Über Lieder und Gebetsversammlungen
Zwei kurze Aufsätze aus dem Jahr 1919

Botschafter

© SoundWords, online seit: 05.10.2012, aktualisiert: 17.02.2022

„Über Lieder und Gebetsversammlungen“ – unter dieser Überschrift sind vor Jahren [im Jahr 1919] zwei kurze Aufsätze erschienen in einer Schweizer christlichen Zeitschrift, die vielen Lesern des Botschafters bekannt ist. Es mag gut und zeitgemäß sein, an einige besonders bemerkenswerte Stellen noch einmal zu erinnern.

Die menschliche Natur neigt, wie wir alle wissen, zur Oberflächlichkeit und Trägheit. Deshalb stehen wir ja stets in Gefahr, die Vorzüge und Vorrechte unserer Stellung als Gläubige nicht mehr mit den Augen des Glaubens und den Gefühlen der Dankbarkeit zu genießen, sondern sie rein gewohnheitsmäßig zu betrachten und so auch unseren Platz bei den Zusammenkünften einzunehmen. Dadurch entstehen dann traurige Missstände. Anstatt dass wir uns in enger Gemeinschaft mit dem Herrn der Leitung des Heiligen Geistes hingeben, weil wir uns unseres Nichts und unserer völligen Unfähigkeit bewusst sind, beteiligen wir uns am Dienst, schlagen Lieder vor, ja reden und beten, als wenn es sich um irgendeine andere menschliche Tätigkeit handle. Wir machen es ähnlich wie einer der Prophetensöhne zur Zeit Elisas, der den großen Topf aufsetzte und dann auf dem Feld wilde Koloquinten las und sie in den Topf schnitt; aber als das Gericht dann den Männern vorgesetzt wurde, schrien sie: „Der Tod ist im Topf!“, und konnten es nicht essen (2Kön 4,38-41).

In seinem zweiten Brief wendet sich der Apostel Petrus an die, „die einen gleich kostbaren Glauben mit ihm empfangen haben durch die Gerechtigkeit unseres Gottes und Heilands Jesus Christus“. Er verfolgt damit den Zweck, „durch Erinnerung ihre lautere Gesinnung aufzuwecken“ (2Pet 3,1). Möchten auch die folgenden Ausführungen eine solche Wirkung in unseren Herzen hervorbringen!

Lieder

Es wird von manchen für etwas sehr Einfaches, Leichtes gehalten, in der Versammlung ein Lied vorzuschlagen; daher kommt es häufig vor, dass solche, die nicht genug geistliche Kraft haben, um zu beten, oder die Gabe, ein Wort der Ermahnung zu sagen, doch gern mit dem Liederbuch bei der Hand sind, als ob jedermann nur so ein Lied vorschlagen könnte. Sollten wir es im Gegenteil nicht als etwas recht Ernstes betrachten, ein Lied vorzuschlagen? Nach meiner Überzeugung erfordert es große Unterwürfigkeit unter die Leitung des Heiligen Geistes, um fähig zu sein, den richtigen Augenblick für ein Lied und das richtige Lied für den Augenblick erkennen zu können. Wir haben es mehr als einmal erfahren, dass der ganze Gang einer Versammlung durch das Vorschlagen eines Liedes rau unterbrochen wurde, und nicht selten hatten wir das Gefühl, als könne das Liederbuch in den Versammlungen zu einem peinlichen Hindernis werden.

Bei dieser Gelegenheit sei auch erwähnt, dass an einzelnen Orten in den Gebetsversammlungen wohl zu viele Lieder gesungen werden, wodurch die Tiefe und der Ernst, die bei solchen Gelegenheiten herrschen sollten, nicht recht aufkommen können. Hie und da geht man in regelmäßigem Wechsel von Gebet und Lied, Gebet und Lied voran, bis man fast erschöpft ist von der leiblichen Übung, die sicherlich „zu wenigem nütze“ ist. Zuweilen geht man auch mit vollem Herzen zur Gebetsversammlung, im Bewusstsein tiefer, dringender Bedürfnisse und mit dem Verlangen, wirklich auf den Herrn zu warten. Der Zustand der Gemeinde Gottes, das Werk des Herrn, die Bedürfnisse der eigenen Seele liegen einem auf dem Herzen, und man sehnt sich danach, in der Mitte der Geschwister in Demütigung, Bekenntnis und Gebet sich vor dem Herrn zu beugen. Aber siehe da, das Gesangbuch wird genommen, durchgeblättert und schließlich ein Lied vorgeschlagen, das der Gelegenheit völlig fremd ist. Solche Dinge sind in der Tat recht beklagenswert.[1]

Das, worauf der Schreiber in brüderlicher Liebe die Aufmerksamkeit lenken will, verdient es, allen Ernstes von uns geprüft zu werden. Nicht nur bei unseren Zusammenkünften zum Gebet, auch bei anderen Gelegenheiten, ja sogar bei der Anbetung am Tisch des Herrn treten solche bedauerlichen und den Herrn verunehrenden Dinge in Erscheinung. Doch hören wir weiter:

Gebetsversammlungen

Es kommt vor, dass Gläubige sich am ersten Tag der Woche im Namen des Herrn versammeln, um Seiner zu gedenken und seinen Tod zu verkündigen, ohne sich zu anderen Zeiten zum Gebet zusammenzufinden. Es ist zwar kaum begreiflich, aber es ist so. Von den ersten Christen lesen wir: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“ (Apg 2,42). Ebenso ist dem vereinigten Gebet der zwei oder drei, die im Namen Jesu versammelt sind, eine besondere Verheißung gegeben (Mt 18,19.20). In den Tagen, in denen wir leben, sollten wir, die Schwachen, fleißig von dieser Verheißung Gebrauch machen. Und wären es auch nur zwei Beter – wenn sie mit wirklichem Ernst zusammenkommen, so dürfen sie von ihrem vereinigten, anhaltenden, gläubigen Gebet gesegnete Ergebnisse erwarten. Es ist auch ein kostbares Vorrecht, durch die Gnade Gottes zur Fürbitte und zum Flehen für andere angeleitet zu werden. Andererseits bedürfen wir bei allen Zusammenkünften zum Gebet einer heiligen Wachsamkeit und geistlichen Gesinnung; denn allzu leicht versinkt man in eine tote Form, in eine kraftlose Gewohnheitsfolge, wodurch die Gebetsversammlungen solchen, die unseren Herrn Jesus wirklich lieb haben, anstatt anziehend geradezu widerwärtig werden können. Ein einfältiges, kindliches Ausschütten des Herzens vor unserem Gott und Vater, ein durch den Geist geleitetes, ernstes und gläubiges Flehen um bestimmte Dinge sollte jede Versammlung zum Gebet kennzeichnen, mögen der Beter wenige oder viele sein. Wo es so ist, wird es gewiss nicht an Ermunterung und Segen fehlen, während es andererseits kaum etwas gibt, was so erschlaffend auf die Seele wirkt wie kalte, ziellose Gebete, denen man es anfühlt, dass das Herz nicht dabei ist.

Irrtümlicherweise scheint man zuweilen die Fähigkeit, vor anderen beten zu können, als eine Gabe zu betrachten, und man hört manchmal Aussprüche wie: „Bruder N.N. hat eine außerordentliche Gebetsgabe.“ Wir wissen, was damit gemeint ist, doch ist der Gebrauch des Wortes „Gabe“ in diesem Sinn nicht berechtigt. Unter den verschiedenen Gaben, die wir in den Briefen erwähnt finden, ist das Gebet nicht genannt. Einige haben ihr beständiges Stillschweigen schon damit zu entschuldigen gesucht, dass sie diese Gebetsgabe nicht hätten. Das ist selbstverständlich nicht richtig.

Wann aber werden Inbrunst und Wirklichkeit in der Gebetsversammlung fehlen? Wenn es mit der Frömmigkeit des Einzelnen und der Familien nicht gut bestellt ist. Wenn ein Bruder wenig im Kämmerlein betet und selten mit seiner Familie, ist es kein Wunder, wenn sein Mund in einer öffentlichen Gebetsversammlung geschlossen bleibt. Wenn er aber im Stillen ein Mann des Gebets ist und den Herrn in seiner Familie ehrt, indem er sie regelmäßig um das Wort Gottes und zum Gebet versammelt, so wird es ihm nicht schwer werden, in einer Gebetsversammlung sein Herz in Gemeinschaft mit anderen vor dem Herrn auszuschütten. Es ist dann eine ganz einfache Sache für ihn. Würde der stille Umgang mit Gott mehr gepflegt, so würde es wohl eine Ausnahme sein, dass ein Bruder in den Gebetsversammlungen beständig schwiege.

Möchte es Gott in seiner Gnade gelingen, unsere Seelen zu beleben und durch seinen Geist und seine Wahrheit mehr persönliche und häusliche Frömmigkeit in uns zu bewirken! Sicher würden dann die Gebetsversammlungen ernster und wahrer und darum auch reicher an Erfahrungen von erhörtem Gebet werden. Vergessen wir nicht das Wort unsers Herrn:

„Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, um was ihr wollt, und es wird euch geschehen“ (Joh 15,7).


Originaltitel: „Über Lieder und Gebetsversammlungen“
aus Botschafter des Heils in Christo, Jg. 69, 1921, S. 215–219

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: Der Text stammt von C.H. Mackintosh und erschien im Deutschen erstmals in Worte der Ermahnung und Ermunterung, St. Gallen, Jg. 3, 1884, unter der Überschrift „Über Lieder und Gebetsversammlungen“, Auszug, S. 46–47.


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