juden gegen die Auserwählung der Nationen waren. Hätte Gott sich damals nicht in unumschränkter Gnade seines Volkes erbarmt, so würde Er es in seinem Grimm in einem einzigen Augenblick vernichtet haben. Wenn sich nun das ganze Dasein Israels, wie es die Geschichte klar beweist, auf den souveränen Willen Gottes stützt, so dass es nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern allein an dem begnadigenden Gott liegt, dann aber müssen sie auch aus demselben Grund die Auserwählung der Nationen annehmen, und dies umso mehr, da Israel als Volk, wie der Apostel in dem letzten Teil dieses Kapitels beweist, Christus und in Ihm die Segnungen des Evangeliums verworfen hat.

Man sieht hieraus, dass in diesem Kapitel zwar von dem Grundsatz der Auserwählung die Rede ist, dass es sich hier aber keineswegs um unsere Auserwählung handelt wie in Epheser 1 und Römer 8. Freilich enthalten die Worte in den Versen Römer 9,15 und 16 die allgemeingültige wichtige Wahrheit, dass alles in Gott und keineswegs in uns seinen Grund hat; sie sind dabei auch auf uns und unsere Auserwählung anwendbar; gleichwohl enthält dieses Kapitel nicht die Lehre von der Auserwählung zur ewigen Herrlichkeit. Das wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir dem, was der Apostel hier darstellt, noch einige Bemerkungen hinzufügen.

Um den Juden die Gerechtigkeit der Einführung der Nationen zu den Segnungen des Evangeliums zu beweisen, beruft sich Paulus auf den Grund ihres eigenen Bestehens als Volk. Dieser Grund war die Auserwählung Gottes. Gott hatte den Isaak über den Ismael und den Jakob über den Esau erhoben. War das eine Auserwählung zur Seligkeit gewesen? Keineswegs; davon war durchaus keine Rede. Isaak und Jakob wurden hier nicht auserwählt, um selig zu werden, sondern um die Häupter, die Stammväter des irdischen Volkes Gottes zu sein. „Der Größere wird dem Kleineren dienen.“

Es ist daher irreführend, wenn man diese Stelle zum Beweis für unsere Auserwählung anführt, diese steht damit in keiner Verbindung. Die ganze Beweisführung des Apostels würde sonst ihre Kraft verlieren. Wir wissen aus dem Brief an die Hebräer, dass Esau verworfen wird; das steht hier nicht zur Erörterung. Zudem war die Auserwählung Isaaks und Jakobs keine Auserwählung vor Grundlegung der Welt, wie es die Auserwählung zur Heiligkeit ist, sondern eine Auserwählung in der Zeit. Überall wo von einer Auserwählung zur Heiligkeit die Rede ist, wird von dem Vorsatz Gottes vor Grundlegung der Welt oder vor den Zeiten der Zeitalter gesprochen, während hier, wo es sich um die Auserwählung zu einem Haupt des irdischen Volkes Gottes handelt, von der Auserwählung zu einem Zeitpunkt die Rede ist, wo die Kinder noch im Mutterleib waren. Hieraus folgt selbstredend, dass die Worte „Den Jakob habe ich geliebt; aber den Esau habe ich gehasst“ oft ganz falsch gedeutet werden. Zudem ist es beachtlich, dass diese Worte nicht in 1. Mose, sondern im Propheten Maleachi zu finden sind. Im ersten Buch Mose wird nur gesagt: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen“ (1Mo 25,23). Erst nachdem die Nachkommen Esaus ihre Bosheit und Feindschaft gegen Israel in auffälliger Weise an den Tag gelegt hatten, wurde gesagt: „Den Jakob habe ich geliebt; aber den Esau habe ich gehasst.“

Ebenso war es mit Pharao. Dieser Mann war ein Gottloser, ein Unterdrücker des Volkes Gottes und sagte zu Mose und Aaron: „Wer ist der HERR, auf dessen Stimme ich hören soll, Israel ziehen zu lassen?“ Dieser gottlose Mann, der sich gegen Gott auf jede nur mögliche Weise auflehnte, wurde von Gott dem Gericht der Verhärtung unterworfen, so dass er schließlich in seinen Sünden umkam. Das geschieht auch heute noch und so wird es in den letzten Tagen sein. Nachdem die Menschen die Wahrheit verworfen haben, wird Gott einen Geist des Irrtums senden. Das aber ist Gericht. Man beachte es wohl: Gott verleitet niemand zur Sünde. Dies zu behaupten, würde nichts als Gotteslästerung sein. Aber wenn der Mensch die Sünde tut und liebt und darin verharrt, so straft Gott ihn mit dem Gericht der Verhärtung.

Die Lehre von der Verwerfung ist nicht haltbar

Man hat aus diesen Worten in Römer 9 auch die Lehre von der Verwerfung geschöpft. Doch nichts ist weiter von den Gedanken Gottes entfernt als diese Lehre. Es ist der menschliche Verstand, der folgert: „Wenn Gott den einen erwählt, verwirft Er auch den anderen.“ Doch das sind menschliche Schlüsse und durchaus nicht die Gedanken Gottes. Wer den einen vor dem andern auszeichnet – und das ist hier bei Jakob und Esau der Fall –, bezeugt ihm zwar eine Gunst; das aber schließt doch keineswegs eine Verurteilung des anderen in sich. Die Auserwählung wird in der Schrift klar gelehrt; über die Verwerfung finden wir in ihr kein Wort. Im Gegenteil, Gott hat den Menschen rein, unschuldig und ohne Sünde geschaffen. Der Mensch ist es, der sich von Gott durch die Sünde losgerissen hat und der deshalb dem ewigen Verderben unterworfen ist.

Überdies hat Gott für den sündigen, feindseligen Menschen seinen vielgeliebten Sohn gegeben und lässt die frohe Botschaft der Vergebung und des Friedens durch Ihn in der Welt verkündigen, und wieder ist es der Mensch, der den Heiland verwirft und von sich stößt und der darum in seinen Sünden stirbt. Anstatt dass Gott einen einzigen Menschen, wie etliche in gotteslästerlicher Weise lehren, für die Verdammnis bestimmt hat, hat Er vielmehr alles Mögliche getan, um den Menschen zu erretten und zu erlösen. Die Menschen aber sind samt und sonders in einem so schrecklich feindseligen Zustand, so dass, wenn es keine Auserwählung gäbe, alle ohne Unterschied verlorengehen würden.

Man hüte sich daher vor dem Versuch, Gott durch die Verwerfungslehre zur Ursache der ewigen Qual der Verlorenen zu machen und damit die Verantwortlichkeit des Menschen und die Gerechtigkeit seines Gerichtes zu verneinen. Halten wir an der Schrift fest! Sie allein stellt uns die Wahrheit in ihrer wirklichen Bedeutung vor Augen, während alle menschlichen Auffassungen trügen und nicht selten, vielleicht ohne es zu wollen, den Boden der Wahrheit unterhöhlen.

Gott ist souverän!

Aber man könnte nun fragen, wie denn die Worte des Apostels Paulus in Römer 9,21 zu verstehen sind: „Hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen?“ Meine Antwort ist: „Die Macht Gottes ist unumschränkt.“ Wenn der Mensch sich gegen Gott auflehnt und Ihm das Recht streitig machen will, zu tun und zu lassen, was Er will, dann sagt der Apostel: „O Mensch, wer bist du, der du das Wort wider Gott nimmst? Wird das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich so gemacht?“ Gott hat das Recht, souverän nach seinem Willen zu handeln, und niemand ist befugt, Ihn zu beschuldigen. Dieses Recht Gottes aber wird hier nachdrücklich unterstrichen. Es wird aber nirgendwo gesagt, dass Gott von diesem Recht Gebrauch gemacht hat. Er hat das Recht, zu tun, was der Töpfer tut; aber es ist die Frage, ob Er sich dieses Rechtes bedient hat.

Die beiden folgenden Verse beweisen, dass Gott, wiewohl Er das Recht hat, seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kundzutun, im Gegenteil die Gefäße des Zorns mit vieler Langmut ertragen hat. Die unterschiedliche Ausdrucksweise in den Versen Römer 9,22 und 23 ist beachtenswert und für den in Rede stehenden Gesichtspunkt entscheidend. Von den Gefäßen der Begnadigung wird gesagt, dass Gott sie zur Herrlichkeit zuvorbereitet habe, während dies von den Gefäßen des Zorns nicht gesagt wird. Von diesen lesen wir, dass Er „die Gefäße des Zornes, zubereitet zum Verderben, mit vieler Langmut ertragen“, aber nicht, dass Er sie zum Verderben zuvorbereitet hätte. Während die Gefäße der Begnadigung von Gott selbst zur Herrlichkeit zuvorbereitet sind, haben die Gefäße des Zornes sich selbst durch ihr Verharren im Bösen sowie durch ihren Unglauben zubereitet, obwohl Gott sie mit vieler Langmut ertragen hat. Von einer Verwerfung oder Vorherbestimmung zur ewigen Verdammnis ist also durchaus keine Rede. Gott wird sicher einmal seinen Zorn an den Kindern des Ungehorsams erweisen und sie in den Feuersee werfen; aber nicht Er ist schuld an ihrem Elend. Er wird allen den Beweis liefern, mit wie viel Geduld und Langmut Er sie in all ihren Sünden und Ungerechtigkeiten ertragen hat, so dass niemand auch nur ein einziges Wort zur Beschuldigung hervorzubringen vermögen wird.

Gebe der Herr uns erleuchtete Augen des Verständnisses, dass wir die Wahrheit richtig erfassen und durch sie von allen menschlichen Gedanken und Auffassungen freigemacht werden!


Originaltitel: „Die Auserwählung“
aus Botschafter des Heils in Christo, 1876, S. 40–56.
Von SoundWords sprachlich leicht bearbeitet; Zwischenüberschriften ebenfalls von SoundWords

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