Der Prophet Jona (4)
Kapitel 4

Henry Allen Ironside

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Die Umkehr von Ninive

Vers 1

Jona 4,1: Und es verdross Jona sehr, und er wurde zornig.

Der Heilige Geist erklärt: „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht“ (Röm 8,7). Es ist eine höchst demütigende Wahrheit, aber sowohl die eigene Erfahrung als auch die Heilige Schrift bestätigen sie überall. Die „Gesinnung des Fleisches“ ist nicht nur in einem unbekehrten Menschen so hoffnungslos böse; dieses elende Prinzip ist in dem größten Heiligen genauso unberechenbar und abscheulich wie in dem schlimmsten Sünder.

In der Tat, wenn wir das Wirken des Fleisches in jemandem sehen, der ein Beispiel von Frömmigkeit ist, dann erkennen wir die unverbesserliche Bosheit des Fleisches wie nie zuvor. Kein Kind Gottes wagt es, dem Fleisch zu vertrauen. Wenn man dem Fleisch erlaubt, die Kontrolle zu übernehmen, wird es den Gläubigen jedes Mal zu unheiligen Gedanken und Wegen verführen. Ich sage absichtlich „erlaubt“, denn kein Christ ist der Macht des Fleisches zwanghaft unterworfen. Richtig betrachtet ist es ein Fremdkörper, der nicht für einen einzigen Augenblick seinen Platz behaupten sollte. Der Gläubige ist aufgerufen, sich der Herrschaft des Fleisches zu widersetzen. Er sollte dem Fleisch seine Glieder nicht als Werkzeuge überlassen, als ob es eine zwingende Autorität über ihn hätte. Der Gläubige ist berufen, dem Fleisch keine Gelegenheit zu geben, seine Begierden zu befriedigen. Er soll sich dem Fleisch gegenüber als tot betrachten und sich Gott hingeben wie ein Lebender aus den Toten. Ist dem nicht so, ist die Niederlage gewiss – der Triumph des Fleisches ist sicher. Wenn wir aber im Geist wandeln, werden wir die Begierden des Fleisches nicht erfüllen (vgl. Gal 5,16).

Bei Jona aber sehen wir einen Heiligen unter der Macht des Fleisches – obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass er schließlich in der Lage war, seinen Fehler einzusehen. Indem ihm von Gott aufgetragen wurde, den Bericht darüber in dieser Form zu verfassen, kann er jetzt Tausenden eine mahnende Lektion sein. Niemand bezweifelt, dass es das Fleisch war, das ihn dazu brachte, aus der Gegenwart des HERRN zu fliehen. Es war dieselbe Macht, die ihn beherrschte, als er sich nach der Verkündigung seiner Botschaft außerhalb der Stadt niederließ, um zu sehen, was der HERR tun würde. Anstatt dass sein Herz von Freude über die Umkehr der Niniviten erfüllt war, war er von Angst um seinen eigenen Ruf erfüllt.

Wahrscheinlich sind sich nur wenige von uns bewusst, welch starken Einfluss das eigene Ich in unserer Zuneigung hat, bis etwas auftaucht, was unsere persönliche Würde angreift. Dann zeigt sich, welcher Geist in uns steckt. Wir haben mehr von der Veranlagung Jonas in uns, als wir uns selbst eingestehen wollen. Doch das eigene Versagen ist einer der ersten Schritte zur Befreiung davon.

Obwohl sich der ganze Himmel über die Umkehr eines einzigen Sünders freut und nicht nur über eine große Menge, wird uns gesagt, dass „es Jona sehr verdross, und er zornig wurde“. Sein Zustand ist höchst erbärmlich, doch Jona ist sich dessen überhaupt nicht bewusst. Aufgeblasen mit einem Gefühl der eigenen Wichtigkeit ist das Wohl oder die Not so vieler seiner Mitmenschen wie nichts im Vergleich zu seinem eigenen Ruf. Und doch ist er sich der Erbärmlichkeit seines Seelenzustandes so wenig bewusst, dass er sich an Gott wenden und sein schändliches Versagen so ausdrücken kann, als ob er überhaupt nicht versagt hätte. Oder sogar so, als ob das Versagen, wenn es denn eines war, auf der Seite des HERRN selbst lag.

Verse 2.3

Jona 4,2.3: 2 Und er betete zu dem HERRN und sprach: Ach, HERR, war das nicht mein Wort, als ich noch in meinem Land war? Darum bin ich erst nach Tarsis geflohen; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt. 3 Und nun, HERR, nimm doch meine Seele von mir; denn es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe.

Es scheint fast unglaublich, dass ein Diener Gottes in einem so schrecklichen Seelenzustand sein konnte. Doch leider war es nichts anderes als eine verschlimmerte Form jener heimtückischen Krankheit, des Stolzes, der im Herzen eines jeden Heiligen aufkommen kann, der nicht in der Gemeinschaft mit Gott lebt, und der sich so leicht ausbreiten kann.

Vers 4

Jona 4,4: Und der HERR sprach: Ist es recht, dass du zürnst?

Diese liebevolle Frage des HERRN hätte Jona vielleicht zerbrechen können, wenn er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre. Das ist kein Vorwurf, nur die ernste und feierliche Frage, die ihn sofort auf seinen wahren Seelenzustand hätte aufmerksam machen können.

Wie oft stellt Er uns eine ähnliche Frage, wenn wir unheilige Gedanken hegen, unheilige Nahrung zu uns nehmen oder in unseren eigenen Wegen wandeln und Gottes Wege vernachlässigen! „Ist es recht“, dir selbst zu gefallen und Ihn zu entehren? Sicherlich nicht! Aber es ist erstaunlich, wie langsam man zur Einsicht über sein eigenes verkehrtes Handeln kommt, wenn man durch den Betrug der Sünde verhärtet ist [Heb 3,13].

Vers 5

Jona 4,5: Und Jona ging aus der Stadt hinaus und setzte sich östlich der Stadt nieder. Und er machte sich dort eine Hütte; und er saß darunter im Schatten, bis er sähe, was mit der Stadt geschehen würde.

Jona antwortet nicht mit Worten, sondern geht in seinem Eigensinn und seiner verletzten Eitelkeit aus der Stadt hinaus. Nachdem er eine Hütte gebaut hat, setzt er sich in deren Schatten, um zu sehen, was aus Ninive und seinem Ruf als Prophet werden würde.

Vers 6

Jona 4,6: Und Gott der HERR bestellte einen Wunderbaum und ließ ihn über Jona emporwachsen, damit Schatten über seinem Haupt wäre, um ihn von seinem Missmut zu befreien; und Jona freute sich über den Wunderbaum mit großer Freude.

In seiner Gnade bereitete Gott einen Wunderbaum vor, der sehr schnell wuchs. Bald spendete er dem zornigen Propheten Schatten und schützte ihn so vor den heftigen Strahlen der sengenden Sonne. Weil der Baum ihm Schatten spendete, war Jona überglücklich. Es ist der erste Ton von Freude seinerseits, der berichtet wird, und in Wirklichkeit auch der letzte. Seine Freude war so wahrhaftig aus Selbstsucht, wie es auch sein Kummer war.

Verse 7.8

Jona 4,7.8: 7 Aber am nächsten Tag beim Aufgang der Morgenröte bestellte Gott einen Wurm, und dieser stach den Wunderbaum, so dass er verdorrte. 8 Und es geschah, als die Sonne aufging, da bestellte Gott einen schwülen Ostwind; und die Sonne stach Jona aufs Haupt, dass er ermattet niedersank. Und er bat, dass er sterben dürfe, und sprach: Es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe.

Aber Gott bereitet nun etwas vor, was diese Freude zerstören sollte: Er bestellte einen Wurm, damit er den Wunderbaum zerstöre; und dann bestellt der, der seinen Weg „im Sturmwind und Gewitter“ hat (Nah 1,3), einen heftigen Ostwind. Die unerträgliche Hitze überkam Jona so sehr, dass er ohnmächtig wurde; und in seiner Verzweiflung und seinem Elend wünschte er noch einmal, dass er seinen Prüfungen entgehen könnte und einfach sterben würde, indem er sagte: „Es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe.“

Vers 9

Jona 4,9: Und Gott sprach zu Jona: Ist es recht, dass du wegen des Wunderbaumes zürnst? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis zum Tod!

Wieder spricht Gott. Diesmal, um in liebevollem Ton zu fragen: „Ist es recht, dass du wegen des Wunderbaumes zürnst?“ Schwermütig antwortet der beleidigte Prophet: „Mit Recht zürne ich bis zum Tod!“ Es ist die Gefühllosigkeit, die entsteht, wenn man die Sünde ungerichtet lässt, bis alle Fähigkeit, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, verschwunden scheint.

Die Antwort des HERRN ist eine Offenbarung seiner Gnade, die offensichtlich ihren Zweck erfüllt; denn Jona hat kein Wort der Selbstrechtfertigung mehr vorzubringen. Er überlässt Gott das letzte Wort und beschließt seinen Bericht abrupt, als wäre das, was folgte, von zu heiliger und privater Natur, als dass er es veröffentlichen könnte. Der Herr sagte:

Verse 10.11

Jona 4,10.11: 10 Du erbarmst dich über den Wunderbaum, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand und als Sohn einer Nacht zugrunde ging; 11 und ich sollte mich über Ninive, die große Stadt, nicht erbarmen, in der mehr als 120.000 Menschen sind, die nicht zu unterscheiden wissen zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und eine Menge Vieh?

Die Frage ist nicht zu beantworten. Jona trauerte um den Verlust des Wunderbaumes, weil er ihm zum Trost gedient hatte. Der HERR trauerte um die Sünder von Ninive, weil die Liebe seines Herzens es so wollte. Wie gegensätzlich waren doch Meister und Knecht! Aber wir müssen die Geschichte dort lassen, wo Gott sie lässt. Den Rest werden wir am Richterstuhl Christi erfahren. In der Zwischenzeit möge uns die Gnade gegeben werden, täglich das, was uns so weit von Ihm wegführen würde, in uns zu erkennen und zu richten, damit wir nicht so tief fallen wie Jona!

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Originaltitel: „Notes on the Prophecy of Jonah“
aus Notes on the Minor Prophets, 1909

Übersetzung: Stephan Isenberg


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