„Empfangt Heiligen Geist“
Johannes 20,17-23

William Kelly

© EPV, online seit: 03.11.2006, aktualisiert: 06.07.2023

Leitverse: Johannes 20,17-23

Joh 20,17-23: Jesus spricht zu ihr: Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalene kommt und verkündet den Jüngern, dass sie den Herrn gesehen und er dies zu ihr gesagt habe. Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen da, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch! Und als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sprach nun wiederum zu ihnen: Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch. Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Welchen irgend ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten.

Es gibt vielleicht keine Schriftstelle, die nicht schon aus ihrem Zusammenhang gerissen worden ist; aber kaum einer Stelle ist dadurch mehr Unrecht widerfahren als der, die ich eben verlesen habe. Es ist unmöglich, den vollen Sinn der ganz besonderen Mitteilungen des Herrn und seiner Handlungsweise mit Maria zu verstehen und seine Worte und sein Tun an jenem Abend richtig zu begreifen, wenn man nicht beachtet, dass das alles in engstem Zusammenhang steht mit seiner Auferstehung aus den Toten, und zwar als der Sohn Gottes. Römer 1,4 sagt, dass Er durch Totenauferstehung als Sohn Gottes erwiesen wurde. Gerade dieser Gesichtspunkt wird hier in Johannes 20 von dem Heiligen Geist ganz besonders hervorgehoben. Es geht nicht darum, dass Er andere auferweckt, sondern dass Er selber aufersteht. Die völlige Ungezwungenheit in den äußeren Begleiterscheinungen der Auferstehung, die wohlgeordnet daliegenden Kleider, „das Schweißtuch, welches auf seinem Haupte war, nicht bei den leinenen Tüchern, sondern besonders zusammengewickelt an einem Orte“ – das alles waren für jedes unbefangene Auge klare Anzeichen dafür, dass alles, so herrlich es auch war, so ruhig und friedlich vor sich gegangen sein musste, als ob sich jemand nach einer guten Nachtruhe vom Bett erhoben hätte. Und in der Tat, es war der Sohn Gottes, der das Werk der Gnade, das der Vater Ihm aufgetragen, vollbracht hatte. Er war nicht nur durch die Kraft Gottes auferweckt worden. Das ist an seinem Platze wahr und wird an anderen Schriftstellen betont. Gott weckte Ihn aus den Toten auf; Paulus wie auch Petrus bestehen entschieden darauf. Ebenso wahr ist es aber, dass Er selbst aus den Toten auferstand. „Brechet diesen Tempel ab“, so sagt Er selbst an einer früheren Stelle in diesem Evangelium, „und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.“ – „Ich habe Gewalt“, sagt Er in Kapitel 10, „mein Leben zu lassen und habe Gewalt es wiederzunehmen.“ Er fügt dort ausdrücklich hinzu: „Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen.“ Da war also bei Ihm nicht nur ein vollkommener Gehorsam, ein Aufgehen in dem Willen des Vaters, sondern auch jene göttliche Kraft, durch die Er in der Auferstehung aus den Toten als Sohn Gottes erwiesen wurde. Es war die gleiche Kraft, nur in ihrer Äußerung noch gesegneter, in der Er selbst Tote auferweckt hatte: des Jairus Töchterlein, den Sohn der Witwe zu Nain, Lazarus und andere. So sagte Er im Blick auf Lazarus: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.“

So steht Er also Selber aus den Toten auf. Aber selbst Petrus und Johannes beweisen, wie wenig die Wahrheit von seiner Auferstehung gemäß der Schrift zunächst in ihr Bewusstsein gedrungen war. Johannes berichtet, und zwar zu seiner eigenen und zu Petrus’ Schande, dass sie sahen und glaubten. Beide – das wissen wir – waren echte Kinder Gottes; doch hatten sie nur wenig Verständnis für die Gedanken Gottes. Das „musste“ der Schriften (Lk 24,44-46) verstanden sie noch nicht; auch hatten sie noch nicht die Gnade und Herrlichkeit Gottes in der Person seines Sohnes gesehen, wie sie allein in seiner Auferstehung in vollem Umfang zum Ausdruck kommen. Sie sahen die Tatsachen, sie akzeptierten die Beweise, und doch kehrten sie um und gingen nach Hause. Das ist immer das armselige Resultat, wenn diese Tatsachen und Beweise nur vom menschlichen Geiste erwogen werden, mögen die Schlussfolgerungen noch so richtig sein.

Bei Maria war das anders. Sie mag ebenso wenig mit der Herrlichkeit der Auferstehung oder mit dem, was Gottes Wort darüber sagte, vertraut gewesen sein wie Petrus und Johannes. Sie fand aber in dem Herrn Jesus eine Antwort auf das Verlangen ihres Herzens, und deshalb war sie nun so voll Trauer, dass sie nicht anders konnte, als dort an dem Platz zu verweilen, wo man seinen Leib hingelegt hatte. Sie war nicht so leicht zufriedenzustellen wie die beiden Apostel. Tatsächlich fühlte sie sich nicht heimisch in dieser Welt und deshalb konnte sie sich nicht von der leeren Gruft des Heilandes trennen. Wir sehen auch, wie völlig alle ihre Gedanken, ihre ganze Liebe dem Herrn Jesus galten. Als sie noch einmal in das Grab blickte, das sie vorhin noch leer gesehen hatte, (denn so hatte sie es doch, den Tatsachen entsprechend, den anderen mitgeteilt) und dort nun zwei weißgekleidete Engel sieht, den einen am Kopfende, den anderen am Fußende des Platzes, wo der Leib Jesu gelegen hatte, da fühlt sie keine solche Unruhe und Furcht, wie das von den Frauen an einer anderen Stelle gesagt wird. Welch einen Schreck und welche Überraschung hätte solch ein Anblick unter normalen Umständen bei ihr hervorgerufen! Aber unser Evangelium berichtet von keiner derartigen Aufregung bei ihr. Ihr Herz war so voller Verlangen nach dem Herrn Jesus, der von ihr genommen war, dass – so möchte man fast sagen – selbst die Anwesenheit aller Engel sie verhältnismäßig wenig berührt hätte. Die beiden Engel fragen sie: „Frau, was weinst du?“ Ihre Antwort kommt aus tiefstem Herzen: „Weil sie meinen Herrn weggenommen haben und ich nicht weiß, wo sie ihn hingelegt haben. Als sie dies gesagt hatte, wandte sie sich zurück und sieht Jesum stehen.“ Weil sie aber den Meister nicht sogleich erkennt und denkt, es sei der Gärtner, antwortet sie auf seine Frage: „Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich werde ihn wegholen.“ Nur ein Wort ist nötig, um den Bann zu brechen und ihr die Wahrheit zu sagen. Mit diesem einen Wort offenbart sich der Herr ihr selbst. Es war seine Stimme, die Stimme des guten Hirten, der seine eigenen Schafe mit Namen ruft: „Maria!“ sagt der Herr Jesus. Sofort wendet sie sich zu Ihm um und redet Ihn an mit „Rabbuni“, was verdolmetscht heißt „Lehrer“. Dann kommen die Worte, bei denen ich zunächst etwas verweilen möchte.

„Rühre mich nicht an“ gibt den Sinn dieses Ausdrucks durchaus nicht richtig wieder. Da ich hier solche vor mir habe, die mit der Schrift vertraut sind und, wie ich annehme, viele unter ihnen fähig sind, zu beurteilen, was ich sage, fühle ich mich umso freier, offen und klar auszusprechen, was ich für wahr halte. Tatsache ist, dass das Wort, das hier in der Schrift steht, viel mehr als „anrühren“ in sich schließt. Dieses Zeitwort hätte mit „betasten, anfassen“ übersetzt werden sollen. Das gilt auch für Kolosser 2, worauf ich kurz aufmerksam machen möchte. Dort bezieht sich der Apostel auf den Gegensatz zwischen den Forderungen der Tradition des Gesetzes und denen eines gestorbenen und auferstandenen Christus, mit der Absicht, alles, was von Christus ablenkt, aus dem Wege zu räumen. Solch eine Sprache wie „Berühre nicht, koste nicht!“ liegt ein für alle Mal hinter uns. Sie mag gut sein für Menschen, die noch ganz in dieser Welt leben, nicht für solche, die mit Christo gestorben sind. Wie aber jeder, der dies geprüft hat, weiß, wird die Sache, auf die es hier ankommt, in der gewohnten englischen Bibel (auch in der Elberfelder Übersetzung; Anm. d. Übers.) gerade umgedreht. Es sollte mit „betaste nicht!“ anfangen, dann „koste nicht!“ und zuletzt sollte man nicht einmal „berühren“. Es ist also eine absteigende Stufenfolge, indem das am nächsten Liegende, nämlich „anfassen“, zuerst kommt, dann „kosten“, was viel weniger ist, und schließlich nicht einmal eine Berührung. Auf solche Art sucht sich der natürliche Mensch vor Verunreinigungen zu schützen, so bewahrt er Fleisch auf; ein anderes Mittel hat er nicht. Für die Natur gibt es nur dieses eine Hilfsmittel, nämlich die vielen guten Vorsätze und das Kämpfen gegen das Böse, um nicht von dem Bösen in dieser Welt überwältigt zu werden. Wahres Christentum ist aber etwas völlig anderes. Es ist die Offenbarung eines Befreiers, Gott und Mensch in einer Person, der in die Welt kommt, zur Sühnung des Bösen stirbt, alles überwindet, siegreich in die Gegenwart Gottes aufersteht, und endlich all die Seinen dorthin einführt. Dies verbindet den Christen mit Christus auf der Grundlage seines Versöhnungswerkes und seines Triumphes zur Rechten Gottes. Christentum ist die praktische Verwirklichung dieses Heilsplanes durch den Heiligen Geist, zunächst in den Seelen der Glaubenden, und schließlich in Zukunft auch an ihren Leibern. Das ist ja die große Lehre des Kolosser- und Epheserbriefes. Was haben also diejenigen, die mit Christus gesegnet und der Welt gestorben sind, noch weiter mit solchen Satzungen wie „betaste nicht, koste nicht, berühre nicht“ zu tun?

Ich bin sicher, dass das der rechte Sinn des Wortes „berühren“ in Johannes 20,17 ist und dass jeder, der in der Lage ist, das zu beurteilen, darin mit mir übereinstimmt. Es handelt sich durchaus nicht um eine Auslegung, die von Andersgesinnten „sonderbar“ genannt werden könnte. Ich kann nicht einsehen, warum jemand überhaupt so spricht, denn keine gute und richtige Auslegung des Wortes ist sonderbar. Ob eine Ansicht von vielen oder wenigen vertreten wird, besagt noch nichts über ihre Richtigkeit. Doch, wie dem auch sei, was ich jetzt sage, wird von Personen mit weit auseinandergehenden Meinungen zugegeben, vorausgesetzt, dass sie die Frage, von der ich rede, sorgfältig prüfen. Wer das tut, wird finden, dass der genaue Sinn der Worte des Herrn an Maria hier nicht „berühre mich nicht“ ist, sondern „fasse mich nicht an“. Er sagt ihr, sie möge sich nicht von ihrem natürlichen Impuls, Ihn zu umfassen, fortreißen lassen. Dies wird dadurch bestätigt, dass im griechischen Urtext ein Wort gebraucht wird, das die Bedeutung von anhaltendem Anfassen hat. Im Kolosserbrief ist es anders; da handelt es sich um eine einmalige Handlung, die sehr flüchtig sein kann. Hier bedeutet es aber sinngemäß: „Halte mich nicht ständig fest, klammere dich nicht dauernd an mich!“ Das ist der Sinn dieses Wortes und seiner grammatikalischen Form.

Mir scheint, dies gibt der Schriftstelle viel mehr Kraft und Bestimmtheit; denn Maria Magdalene repräsentiert hier jemanden, der noch an dem Herrn Jesus als der Hoffnung seines Volkes und der Erfüllung der Sehnsucht seines Herzens festhält, jemanden, der um die leibliche Abwesenheit des Herrn trauert, jemanden, der sich selbst bei dem Gedanken an den toten Leib des Herrn noch irgendwie freut, wenn auch mit Trauer vermischt. Wir können also leicht verstehen, dass sie den Heiland, sobald sie Ihn erkennt, instinktiv umfassen möchte. Er aber verbietet es ihr unverzüglich. Dies fällt umso mehr auf, als im Matthäusevangelium die Frauen seine Füße umfassen, und Er ihnen das nicht nur gestattet, sondern es sogar als Huldigung von ihnen annimmt. Ja, noch mehr, in demselben Kapitel des Johannesevangeliums finden wir sogar, wie der Herr den ungläubigen Thomas auffordert, seine Hand in seine Seite zu legen.

Wertvolle Unterweisungen drängen sich uns auf, wenn wir diese verschiedenartigen Handlungsweisen des Herrn, die fast zur gleichen Zeit stattfinden, näher betrachten. Die gleiche Handlung verweigert Er einmal, dann nimmt Er sie an, und schließlich fordert Er sogar dazu auf. Sicher hatte Er weise Absichten dabei. Wir dürfen nicht denken, dass der Herr Maria Magdalene weniger liebte als die anderen Frauen, die Ihm aus Galiläa gefolgt waren. Worin liegt denn nun der Unterschied? Wie sollen wir uns die Tatsache erklären, dass der Heilige Geist uns in Matthäus zeigt, wie Er die körperliche Huldigung annimmt, und in Johannes, wie Er sie ablehnt? Der Grund dafür ist sehr einfach und sehr lehrreich. Im ersten Evangelium haben wir die Verwerfung des Messias seitens des Volkes, der Juden, und den Endzweck, zu dem Gott in seiner Gnade diese Verwerfung benutzt, indem Er in der Zwischenzeit den Nationen das Evangelium sendet und aus ihrer Mitte Jünger beruft, weil die auserwählte Nation ihren König verworfen hat. Wie wunderbar ist es doch, dass Gottes Gnade sich gewissermaßen weigert, untätig zu bleiben! Sie muss sich in der Kraft der Liebe erweisen, und wenn die Juden sie auch verschmähen, konnte Er nicht anders, als neue Wege für einen umso größeren Segen einzuschlagen. Wenn sein altes Volk seine eigene Gnade verließ, dann gab es andere, arm und elend, die in der Vergangenheit verhältnismäßig wenig von seiner Liebe gekostet hatten. Wenn sein Volk dem Aufgang aus der Höhe gegenüber, der sie heimgesucht hatte, so ungläubig, undankbar und blind war, und dieser Undank darin gipfelte, dass sie ihren eigenen Messias verwarfen und ermordeten, dann sendet Gott, nachdem Er diese Verwerfung des Messias zur Ausführung des Erlösungswerkes benutzt hatte, nun die Frohe Botschaft an alle Nationen unter dem Himmel. Und doch zeigt uns Matthäus bei aller Darstellung der unergründlichen Gnade Gottes gegen die Nationen, wie jene Frauen aus Galiläa die Füße des auferstandenen Herrn umfassen und Ihm huldigen. Zeigt uns das nicht, dass Er doch noch Sorge dafür trägt, dass die Hoffnungen Israels auf einer unwandelbaren Grundlage aufrechterhalten bleiben, obwohl der Messias verworfen war und Gott diese Verwerfung seinen eigenen Gnadenabsichten dienen lassen wollte? Zugegeben – dass sie ihren Messias verwarfen, war ihr Verderben –, aber war das alles? Sicher war ihr Gericht gerecht – was aber würde die Gnade tun? Eine Zeit wird kommen, in der das Erbarmen Gottes ihre unbußfertigen Herzen zu Ihm umwenden wird, den sie viel zu lange verachtet haben. Dadurch wird Er ihre Hoffnungen so unzertrennlich mit dem Thron des verherrlichten Menschen verknüpfen, dass sie, wenn der Augenblick für das gerechte Gericht Gottes über die Welt kommt, aus Gnaden wieder angenommen werden. Dann werden sie sehen, dass die Kette des göttlichen Erbarmens so fest an den Tod und die Auferstehung des Herrn geschmiedet ist, dass sie eine unerschütterliche Grundlage für die Erfüllung ihrer Hoffnungen bilden. Dann, an jenem künftigen Tage, wird Gott sie in seiner Gnade gemäß dem vollen Umfang seiner Ratschlüsse segnen.

Dies ist meines Erachtens in Matthäus als auch an anderen Stellen deutlich zu sehen. Das letzte Kapitel des Matthäusevangeliums liefert uns in der Anbetung der Frauen ein Bild, das in die Zukunft weist; es ist dort mehr als nur eine Andeutung, wie in Kapitel 24. Die Frauen aus Galiläa sind ein Vorbild jenes Überrestes der Juden, der in den letzten Tagen in Gnaden zu dem Herrn Jesus geführt werden wird, in Ihm den erwarteten Herrn suchen und finden und auf Ihn schauen und Ihm anhangen wird. Der Herr wird ihre Huldigung nicht von sich weisen. Die Form der Huldigung dass uns erkennen, dass Er tatsächlich leiblich bei ihnen anwesend sein wird, wenn Er wiederkommt und mit seinem erwählten Volk zusammentrifft. Ein Jude als solcher wird kaum dazu aufgefordert, wie ein Christ „durch Glauben, nicht durch Schauen“ zu wandeln. Denn er wird den Herrn wirklich anschauen, wie es in Sacharja 12 heißt: „Und sie werden den anschauen, den sie durchstochen haben.“ Aber sie werden Ihn anschauen. Sie werden Ihm nicht nur glauben, sie werden Ihn auch anschauen. Die Tatsache, dass die Frauen aus Galiläa den Herrn aufnehmen und umfassen und dass Er ihre Huldigung annimmt, zeigt uns, wie Er in seiner großen Treue und Barmherzigkeit dem Überrest des alten Volkes Israel gegenüber handelt, wenn Er kommen wird, um hier auf der Erde über sie zu herrschen. Aus dem gleichen Grunde, glaube ich, haben wir hier in Matthäus keinen Bericht von der Himmelfahrt, was für Kritiker unerklärlich, für jeden Gläubigen aber ganz verständlich ist. Die Erwähnung seiner Himmelfahrt hätte das alles aus seinem Zusammenhang gerissen, wogegen seine leibliche Anwesenheit bei Ihnen und das Fehlen jedes Wortes über seine Himmelfahrt in diesem Kapitel Ihn vor unseren Blicken stehen dass als die ewige Freude aller, deren Drangsal Er in seinem Erbarmen gesehen und verscheucht hat. In Johannes 20 haben wir das genaue Gegenteil. Da sehen wir eine Frau, die völlig in ihren jüdischen Gefühlen befangen ist, und die noch an den Erwartungen festhält, die einem Juden nun, da der Herr aus dem Grabe wieder auferstanden war, natürlicherweise teuer sein mussten. Dies umso mehr, als das Kreuz und das Grab des Herrn Jesus ihnen allen diese Hoffnungen für eine Zeit zerstört hatte. Deshalb brachte sie es nicht fertig, von dem Herrn zu lassen, und in dieser Gefühlsaufwallung will sie Ihn umfassen. Er aber bittet sie, dies nicht zu tun: „denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater“. Von jetzt an will Er auf eine andere Weise gekannt werden. Er steht im Begriff, die einzige Szene, in welcher der Überrest Israels noch mit dem Messias in Verbindung stand, zu verlassen. Nicht als ob diese Hoffnung vollständig dahin wäre – nein, zu ihrer bestimmten Zeit und an ihrem bestimmten Platz wird sie wieder aufblühen. Für jetzt sondert Er einen Überrest aus Israel aus. Tatsächlich begann damit das Christentum. „Der Herr“, so heißt es, „tat täglich zu der Versammlung hinzu, die gerettet werden sollten.“

Hiervon war Maria Magdalene eine Art Beispiel. Bis jetzt hatte sie an der Hoffnung festgehalten, der Herr würde kommen und hier auf Erden inmitten Israels Herrlichkeit und Segen bringen. Doch der Herr macht ihr nun klar, dass das nicht die Art und Weise ist, in der Er nun Segen austeilt. Nirgends in diesem Evangelium wird von solch einem Segen gesprochen. Von Christen wollte Er als aufgefahren zum Vater gekannt werden, und deshalb war es nicht an der Zeit, Ihn hienieden festzuhalten. Angenommen, dies wäre doch möglich gewesen, so wäre es doch bei weitem nicht so kostbar gewesen wie das, was jetzt sein Herz bewegte, und was Er durch diese Frau aus Magdala, die über das alles nur staunen konnte, seinen Jüngern sagen ließ. Seine Gegenwart zur Rechten Gottes bedeutete keine Kluft zwischen Ihm und den Seinen, sondern im Gegenteil die denkbar innigste und engste Verbindung zwischen Ihm und ihnen. Es mag scheinen, als sei dies eine seltsame Art, Einheit zu bewerkstelligen. Jedenfalls entspricht sie durchaus nicht den Gedanken des Fleisches. Tatsache ist, dass das Fleisch nicht das Mittel zu unserer Vereinigung mit dem Heiland ist und dass diese Vereinigung auch durch nichts gekennzeichnet wird, was dem Fleisch entspringt. Hinsichtlich Israels war dies dem Fleische nach richtig, denn unter ihnen wurde Er geboren; seiner natürlichen Abstammung nach war Er ein Jude. Als Christen kennen wir Ihn aber nicht auf diese Weise, vielmehr ausdrücklich im Gegensatz dazu, wie Paulus sagt: „Wenn wir auch Christum dem Fleische nach gekannt haben, so kennen wir Ihn doch jetzt nicht mehr also“ (2Kor 5). Nein, wir kennen Ihn in einer viel besseren Weise. Ihn hier auf der Erde als den Messias zu kennen, war gewiss ein großer Segen und in dem Fall der Frauen aus Galiläa gibt der Herr ein Unterpfand dafür, dass dies in der Zukunft erfüllt werden wird. Doch all das heißt nicht, dass wir darin ein Muster davon haben, wie wir als Christen den Herrn Jesus kennen.

Das Wesen unserer Vorrechte ist, dass Christus, nachdem Er das Erlösungswerk vollbracht hat, seinen Platz als der himmlische Mensch zur Rechten Gottes einnimmt. Infolgedessen besteht das Besondere des Christentums nicht nur darin, dass Segen von Gott auf die Erde herabkommt, obwohl dies im vollsten Sinne zutrifft, weil dadurch der Weg für himmlische Segnungen geebnet worden ist. Der Schauplatz und der Charakter unseres Segens ist aber himmlisch, er liegt in der Person jenes Hochgelobten, der herniederkam und nun droben weilt und wir dürfen wissen, dass wir mit Ihm dort droben gesegnet sind. Wenn es sich um die Offenbarung Gottes handelt, so ist nichts so segensreich für uns, wie den Herrn Jesus auf seinem Wege hienieden zu betrachten. Was aber unsere Stellung und Verbindung mit Ihm droben kennzeichnet, ist allein in Ihm droben zu finden, in Ihm, der durch sich selbst die Reinigung der Sünden bewirkt und die Ehre Gottes in allem, was Gottes Natur in dieser Welt verletzt hatte, wiederhergestellt hat. Christus ist jetzt in den Himmel eingegangen, und dort wird Er unseren Seelen offenbart, und dort sind wir mit Ihm vereinigt. So wie Er zu diesem Zweck in den Himmel eingehen musste, so musste der Heilige Geist herabkommen. Die Anwesenheit des Heiligen Geistes hier auf der Erde ist also die notwendige Antwort Gottes auf die Abwesenheit des Herrn Jesus, auf sein Sitzen zur Rechten Gottes, nachdem Er das Erlösungswerk vollbracht hatte. Diese beiden Wahrheiten sind die großen, unumstößlichen Pfeiler des Christentums.

Das also ist der Sinn der Worte des Herrn an Maria Magdalene, wenn Er sie bittet, sich nicht an Ihn zu klammern. Er war noch nicht aufgefahren zu seinem Vater. In dieser Weise, als der aufgefahrene und zur Rechten des Vaters Verherrlichte wollte Er jetzt von ihnen gekannt sein. In dieser neuen Stellung sollten die Gläubigen von nun an mit Ihm in Verbindung stehen – herausgenommen aus ihren althergebrachten Erwartungen und Gedanken, und in eine lebendige Verbindung gebracht mit der Liebe und der Herrlichkeit, in die Er Selber jetzt eintrat, mit dem Vaterhaus droben.

Ich möchte hier auf eine Stelle im Alten Testament hinweisen, die nicht immer recht verstanden wird, die aber das gegenwärtige Wirken Gottes beleuchtet. In Micha 5 finden wir die bekannte Stelle bezüglich der Geburt des Herrn: „Und du, Bethlehem-Ephrata, zu klein, um unter den Tausenden von Juda zu sein, aus dir wird mir hervorkommen, der Herrscher über Israel sein wird; und seine Ausgänge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her.“ Hier finden wir seine Geburt als Mensch, aber auch seine ewige Herrlichkeit: Obwohl Er als Jude und von einer Frau geboren wurde, war Er doch „von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her“.

Wer dieser Eine war, ist unschwer festzustellen. Er ist Derselbe, der im ersten Vers des Kapitels beschrieben wird. Er ist der Herrscher Israels, von dem gesagt wird, dass sie „mit dem Stabe den Richter Israels auf den Backen“ schlagen werden. Es handelt sich da ganz klar um die Erniedrigung des Messias. In Bethlehem, das zu Juda gehört, wird Er geboren, und doch ist Er von Ewigkeit her. Er ist ebenso Gott, wie Er Mensch ist. Wir haben also in diesem Vers eine Zusammenfassung von wichtigen und gesegneten Wahrheiten über den Herrn Jesus Christus, die kein Mensch – und wäre er noch so klug – je voraussehen konnte, die Gott aber in seiner absoluten Allwissenheit in aller Einfachheit und Vollständigkeit voraussagt. Darin liegt das ganze Gewicht der Schuld Israels, dass sie Ihn trotz dessen, was Er in seiner eigenen Person, aber auch als ihr Richter ist, doch „mit dem Stabe auf den Backen“ schlagen. „Darum wird er sie dahingehen“, heißt es im zweiten Vers, und das hat sich genau so ereignet. Der geschlagene Richter Israels hat Israel für eine Zeit beiseitegesetzt, „bis zur Zeit, da eine Gebärende geboren hat“. In Offenbarung 12 sehen wir, wie ein Weib, das zu großer Ehre berufen ist, gebiert. Der Vorsatz Gottes für die Endzeit ist groß. Das ist das erste, was uns gezeigt wird. Dann kommt der Fall des Drachens, und der Kampf um den Besitz der Erde und um das irdische Volk geht weiter, bis der Richter Israels zurückkehrt. Das alte irdische Volk nimmt dann seinen Platz hier auf der Erde wieder ein, doch von nun an unter ihrem Messias. Wir hören hier also von einer Rückkehr der Wege Gottes in der Endzeit zur Vollendung seiner Gnadenabsichten mit den Juden. Bis zu welchem Punkt sind wir nun in unseren Tagen hierin gelangt? Christus ist erschienen und ist von seinem irdischen Volk verworfen worden, und Er hat sie beiseitegesetzt. Seit dem Kreuz hat Gott sie nicht nur als Nation aufgegeben; Er ruft einen Überrest aus ihnen heraus, um ihn mit den Gläubigen aus den Nationen als Leib Christi zu vereinigen. Das sind die, von denen wir in Apostelgeschichte 2 lesen: „Der Herr tat täglich zu der Versammlung hinzu, die gerettet werden sollten.“ Wenn aber dann der Augenblick für die Ausführung der zukünftigen und ewigen Ratschlüsse Gottes betreffs Israels kommen wird, so heißt es: „und der Rest seiner Brüder wird zurückkehren zu den Kindern Israel“, (statt, wie jetzt, aus ihnen herausgenommen zu werden, um einen Teil der Versammlung zu bilden). Heute verlieren sie ganz ihren israelitischen Charakter, um den einen neuen Menschen (Eph 2,15) zu bilden; dann aber werden sie zu den alten Plänen und Wegen Gottes mit seinem irdischen Volke zurückkehren. Ich freue mich immer wieder darüber, wie wunderbar alte und neue Wahrheiten in der Bibel miteinander in Harmonie sind. Gerade darin liegt die Frucht und der Beweis davon, dass wir die Wahrheit recht verstanden haben, dass wir durch dieses Verständnis befähigt werden, dort neue Ordnung und Schönheit zu erblicken, wo wir dies ohne solche Erkenntnis nicht können, wo wir sonst nur eine unübersichtliche Menge von unzusammenhängenden Dingen sehen. In dem Augenblick aber, wo Gott über irgendeinen Teil der Wahrheit zu uns sagt: „Es werde Licht!“, finden wir, wie alles anders wird. Wenn es auch wahr ist, dass dieses Licht zunimmt, so wird uns Gott doch immer fühlen lassen, wie solch neues Licht das alte nur bereichert. Nichts wirkt so sehr als Schlüssel zur Wahrheit wie ein Grundsatz, der zunächst nur Verwirrung und einen Bruch in Gottes Verheißungen zu bedeuten schien. Tatsache ist aber, dass kein Ratschluss Gottes jemals dahinfällt. Es mag sein, dass eine Wartezeit nötig ist. Das Herz sehnt sich lange nach der Erfüllung. Es scheint, als hätte der Unglaube recht. Am Ende aber hat immer nur der Glaube recht, und jedes Wort, das Gott gesprochen hat, geht in Erfüllung, jeder Ratschluss wird unfehlbar ausgeführt, und all das durch den Tod Christi.

Hier enthüllt also der Herr etwas grundsätzlich Neues, indem Er bei den Juden anfängt, die es am meisten angeht. Im Johannes-Evangelium kann man beobachten, wie alles sich um seine Person dreht. Es handelt sich hier nicht um Haushaltungen, vielmehr immer um Ihn selbst, und zwar hier um Ihn in seiner Himmelfahrt. Wenn wir auf seinem Erlösungswerk ruhen und von dort aus weitere Schritte als Christen machen wollen, dann gibt es wirklich kaum etwas, was wichtiger ist. Schaue nichts anderes an, denn alle Personen in dieser Szene sind verhältnismäßig unbedeutend. Nimm aber Christus aus dem Christentum heraus, was bleibt dann übrig? Und überdies, glaubst du, der Heilige Geist würde je sein Siegel darauf drücken, wenn der Herr Jesus verunehrt wird, wenn seine Person beiseitegesetzt, wenn sein Werk und seine Herrlichkeit verunglimpfen werden?

Wir haben also gesehen, wie der Herr Jesus der Maria zuerst mitteilte, dass er im Begriff stand, zum Vater aufzufahren, und dass eine körperliche Huldigung deshalb mit der Art und Weise, in der Er sich offenbaren wollte und wie Er hier in diesem ganzen Evangelium gezeigt wird, unvereinbar war. Wenn man den Bericht des Johannes als Ganzes überblickt, wird man finden, dass sein Zeugnis aus zwei großen Teilen besteht. Das erste Teil ist die Offenbarung der Person und des Werkes des Sohnes Gottes. Das nächste ist die Offenbarung einer anderen, ebenso göttlichen Person, die ihren Platz bei den Jüngern hienieden einnimmt, nachdem Christus den Schauplatz verlassen hat. Darin besteht das Christentum; denn Christus ist der Gegenstand des Glaubens, und der Heilige Geist ist die Kraft, welche die Herrlichkeit Christi im Herzen eines Christen und in der Kirche Christi zur Wirklichkeit macht.

In der Botschaft, die Maria von dem Herrn empfängt und den Jüngern überbringt, haben wir nun das, was für uns Christen ganz besonders kennzeichnend ist: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern!“ Hier finden wir die erste deutliche Erwähnung des Verhältnisses, in das alle Christen von nun an zu Ihm kommen. „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ Der Herr Jesus bringt uns also nicht nur in ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst (was an sich von unermesslicher Bedeutung ist), Er bezeichnet auch klar unser Verhältnis zu Gott. Dieses Verhältnis ist ganz anders als die altgewohnten Segnungen. Es ist nicht die Offenbarung seiner Macht zum Schutz seiner schwachen Pilger hier auf der Erde. Wir hören hier nichts von dem allmächtigen Gott. Es wird nichts erwähnt von seinen Regierungswegen mit Israel, als Er, der Jehova-Gott, unter seinem Volke wohnte. Hier bezieht sich alles auf Christus, der im Begriff steht, in die Herrlichkeit einzugehen. In diesem Sinne sagt Er: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott!“ Wie wunderbar! Was der Vater für den Sohn ist, das ist Er auch für die Söhne, was ER, der Vater, als Gott für jenen hochgelobten Menschen war, der die Sünde abschuf, dasselbe ist Er auch – und nicht weniger – für die, deren Sünden gesühnt worden sind. Gott war nicht nur als der Gott und Vater unseres Herrn Jesus voll offenbart worden, nein, dasselbe ist Er auch für uns heute aufgrund seines Erlösungswerkes und seiner Auferstehung.

Ich spreche jetzt nicht von einer verschwommenen Kenntnis Gottes, wie Er in seinen Wegen mit den Menschen väterlich handelt. Wir wissen wohl, dass Israel, wenn es in großer Bedrängnis sein wird, mit den Worten des Propheten Jesaja flehen wird: „Denn du bist unser Vater; denn Abraham weiß nicht von uns und Israel kennt uns nicht; du, HERR, bist unser Vater, unser Erlöser, von alters her ist dein Name.“ Diese Worte beschreiben aber durchaus nicht das Verhältnis, in dem sie zu Gott stehen; diese Worte sollen ihnen Trost spenden, ähnlich, wie man vielleicht zu einem kleinen verwahrlosten Waisenkind auf der Straße sagt: „Mein Kind, du hast es nicht gut gehabt; von jetzt an will ich dein Vater sein!“ Das würde natürlich keine formelle Adoption dieses Kindes als Sohn oder Erbe bedeuten und würde auch nicht so verstanden werden. Israel konnte eine solche Stellung nur als Nation erhoffen, wie wir aus 2. Mose 4 ersehen. Hier in Johannes 20 handelt es sich um viel mehr. Einer war auf die Erde herabgekommen, welcher der Sohn war, der den Vater kannte, wie sonst niemand Ihn kannte. Einer war gekommen, der auf Erden und als Mensch ebenso vollkommen der Gegenstand der Wonne des Vaters war, wie Er es vorher als Gott in der Gegenwart Gottes gewesen war; denn niemals hatte Er ein einziges Wort gesprochen, niemals eine einzige Herzensregung gehabt, niemals einen einzigen Gedanken oder einen einzigen Beweggrund gehabt, der nicht in vollkommener Weise die Güte und Liebe Gottes selbst ausstrahlte. Allein der Herr Jesus entsprach wirklich im Geist, in seiner Natur und in seinen Wegen allem, was in Gott zu finden ist. Wenn Er vom Himmel herniederblickte, so fand Er auf der Erde den einen Gegenstand, an dem Er sich für immer erfreuen konnte. Selbst im ganzen Himmel gab es kein Geschöpf, das seine Augen und sein Herz auch nur für einen Augenblick von diesem Anblick seines Sohnes auf der Erde ablenken konnte. Er blickte herab auf eine Welt von Sünde und Bosheit, deren Pestgeruch gleichsam ständig zum Himmel emporstieg. Dann und wann mussten schwere Schläge der Gerichtes den schuldigen Menschen treffen. Jetzt aber, zum ersten Male seit Anbeginn der Welt, sah Er nicht nur – wenn wir uns so ausdrücken können – einen entfernten Glanz seiner Herrlichkeit, wie zum Beispiel in Henoch oder Noah und weiter bis zur Geburt dieses Hochgelobten, nein, da war nun Er selbst, sein Sohn, so dass sich die Himmel öffnen und Gott, der Vater, den Heiligen Geist senden konnte, um Ihn – beachten wir es wohl – als Mensch auszuzeichnen. Wie konnte es auch anders sein? Es handelte sich nicht darum, den Heiligen Geist auf Ihn als Gott hinabzusenden. Als Mensch wurde Er mit Heiligem Geist gesalbt. „Ihn hat Gott, der Vater, versiegelt“ – „den Sohn des Menschen“. Und gerade das ist es, was so kostbar und gesegnet ist, nämlich dass Gott selbst auf die Erde herniederblicken musste, auf einen Menschen, um in Ihm zum ersten Mal etwas zu finden, was all seine Gefühle, sein ganzes Herz, den ganzen sittlichen Charakter Gottes, alle seine Zuneigungen befriedigte.

Jetzt war aber ein ungeheurer Wechsel eingetreten. Die Himmel hüllen sich in Dunkel, und in dieser tiefen Finsternis handelte Gott selbst mit Ihm. Es war die gleiche Stunde, in der es dem Menschen gestattet wurde, sich unter der Anführung Satans wider den verworfenen Messias zu erheben und Ihn zu überwältigen. Und inmitten dieser Szene bricht Gottes Gericht über die Sünde hervor. Er lud die Sünde auf seine heilige Person als Sündopfer. Hier wird seine ganze Majestät, all sein Abscheu gegen das Böse offenbar. Der furchtbare Augenblick der Abrechnung ist gekommen. Das göttliche Gericht wider alle Bosheit, wider alle Gleichgültigkeit, wider alles Unrecht am Mitmenschen, wider alle Auflehnung gegen Gott traf den Heiligen. Diese Stunde war also nicht nur „eure Stunde“, die Stunde des Menschen, noch war sie nur die Stunde der Finsternis. Vor allem anderen war es auch die Stunde Gottes, in der seine uneingeschränkte Heiligkeit sich auf das Haupt des Sündenträgers, seines eigenen Sohnes, entlud, der sich selbst dahingab, das Opferlamm, das am Kreuze das Gericht über unsere Sünden trug. Die Folge war, dass der ganze Zorn Gottes, alles, was Er über die Sünde fühlte, ohne den geringsten mildernden Umstand, durch den sein Zorn eingedämmt wurde, sich auf den Sohn Gottes ergoss und sich an Ihm erschöpfte. So ist die Erlösung durch sein Blut vollkommen. Gott hat kein weiteres Wort mehr zu sagen – nichts ist mehr übrig, was nicht schon auf den Herrn Jesus gefallen ist, um die volle Ehre Gottes wiederherzustellen. Das ist auch der Grund dafür, dass nun die Offenbarung der Natur Gottes und der Liebe des Vaters keine Grenzen kennt. Der heilige Charakter Gottes hat nichts zurückgehalten. Alles, was Er wider die Sünde empfindet, hat sich über den Herrn Jesus entladen. Als Folge davon wendet sich nun alles, was in Ihm als Gott und Vater ist, ausschließlich zu unseren Gunsten; denn nachdem das Böse in uns so vollkommen gerichtet worden ist, will Gott nun seine vollkommene Genugtuung an dem Erlösungswerke des Herrn Jesus nicht nur als Vater, sondern auch als Gott kundtun.

So ist es denn möglich, dass der Herr Jesus in seiner Botschaft an die Jünger solche Worte spricht. Sie hatten Ihn gekannt, wie Er sich zu seinem Vater gewandt hatte, als niemand mit Ihm in seinen Schmerzen Mitgefühl hatte, als Er, der „Mann der Schmerzen“ in dieser Welt war, schon als Er das Sühnungswerk für die Sünde hinausführte. Sie hatten es beobachtet, wie Er vor Tagesanbruch mit dem Vater redete. Sie hatten es auch mit angesehen, wie Er in der Nacht, während andere schliefen, noch im Gebet vor seinem Vater verharrte. Sie wussten, wie tief jede menschliche Not, jeder menschliche Kummer, den Er antraf, sein Herz berührte und Ihn ins Gebet zu seinem Vater trieb (Mt 8). Am Kreuz aber kam eine andere Wahrheit zum Ausdruck und vor ihre Blicke, nämlich die Frage, wie Gott über unsere Sünden dachte. Hier wurden Ihm diese unsere Sünden zugerechnet. Nicht, dass Gott gegen Ihn war, im Gegenteil, nie war der Herr Jesus so der Gegenstand der unaussprechlichen Wonne Gottes wie in dem Augenblick, als Er das Gericht über unsere Sünden an seinem Leibe trug. Nichtsdestoweniger erforderte es die heilige Natur Gottes, dass dieses Leiden des Herrn am Kreuz nicht nur die Vorspiegelung eines Leidens war, sondern dass Er tatsächlich und wirklich den gerechten Zorn Gottes erduldete und dieses Gericht auf sich nahm. Dieses Leiden war ebenso wirklich, wie es vorher während seines Lebens der Genuss der ungetrübten Gemeinschaft mit dem Vater gewesen war.

Vielleicht sehen wir jetzt etwas deutlicher, wie wunderbar der Inhalt der Botschaft ist, die der Herr der Maria gibt. Man kann sagen, dass das ganze Geheimnis des Kommens des Sohnes Gottes in diese Welt darin zum Ausdruck kommt. Natürlich heißt das nicht, dass wir dessen teilhaftig werden, was Ihm als einer Person der Gottheit eigen ist. Er ist und war von Anbeginn aller Welten der eingeborene Sohn Gottes. Es ist klar, dass wir dies nicht mit Ihm teilen können. Hierin ist Er für uns niemals etwas anderes als ein Gegenstand der Anbetung und des Gehorsams aus Liebe. Aber Er, der Sohn Gottes vor Anbeginn aller Welten, wurde auch als Sohn Gottes in diese Welt geboren. Er war der Sohn Gottes als Mensch hier auf der Erde, und so zeigt Ihn uns das Lukas-Evangelium unter Menschen. Ich aber, ebenso wie du, wir waren Kinder des Zorns. Jeder von uns war von Natur und Geburt ein Kind des Zorns. Er dagegen war sowohl in seiner Natur als Mensch als auch als Gott der Sohn Gottes. „Das Heilige, das geboren werden wird, wird Sohn Gottes genannt werden.“

Es war für Gott unmöglich, mit dem Menschen, so wie er ist, Gemeinschaft zu haben. Im Gegenteil, der Mensch stand total im Widerspruch zu Gott. Das Verhältnis des Herrn Jesus zu seinem Vater hingegen kennzeichnete vollkommenes Wohlgefallen. Da der Mensch ein Sünder ist, ist er von Grund auf böse und steht unter dem Zorn. Die Erlösung aber befreit den, der glaubt, von allem Bösen und von dem ganzen Zorn. Wenn die Erlösung nicht dieses und noch viel mehr bewirkt hätte, wie wäre es dann möglich, dem Wort Gottes zu vertrauen? Was für einen Sinn hätten die ständigen ernsten Warnungen des Wortes an die Gläubigen? Ruht meine Seele nun auf dem Wort Gottes, nachdem es mir so das Kreuz bezeugt hat? Bin ich aufgrund der Autorität Gottes davon überzeugt, dass auf mir, der ich an Christus glaube, in seinen Augen nichts Böses mehr liegt, dass alles, alles getilgt ist? Ich spreche jetzt nicht von meiner tagtäglichen Erfahrung, denn selbstverständlich fühlt jeder, der ein Gewissen hat, sein eigenes böses Herz, und gerade, weil wir Gläubige sind, fühlen wir es umso mehr. Je mehr wir seine Liebe kennen, umso mehr verabscheuen wir die Sünde. Gerade weil wir nicht mehr wegen unserer Sünden gerichtet werden, sollten wir sie umso schärfer verurteilen. Wenn wir noch dafür gerichtet würden, würden wir verlorengehen. Somit bringt uns das Werk Christi dahin, die Sünde jetzt schon zu verurteilen. Man kann sagen, dass jeder Christ verantwortlich ist, das Gerichtsurteil Gottes über die Sünde schon jetzt in Anwendung zu bringen. Das gilt natürlich zuerst uns selbst gegenüber. Dann aber auch allen gegenüber, bei denen wir Böses sehen, und die den Namen Christi tragen und mit denen wir als Glieder seines Leibes verbunden sind; denn wenn irgendwo Sünde verabscheuenswert ist, dann bei einem Kinde Gottes. Gerade hierin ist der Trost der Erlösung und die Kraft des Heiligen Geistes so nötig.

Wir sollten das, was der Herr Jesus hier andeutet, wohl beachten. Es handelt sich weder um bloße Vergebung der Sünden, noch allein um Wiedergeburt. Es gibt viele Christen, die kaum jemals über ein gewisses Maß an Segen hinauskommen – sie haben Leben aus Gott. Es scheint, als verständen sie niemals das neue Verhältnis der Gnade, in das sie gebracht wurden. Wir haben in der Botschaft des Herrn Jesus an die Jünger die Grundlage und die Form dieses neuen Verhältnisses der Gläubigen zu Gott sowohl als zu dem Herrn Jesus gesehen. „Sage meinen Brüdern, ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ Ich darf aufschauen als einer, den der Herr Jesus sich nicht schämt, seinen Bruder zu nennen. Ich darf aufschauen und erblicke seinen und meinen Vater, seinen und meinen Gott, mit der absoluten Gewissheit, dass ich in dem vollen Wert und der innigen Vertrautheit des Herrn Jesus selbst nahe zu Ihm gebracht worden bin und dass das Erlösungswerk, das Er vollbracht und das Gott angenommen hat, die Grundlage meiner Errettung und all des Segens ist. In seiner Gnade gegen uns dass Gott diesem Werk des Herrn gewissermaßen Gerechtigkeit geschehen. Gehe ich zu weit, wenn ich behaupte, es wäre ungerecht von selten Gottes, wenn Er uns nicht so ansähe und annähme, wie der Herr Jesus es in diesen Worten ausdrückt? Es war doch gewiss keine Gott abgerungene Antwort. Nein, es war Gottes eigene Absicht und sein Wohlgefallen. Er sehnte sich nach solchen, denen Er seine Liebe erweisen konnte; ja noch mehr, gerade dieses Sohnesverhältnis, nichts weniger als das, wollte Er fest begründet sehen. Er hatte auf seinen Sohn als Mensch auf Erden herabgeblickt – jetzt sagt Er gleichsam: „Ich muss Söhne haben; ich muss Seelen haben, die früher Sünder waren, aber nun Meine eigenen Kinder sind. Ich habe früher ein Volk gehabt, aber sie waren trotz all Meiner Güte so böse und schändlich, wie die Sünde nur Menschen machen kann; jetzt will Ich aber durch Gnade ein neues Volk, eine Familie für Mich bilden, eine Familie, die nicht von der Welt ist, obwohl sie in der Welt ist.“

Damit ist Gott jetzt in seiner Liebe beschäftigt, mit dem vollbrachten Werk am Kreuz und der Auferstehung, für die das Kreuz die Voraussetzung ist. Darin liegt der Sinn des Verhältnisses, in dem die dazu Berufenen stehen sollen. Der Herr Jesus erkennt sie als seine Brüder an, und zwar nach seinem Tod und seiner Auferstehung. Warum waren sie denn nicht schon vor dem Kreuz seine Brüder? Wie kommt es, dass sowohl der Rationalismus wie auch der Ritualismus (gesetzliche Religiosität), obwohl sie so entgegengesetzt sind, immer nur unser Verhältnis zu dem Herrn Jesus als Mensch hier auf der Erde (vor dem Kreuz) sehen? Aus dem einfachen Grunde, weil weder die Rationalisten noch die Religiösen Gott wirklich kennen und die Sünde gemäß der Wahrheit verurteilen. Ohne Zweifel reden sie viel von diesen beiden Dingen. Wir wissen aber, wie leicht viel hierüber geredet werden kann, ohne dass Wirklichkeit dahintersteht. Diese Wirklichkeit ist, dass ich mich unter das Gericht Gottes über die Sünde, wie es am Kreuz vollstreckt wurde, beugen muss. Ist das nicht der Fall, dann gehen alle meine Gedanken über Gott und die Sünde total an der Wahrheit vorbei. Das Kreuz Christi ist die alleinige Grundlage für ein heiliges Verhältnis zu Gott, für die Gemeinschaft mit Ihm, wie sie seinen Gedanken entspricht.

In diesem Zusammenhang mag es gut sein, auf den sog. „Irvingianismus“ hinzuweisen. Es sind nicht so sehr die überschwänglichen Erregungen, die falschen Prophezeiungen, der kirchliche Götzendienst dieser Bewegung, die jedes Kind Gottes mit Trauer erfüllen sollten. Es ist natürlich schmerzlich, so etwas bei solchen zu finden, die den Namen Christi tragen. Was diese Sache so überaus böse macht, ist, dass die Person Christi verunehrt wird, um sein Einssein mit uns und sein Mitgefühl mit uns zu beweisen. Man sagt: weil wir sündhaft waren und tatsächlich gesündigt haben, musste Christus, um mit uns eins zu werden, unser Menschsein in dem befleckten Zustand, in dem wir sind, annehmen. Das war Irvings Hauptidee; und weil hierdurch Christus preisgegeben wurde, wurde auch jegliche Errettung unmöglich gemacht. Das hatte unmittelbar zur Folge, ganz abgesehen von dem sonstigen verderblichen Einfluss dieser abweichenden Lehrmeinung, dass das gerechte Gericht Gottes am Kreuz als Grundlage unserer Errettung außer Acht gelassen wurde. Die Fleischwerdung des Herrn Jesus tritt an die Stelle seines Erlösungswerkes. Man betrachtet den Herrn Jesus auf dem Weg seiner Erniedrigung als mit uns vereinigt, statt zu erkennen, dass wir mit Ihm im Himmel vereinigt sind. Das allein ist wahres Christentum, es ist die Frucht seines Opfertodes, durch den Er die Sünde abgeschafft hat.

Die Fleischwerdung des Herrn und das Einssein mit Ihm zu verwechseln, ist Verwirrung und eine List des Feindes. Man findet diesen Irrtum keineswegs nur in einem so überspannten System wie dem Irvingianismus. Er ist in jeder Art von Priesterherrschaft, jedem Ritualismus vorhanden, ganz gleich wie man ein System von Priestern und irdischen Anordnungen nennen will. Solche Systeme bestehen nicht nur in dem einen oder anderen Land, sie haben sich überall ausgebreitet, und ich habe keinen Zweifel, dass dies am Ende zur Katastrophe Babylons führen wird. Aus welchem Grunde betonen diese Systeme denn nun, dass unsere Vereinigung mit Christus in seiner Menschwerdung besteht? Warum machen sie seine Geburt zum Angelpunkt, durch den unser Verhältnis zu Ihm bestimmt wird? Sie weisen darauf hin, dass der Herr Jesus, als Er hienieden weilte, unter dem Gesetz war. Er erkannte den Tempel an, Er ging auf die Feste, Er anerkannte Opfer, Priester und das Volk. Gewiss tat Er das, und aus diesem Grunde wollen die Anhänger der Systeme, von denen ich spreche, dass Christen, oder die christliche Welt jedenfalls, heute noch Tempel haben, Opfer bringen, Feste feiern, Fasten einhalten, die Unterscheidung von Priestern und Laien anerkennen. Das ist nichts anderes als neues Judentum. Sie lassen die Wahrheit der Schrift fahren und wenden sich zu den armseligen „Elementen der Welt“, in denen wohl Christus vorbildlich gesehen wird, die jetzt aber alle ans Kreuz genagelt worden sind. Sie meinen, diese neu erweckten Vorbilder und Schatten seien echte christliche Anbetung, und der Zustand vor dem Kreuze wäre der Weg, durch den Christen mit Christus eins würden.

Die Schrift verbindet ohne Ausnahme unsere Vereinigung mit dem verherrlichten Haupt mit seinem Tode, seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt. Demgemäß ist unsere Vereinigung mit Christus keineswegs im Fleische, sondern immer im Geist. „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm“ (1Kor 6). Weit davon entfernt, „ein Fleisch“ zu sein, bringt diese Stelle den direkten Gegensatz zu derartigen Anschauungen zum Ausdruck. „Ein Fleisch“ hat in diesem Kapitel einen sehr schlechten Sinn. Tatsächlich stand der Herr im Fleische mit Israel in Verbindung, nicht mit uns. Seine Fleischwerdung ist von großer Bedeutung; Einheit aber, die Einheit des Leibes und des Hauptes wird in der Schrift niemals als die Frucht der Fleischwerdung betrachtet. Es ist zweifellos wahr: hätte Christus nicht Fleisch angenommen, dann gäbe es auch kein Einssein mit Ihm. Die Schrift lehrt aber, dass unser Einssein mit Ihm auf sein Erlösungswerk folgt und dass es darin besteht, dass wir Glieder seines Leibes sind, nachdem Er nun im Himmel verherrlicht ist.

Obwohl Er also wirklicher Mensch war wie jeder andere Mensch, so nahm Er doch Fleisch und Blut in einer von allen anderen Menschen verschiedenen Art und Weise an. Ohne Zweifel nahm Er daran teil durch ein übernatürliches Wirken des Heiligen Geistes, vollständig getrennt von jeder Sünde, „der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde“. In Ihm waren nicht nur keine Sünden, sondern auch keine Sünde. In Ihm war kein Hang, keine Neigung, nicht einmal ein Kampf mit der Sünde – alles war gut und heilig. Ich bin dankbar dafür, dass die allgemein bekannten Glaubensbekenntnisse der Christenheit, wie zum Beispiel das Athanasische und andere, dies öffentlich anerkennen. Wenn sie auch bloß ein menschliches Bollwerk sind, so hören doch die Menschen in jenen Ländern dadurch die Wahrheit. Diese Glaubensbekenntnisse bringen jedenfalls zum Ausdruck, dass die unbefleckte Menschheit des Herrn Jesus die wesentliche Grundlage jeder Rechtgläubigkeit ist.

Diese reine, unbefleckte Menschheit des Herrn Jesus war also notwendig, um auf dieser Erde den Einen zu zeigen, der vollkommener Mensch und göttliche Person ist, der Sohn Gottes. Um uns aber mit Gott so weit wie möglich in Verbindung zu bringen, musste das Erlösungswerk vollbracht werden. Nichts geringeres als das war der Zweck und das Resultat des Erlösungswerkes. Denn die Gerechtigkeit Gottes, die uns ohne das Kreuz hätte schonungslos richten müssen, versetzt uns nun auf völlig gerechte Weise in die gleiche Stellung wie Christus selbst vor Gott, soweit dies möglich ist. Wie gütig und wie weise ist doch unser Gott! Wie groß ist doch die Kraft des Todes und der Auferstehung Christi! Sie berechtigen alle Glaubenden dazu, seine eigene Stellung als Sohn Gottes und auferstandener Mensch mit Ihm zu teilen, und das dürfen sie jetzt schon in der Kraft des Geistes genießen. Wir wollen dabei – wie gesagt – seinen besonderen Platz als Sohn und Gegenstand ewiger Anbetung nicht vergessen, aber es ist doch eine Tatsache, dass Er uns schenkt, als Söhne jetzt schon Gegenstände der Wonne und der Zuneigung des Vaters zu sein. Wir stehen damit in einem viel näheren und innigeren Verhältnis zu Ihm, als wenn wir nur Heilige und Mitglieder eines Volkes wären, das spezielle irdische Vorrechte besitzt. Das ist es, was der Herr Jesus hier zunächst klarlegt.

Doch finden wir hier noch mehr. Am Abend desselben Tages befindet sich der Herr in der Mitte der versammelten Seinen. Damit komme ich zu dem Punkt, über den ich heute Abend sprechen möchte. Das erste Wort aus seinem Munde ist – „Friede euch!“ Welch kostbares Wort! Es war nicht Vergebung der Sünden, so gesegnet sie auch ist, sondern: „Friede euch!“ Friede ist viel mehr als Vergebung der Sünden. „Als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite.“ Er zeigte ihnen das Zeichen und den Beweis dafür, dass Er am Kreuz sein Blut vergossen hat, durch das Er Frieden gemacht hat. „Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen.“ Dann aber wiederholt Er die Worte: „Friede euch!“ Nur sind diese Worte beim zweiten Mal weniger persönlich als in Verbindung mit ihrer Sendung zu verstehen, denn Er fügt hinzu: „Gleichwie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch.“ Beim ersten Mal diente dieser Gruß ihrer Freude und Ermunterung. Mit der zweiten Anrede führt der Herr sie in ihren Dienst ein; Er sendet sie mit dieser Friedensbotschaft zu anderen. In der neuen Kraft dieses Friedens dürfen sie ausgehen. Gleichwie der Vater Ihn, den Sohn, gesandt hatte, so sendet Er, der Sohn, sie nun aus; immer spricht Er bewusst als der Sohn Gottes in Gemeinschaft mit dem Vater.

Doch fügt Er ein sehr beachtenswertes Zeichen hinzu. „Als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfanget Heiligen Geist!“ Wahrscheinlich sind viele hier, die von der Korrespondenz gehört haben, die kürzlich über diese Schriftstelle stattgefunden hat. Sie hat gezeigt, welche Meinungsverschiedenheit sogar unter Führern des gleichen religiösen Systems über diese Stelle herrscht. Nichtsdestoweniger werden viele hier Anwesende erstaunt sein, wie völlig unsicher und unklar sogenannte Theologen sind und dass sie nur darin übereinstimmen, dass ihre Auffassungen weit von der Wahrheit entfernt bleiben. Ihr aber, die ihr gewohnt seid, das Wort Gottes mit dem Vertrauen zu lesen, dass Gott euch durch den Heiligen Geist belehrt, werdet kaum ahnen, wie Männer, die in der Christenheit einen Namen haben, so weit von der Wahrheit abirren können. Woher kommt diese Unfähigkeit, den durch diese Worte des Herrn so klar ausgesprochenen Sinn der Gedanken Gottes zu begreifen und deutlich weiterzugeben? Wie kommt es, dass man heute, mehr als 1800 Jahre nachdem diese Worte gesprochen worden sind, nichts besseres hört als die unreifen Anschauungen der Kirchenväter oder die Mutmaßungen ihrer Kinder?

Es gibt zwei entgegengesetzte Theorien. Eine besagt, dass der Herr Jesus hier eine Art priesterlicher Autorität aufrichtet, kraft derer diejenigen, die Er hier anredet, und ihre Nachfolger das Recht bekamen, jedem, der seine Sünden aufrichtig bekannte, sie in seinem eigenen Namen zu vergeben. Ich möchte diese Anschauung so günstig wie möglich darstellen. Natürlich räumen alle ein, dass durch gewisse Umstände Fehler vorkommen, durch die die Vergebung schließlich ungültig gemacht wird, aber sie behaupten doch, dass sich der Herr zu seinen Dienern bekennt, wenn das Herz des betreffenden Menschen aufrichtig ist. Das bedeutet: Er dass aufgrund dieses Auftrages durch gewisse autorisierte Werkzeuge Sündenvergebung erteilen, und das bis ans Ende. Die andere Richtung hingegen sagt: „Nein! Ganz verkehrt! Hier handelt es sich um übernatürliche Wunderkraft. Wenn jemand heutzutage beansprucht, er könne andere Leute von ihren Sünden befreien, warum sollte er dann nicht Aussätzige reinigen und Tote auferwecken? Warum sollte er dann nicht auch all die anderen Wunder tun, für die der Herr seinen Jüngern Kraft schenkte?“ Ist es nicht erstaunlich, dass Christen uns mit solchen Theorien kommen, die so weit von der Wahrheit Gottes entfernt sind? Ich finde die eine ebenso unbefriedigend wie die andere. Selbst die letztere Anschauung, die auf der evangelischen Seite vertreten wird, stimmt mit dem schlimmsten Punkt der ersten Richtung überein, während sie ganz widersinnig wird und die Wahrheit umgeht, indem sie das Vollbringen von Wundern in eine Schriftstelle hineinbringt, die gar nichts damit zu tun hat. Denn es ist ganz klar, dass nach diesem Gedankengang diejenigen, die Aussätzige heilen konnten und die Tote auferwecken konnten, auch das Recht hatten, Menschen von Sünden freizusprechen. Ich bestreite aber ganz entschieden, dass es jemals das Recht der Jünger gewesen ist, eine derartige Sündenvergebung zu erteilen. Ob wir also die katholische oder die evangelische Theorie betrachten, es ist schwer zu sagen, welche von beiden am weitesten von der Schrift entfernt ist.

Will ich damit sagen, dass diese Stelle keinen ganz eindeutigen Sinn hat? Absolut nicht! Der Schlüssel zum Verständnis dieser Verse ist die Auferstehung des Herrn; darum geht es ja hier. Wenn man den Herrn Jesus und die Kraft seiner Auferstehung besser kennen würde, dann würde man auch die Frucht seiner Auferstehung besser verstehen. Unwissenheit über unsere Auferstehungsvorrechte dass Menschen, ob sie auf der einen oder anderen Seite stehen, im Dunkel über das, was hier offenbart wird. Beachten wir: nachdem der Herr seine Jünger in Frieden ausgesandt hat, hauchte Er in sie. Ich kenne keine andere Stelle in der Schrift, auf die unser Vers sich beziehen könnte als nur eine; und zu dieser steht sie in einem bemerkenswerten, aber sehr lehrreichen Kontrast. Wenn wir 1. Mose 2 betrachten, fällt uns ein Unterschied auf: Jehova Gott erschuf den Menschen anders als die Tiere. Als Er die vielen Tiere, Vögel, Kriechtiere, usw. schuf, da wurde jedes von ihnen „eine lebendige Seele“ durch die einfache Tatsache, dass Er es mit all seinen Organen richtig ausgerüstet hatte. Mit dem Menschen war es hingegen anders. Der Mensch wurde, wie wir wissen, aus dem Staub der Erde erschaffen, aber dadurch wurde er nicht zu einer lebendigen Seele. Zwischen dem Menschen und jedem anderen erschaffenen Wesen bestand ein wesentlicher Unterschied.

Dieser Unterschied liegt nicht nur darin, dass das ganze restliche Tierreich dem Menschen Untertan gemacht wurde, sondern vielmehr darin, dass nur der Mensch sein Leben direkt von oben, von Gott, empfing. „Jehova Gott hauchte in seine Nase den Odem des Lebens, und der Mensch wurde eine lebendige Seele.“ Kein anderes Lebewesen wurde auf diese Weise eine lebendige Seele, nur der Mensch kam in den Genuss des Odems Jehova-Gottes. Hier liegt der wahre Ursprung der Unsterblichkeit der Seele; und aus diesem Grunde ist nur der Mensch direkt vor Gott verantwortlich und muss diesem Gott, der ihm Seele und Geist gegeben hat, Rechenschaft ablegen über das, was er im Leibe getan hat. Obwohl Tiere eine Seele haben, geht dieselbe nach unten, nicht nach oben zu Gott, denn Gott hat niemals in Tiere gehaucht. Das Lebensprinzip eines Tieres vergeht, denn es handelt sich dabei nur um etwas, was nach Gottes Willen mit seiner körperlichen Beschaffenheit in Verbindung steht. Demzufolge verschwindet ein unvernünftiges Tier, wenn es stirbt. Bei dem Menschen aber findet sich eine Seele und ein Geist, die beide ihrem Ursprung nach vom Leib verschieden sind und bleiben und die beide in einer viel engeren Verbindung zu Gott stehen. Infolgedessen hat also die Seele eine Unsterblichkeit, die der bloß natürliche Leib, der hier auf der Erde lebt, nicht besitzt. Der Leib mit seinem natürlichen Leben kam ins Dasein durch den Willen Gottes, die Unsterblichkeit gehört aber unauslöschlich zum Wesen von Seele und Geist. Deshalb wird bei der Auferstehung der Leib des Menschen auferweckt, um mit seiner Seele und mit seinem Geist wieder vereinigt zu werden, und so wird jeder von uns Gott Rechenschaft ablegen.

Nun steht also der Herr Jesus hier vor unseren Blicken, und vereint – wie es für dieses Evangelium typisch ist – diese beiden Elemente miteinander: Er ist Mensch, hier der auferstandene Mensch. Er ist aber auch der Herr, Gott, wie Thomas kurz danach sagt: „Mein Herr und mein Gott!“ Er ist derjenige, der in seiner eigenen Person die Natur Gottes und die eigentliche Natur des Menschen vereinigt. Er steht hier als der auferstandene Mensch, „der zweite Mensch“, am ersten Tag der Woche, und als der lebendig machende Geist haucht Er in seine Jünger. Dieser Geist ist der Geist Christi Jesu, auferstanden aus den Toten. Es ist der Heilige Geist, der Geist dieses Auferstehungslebens, die Kraft dieses neuen Lebens, was der Herr als das Haupt einer neuen Familie den Gliedern dieser Familie mitteilt. Sie hatten an Ihn geglaubt und hatten dadurch ewiges Leben. Jetzt hatten sie Leben im Überfluss.

Das ist also die überaus wichtige Veränderung, die mit dieser Handlungsweise des Herrn Jesu Christi hier eintrat. Nun könnte ich mir aber vorstellen, dass es Leute gibt, die sagen: „Wenn jemand ewiges Leben empfängt, was macht es dann schon aus, ob es Auferstehungsleben ist? Warum sollte die Auferstehung des Herrn Jesus so charakteristisch dafür sein?“ Es mag sein, dass viele dies nicht gut einsehen können. Darauf möchte ich dann doch sagen, dass ein voller Sieg etwas ganz anderes ist als ein Leben voller Kampf mit dem Tode, als ein Leben des Ringens unter Geboten, ein Leben des Streitens mit dem Bösen um uns her, im Streben nach dem Guten, und doch ein Leben voller Niederlagen; in dem man das Böse zu vermeiden sucht und doch immer irgendwie hineingezogen wird. Das gerade ist der Zustand eines Menschen, der die befreiende Kraft noch nicht erlebt hat. Für einen Gläubigen ist dieser Kampf aber zu Ende, zumindest insoweit er die neue Stellung erkennt und einnimmt, in die er durch den Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus versetzt worden ist. Das Leben, das ich nun in dem Herrn Jesus erlange, ist ein Leben nicht unter Gesetz, ein Leben, das nichts mit der Erde und ihren Satzungen zu tun hat. Es ist das Leben Dessen, der mir vollkommenen Frieden mit Gott geschenkt hat. In diesem Sinne haucht der Herr Jesus in seine Jünger, um ihnen dies gleichsam in konzentriertester Form und in all seiner Kraft zu geben, um ihnen den neuen Charakter des Lebens, das sie schon hatten, vorzustellen – nämlich dass das Leben, das sie nun im Fleische lebten, in Wirklichkeit ein Leben durch den Glauben des Sohnes selbst war. „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ Dies kam in der einfachen Tatsache, dass der Herr Jesus in sie hauchte, zum Ausdruck. Sie wurden Seiner teilhaftig, so wie Er jetzt als der Auferstandene vor ihnen stand. Sie durften teilnehmen an dem, was Er war, insbesondere an dem Leben, das in Ihm war, nachdem alle Fragen gelöst waren und Er eine vollkommene Erlösung für sie erworben und ihnen geschenkt hatte.

Im Blick darauf kann der Apostel Paulus sagen: „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind.“ Und warum? „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ „Das Gesetz des Geistes des Lebens“ nennt es der Apostel Paulus. Es ist genau das, von dem Johannes hier berichtet, wie es gegeben wurde. Es war der Heilige Geist – aber der Heilige Geist als der Geist des Lebens. Es war nicht der Geist der Kraft, der sich lediglich in Wunderwirkungen oder anderen Krafterweisungen manifestiert – Dinge, die in den Augen der Menschen viel größer erscheinen. Noch viel weniger war es etwas so willkürliches und anmaßendes, als ob Menschen nun die Stellung Gottes einnähmen und behaupten könnten, sie könnten auf der Erde Sünden vergeben; kein Apostel hat dies je getan. Doch ist es ein wirkliches Vorrecht, heute ebenso wie an dem Tage, als der Herr Jesus aus dem Tode auferstand. Was der Heilige Geist damals tat, war nichts anderes, als dass Er Leben in seiner Auferstehungskraft mitteilte durch den Herrn Jesus, den zweiten Menschen, der aus den Toten auferstanden war.

Das ist der Sinn des Ausdrucks „empfanget Heiligen Geist“. Der Heilige Geist steht immer in Verbindung mit dem Leben, das Christus schenkt. Ohne Zweifel ist es immer Christus, der der Gegenstand des Glaubens ist und der Leben gibt; doch gibt Er Leben durch die Einwirkung des Heiligen Geistes. Ob dies während seines Lebens auf Erden oder jetzt geschieht, immer steht dieses Leben in Verbindung mit dem Geist des Lebens; Er ist die Kraft dieses Lebens.

Der Herr sagt dann weiter: „Welchen irgend ihr die Sünden vergebet, denen sind sie vergeben; welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten.“ Manche werden nun fragen: „Nun, glaubst du das?“ Aber gewiss! Ja, ich glaube sogar, dass ihr Christen diese Kraft habt und Gott gegenüber die Verantwortung tragt, sie auszuüben. Einige werden nun sagen: „Das ist aber ein sehr hoher Anspruch, das Recht, Sünden zu vergeben oder zu behalten!“ Und zweifellos ist das so. Zu wem redet denn der Herr Jesus an jenem Tage? Nicht nur zu den Aposteln, vielmehr zu den Jüngern. „Als es nun Abend war an jenem Tage, dem ersten der Woche, und die Türen, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren.“ Hätte es sich um ein Vorrecht gehandelt, das sich auf den kleinen Kreis der Apostel beschränkte, dann wäre dies gewiss irgendwie angedeutet worden. So handelt jeder vernünftige Mensch. Wenn die Königin zum Beispiel ihren Ministern eine Mitteilung machen will, dann wird sie dafür nicht das ganze Parlament zusammenrufen. Das wäre nicht der richtige Weg. Wenn dagegen dem Parlament eine königliche Botschaft verkündigt werden soll, an wen würde sich die Königin dann wenden? Wenn die Botschaft das ganze Parlament angeht, dann wird dieses zusammengerufen, und so ist es hier. Unser Herr redet seine Jünger an; ja, Er meint sie alle. Sobald wir das Wort so nehmen, wie es geschrieben ist, sehen wir deutlich, dass das, was Er sagt, alle angeht. Niemand wird behaupten wollen, dass Auferstehungsleben des Herrn Jesus wäre nur für die Zwölf. Oder glaubt jemand wirklich, der Friede, den der Herr so feierlich und wiederholt verkündigt, hätte nur den Aposteln gegolten? Ganz gewiss nicht – obwohl die Apostel natürlich daran teilhatten und diesen Frieden in ihrer Seele tief genossen.

Ganz abgesehen von den besonderen Geistesgaben und Kraftwirkungen, die der Herr einzelnen Brüdern verleiht, gibt Er auch besondere Autorität, Versammlungen zu bilden und zu leiten, in denen sein Name anerkannt und bekannt wird. Die Schrift spricht den Aposteln eine spezielle Autorität zu, als es darum ging, die Grundlagen hierfür zu legen. Sie handelten richtungweisend in grundsätzlichen Fragen und Verwaltungsfragen, die das neue Zeugnis betrafen. Im Johannesevangelium aber fehlt so sehr alles „amtliche“, dass der Ausdruck Apostel überhaupt nicht vorkommt. Der Geist, die Form und der Inhalt dieses Evangeliums sind dem gewidmet, was innerlich, wesentlich und unveränderlich ist. Wir werden gleich noch sehen, dass gerade in dieser Schriftstelle der eigentliche Charakter wahren Christentums hervorgehoben wird, den es vor Gott und vor den Menschen hat. Aus mehr als einem Grund bin ich deshalb davon überzeugt, dass wir die Erfüllung dieser Worte des Herrn nicht in irgend etwas suchen sollten, was nur auf die Apostel persönlich zutraf oder auf irgendwelche Nachfolger der Apostel. Noch weniger können sie auf die Ausübung des Amtes der Ältesten und der Aufseher bezogen werden, als seien diese amtlich beauftragt, Sünden zu vergeben oder zu behalten, wie dies mit aller Bestimmtheit von gewissen religiösen Körperschaften angenommen wird. In Wahrheit hat der Herr Jesus hier die „Jünger“ als solche vor sich und ihnen teilt Er den Geist mit; sie beauftragt Er mit dieser großen Aufgabe.

Gibt uns nun die inspirierte Geschichte, geben uns die Briefe der Apostel kein Licht darüber, wie die Apostel diese Worte des Herrn verstanden haben und wie wir sie zu verstehen haben? Nehmen wir zum Beispiel die, die am Pfingsttag bekehrt wurden und andere, die der Herr von Zeit zu Zeit hinzufügte: durch wen wurden ihre Sünden vergeben? Sie waren nicht damit zufrieden, für sich selbst dem Evangelium zu glauben; sie unterbreiteten ihr Bekenntnis des Namens des Herrn auch denen, die vor ihnen Christen geworden waren, und das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich habe kein Recht dazu, mich selbst nur aufgrund meiner eigenen Meinung, die ich von mir selbst habe, Christ zu nennen, aufgrund meines eigenen Urteils über den Glauben, den ich bekenne. Ich muss mein Bekenntnis denen vorlegen, die vor mir in Christo waren. So wunderbar auch die Berufung eines Paulus war, so wurde doch selbst er nicht davon ausgenommen. Er wurde von einem gewissen Jünger getauft und danach wurde er von anderen aufgenommen. Dies ist sehr tröstlich und belehrend, und es ist anmaßend, das zu übersehen oder abzuschwächen. Je wirklicher der Glaube eines Menschen ist, desto bereitwilliger ist er, seinen Glauben von anderen prüfen zu lassen. Sogar der Apostel Paulus musste zunächst schmecken, dass dies manchmal bitter ist, denn da waren einige, die ihm nicht trauten. Wenn also dieser hochgeehrte Diener des Herrn nicht davon verschont blieb, eine kleine Prüfung durchmachen zu müssen, dann steht es gewiss keinem von uns zu, unseres persönlichen Bekenntnisses so sicher zu sein, dass wir unsere eigene Wichtigkeit nicht etwas zurückstellen und uns dem Willen des Herrn zum Segen der Versammlung unterwerfen könnten. Denke nur einmal darüber nach, wie der Feind es benutzen könnte, wenn jeder sich selbst, unabhängig von anderen, als Christ einführen und behaupten wollte. Es ist gut, einander unterwürfig zu sein, und zwar von Anfang an in der Furcht Gottes, der weiser ist als Menschen, und der uns durch diese Worte seinen Willen kundgetan hat.

Wenn wir die Schriften der Apostel als eine Auslegung der Worte des Herrn im Johannesevangelium akzeptieren, so finden wir, dass sie sie so verstanden und praktisch befolgten. Wenn jemand bekennt, sich in Buße und Glauben zu Gott zu bekehren, wenn er an den Namen des Herrn Jesus Christus glaubt, dann genügt es nicht, dass er im Blick auf die Errettung seiner Seele im Glauben an den Heiland ruht. Ich muss „mit meinem Munde bekennen und mit meinem Herzen glauben“. Natürlich kann und sollte dieses Bekenntnis auch vor der Welt abgelegt werden; zunächst aber ist es Sache derer, die schon vorher seinen Namen bekannt haben, die Echtheit meines Bekenntnisses zu prüfen. Es mag sein, dass ich, wenn ich ein solches Bekenntnis ablege, doch noch etwas bei mir dulde, was Christus verunehrt. Ich mag sogar etwas übersehen, was für meine eigene Seele schädlich und anderen zum Anstoß ist. Dann kommt es auf die so sehr wichtige Ausübung dieser Verantwortung seitens derer an, die vor mir geglaubt haben, worauf die Schrift großen Wert legt, indem sie es, wie wir in Römer 15 lesen, zur Ehre Gottes leitet. Es ist also eine Tatsache, dass die Jünger in gewissen Fällen Menschen der Vergebung von Sünden versicherten, während sie die Vergebung in anderen Fällen verweigerten. Sie nahmen mit Einfalt und Herzlichkeit Menschen in ihre Mitte auf. Sie erkannten solche als Brüder an, die bis dahin in aller Art von Sünde gelebt hatten, und die sich nun plötzlich – vielleicht innerhalb einer Stunde – zu Gott wandten. War es da nicht von allergrößter Bedeutung, dass es in dieser Welt einen Kreis von Menschen gab, den der Herr Selber berufen und dem Er bestimmte Autorität verliehen hatte, diese Bekenner auf die Echtheit ihres Bekenntnisses zu prüfen, ein Kreis, der aus Menschen bestand, die sein eigenes Leben besaßen, nämlich den Geist Gottes als die Kraft eines überfließenden Auferstehungslebens?

Einem wahren Kinde Gottes wird dies auch durchaus nichts schaden; im Gegenteil, es wird ihm eine große Ermunterung sein, es wird sich darüber freuen; denn durch das herzliche Willkommen anderer wird es nur weiter befestigt. Sogar die Engel, nicht nur Menschen hienieden, freuen sich ja über die Buße eines Sünders in der Gegenwart Gottes. In Fällen aber, in denen etwas nicht ganz klar ist, in denen etwas im Verborgenen schlummert oder in welchen es sich zeigt, dass man heimlich verkehrte Dinge einführen möchte, bedeutet solch eine Prüfung eine wichtige Vorsichtsmaßnahme.

Wir finden also, dass die Versammlung Gottes in diesem Geiste handelte. Sie vergaben und behielten Sünden. Ich rede jetzt nicht von dem feierlich ernsten Fall, in dem ein Mensch unverzüglich tot zu Boden fiel, sondern von Beispielen, die uns zeigen, wie diejenigen, welche gesündigt hatten, hinausgetan und wie sie, nachdem sie Buße getan hatten, öffentlich wieder aufgenommen wurden. Dann haben wir noch den Fall, in welchem jemand aufgenommen wurde und wo seine Sünden öffentlich vergeben waren, der aber dann doch nachher noch als ein Böser ausgeschlossen wurde (1Kor 5). Die beiden Korintherbriefe illustrieren also beide Seiten. „Genügend ist einem solchen diese Strafe, die von den Vielen ist, so dass ihr im Gegenteil vielmehr vergeben und ermuntern solltet, damit nicht etwa ein solcher durch übermäßige Traurigkeit verschlungen werde. Darum ermahne ich euch, Liebe gegen ihn zu betätigen“ (2Kor 2,6-8). Wir finden da also beides, auf der einen Seite ein Vergeben der Sünde, auf der anderen Seite ein Behalten der Sünde. Ich bin überzeugt, dass einer der Gründe, warum Christen es an der nötigen Trennung von der Welt haben praktisch fehlen lassen und dadurch nicht in der Kraft der christlichen Freude wandelten und keine Quelle des Segens für andere waren, darin liegt, dass sie diese Verantwortung außer Acht gelassen haben, indem sie es als Aufgabe einiger offiziell Beauftragter unter ihnen betrachteten oder als eine längst verschwundene Kraft.

Wie bedauerlich! Der Grund dafür ist ebenso offensichtlich wie demütigend. Die Kirche hat ihren Platz als ein abgesondertes Volk, das mit der Liebe und Herrlichkeit des Herrn Jesus ausgestattet ist, nicht bewahrt. In der Meinung, Liebe zu üben, hat man jedermann aufgenommen. Eine solche Handhabung von Liebe hilft aber keinem Ungläubigen, und auch für Gläubige kommt sie nicht in Frage. Als Folge davon wurden die großen öffentlichen Grenzsteine der Gnade und Heiligkeit niedergerissen. So wird der bloße Anspruch, dass Sünden entweder vergeben oder behalten werden müssen, bei den meisten verschmäht oder ignoriert – außer bei abergläubigen Leuten; aber diese betrachten es als ein Vorrecht ihrer Priester.

Im Gegensatz dazu möchte ich betonen, dass diese Worte des Herrn im Johannesevangelium es jeder Versammlung von Christen in dieser Welt zur Pflicht machen, öffentlich anzuerkennen, was die Gnade bewirkt hat, indem diejenigen, deren Bekenntnis zufriedenstellend ist, aufgenommen werden, und diejenigen, die sich dem Gewissen der Gläubigen nicht empfehlen, öffentlich abgewiesen werden. Doch sei es mir erlaubt, mit aller Entschiedenheit darauf zu dringen, dass der Prüfstein für die Aufnahme nicht ein gewisses Maß von Einsicht ist. Gewiss steht es mir ebenso wenig wie anderen zu, geistliches Verständnis gering einzuschätzen, denn zweifellos hat es seinen Platz, seine Zeit und seinen Wert. Eins aber steht fest: was der Herr Jesus seinen Jüngern einhauchte, war nicht Einsicht, sondern sein eigenes Auferstehungsleben, und Er will, dass wir dieses Leben auch bei anderen anerkennen. Das sollten wir bei denen, die zu uns kommen, tun – „euch hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Übertretungen vergeben hat“ (Kol 2). Damit meine ich natürlich nicht, dass wir mit dem neuen Leben in Christus zugleich auch das, was sündhaft ist, anerkennen sollen. Wir sind aber verpflichtet, die Schafe und die Lämmlein Christi aufzunehmen und mit ihren Fehlern, die oft nur die Frucht einer falschen Stellung oder einer schlechten Belehrung sind, sehr zart umzugehen. Lasst uns wohl davor auf der Hut sein, dem Feinde dadurch in die Hände zu spielen, dass wir auch nur dem Anschein nach die Frage der Aufnahme solcher Seelen mit Fortschritt im Wandel oder in der Lehre vermengen. Lasst uns an dem großen und einfachen, aber unendlich wertvollen Grundsatz festhalten, dass der Herr Jesus seinen Jüngern den Geist seines eigenen Auferstehungslebens einhaucht. Wir haben die Allerschwächsten als Teil der Versammlung von Christen zu behandeln. Lasst uns aber auf der anderen Seite nicht davor zurückschrecken, solche abzuweisen, deren Bekenntnis der Ehre des Namens des Herrn Jesus nicht entspricht. Wenn jemand dieses Auferstehungsleben des Herrn Jesus wirklich besitzt, dann muss man bei ihm auch zugleich mit einem gereinigten Gewissen praktische Heiligkeit erwarten. Außerdem darf man aber auch erwarten, dass er alles mit dem Maßstab Christi beurteilt, so wie Christus die Quelle all seiner Segnungen ist. Christus muss zu aller Zeit vor seiner Seele stehen. Geradeso wie der Name Jesu der einzig gültige Pass für jeden ist, der das ewige Leben besitzt, haben wir aber auch in demselben Namen den lautesten Anspruch auf Annahme abzuweisen, wenn seine Ehre angetastet wird. Möchte der Herr Jesus uns allen das sein, was Er in Wirklichkeit ist — der vollkommene und einzige Maßstab. Wenn Christus wirklich anerkannt und geehrt wird, dann ist alles gut und sicher und gesegnet. Jeder Versuch, Christus und die Sünde miteinander zu vereinigen, ist verhängnisvoll. Wir müssen jeden Gedanken, dass wir Christus haben und zugleich mit der Sünde spielen könnten, weit von uns weisen; denn nichts ist Gott widerwärtiger als das. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Ihn stets vor unsere Augen stellen, sonst kommen wir in die Versuchung, kirchliche Methoden und Theorien, die wir verlassen haben, wieder einzuführen. Ich bin überzeugt, dass jede kirchliche Theorie falsch ist, wenn man ihr in irgendeiner Weise gestattet, den Wert Christi zu verdunkeln. Ich bin aber ganz entschieden dagegen, dass man bei Menschen, die sich in einer falschen kirchlichen Stellung befinden, ebenso handelt, wie wenn es um die Ehre Christi oder positive Sünde geht. Wenn es sich dagegen auch nur um stillschweigende Duldung einer den Herrn Jesus verunglimpfenden Lehre handelt – wenn jemand die Lehre des Christus nicht bringt, so führt dies zum Ruin. Der Mann mag bezüglich kirchlicher Wahrheit so gesund und rechtgläubig wie ein Apostel erscheinen. Er mag jede andere neutestamentliche Lehre auf Anhieb erläutern können; was aber nützt das alles, wenn dabei Schande auf den Namen Christi kommt? Wenn aber Christus der Gegenstand der Seele ist, selbst wenn der Bekenner dieses Namens verhältnismäßig wenig belehrt ist, so wissen wir, dass Christus ihm sein Leben eingehaucht hat, und es ist ganz klar, wie wir zu handeln haben, wenn wir dem Herrn unterworfen sind. Lasst uns einen solchen von Herzen in seinem Namen aufnehmen. Es ist die Aufgabe der Versammlung, einen solchen Bekenner aufzunehmen und ihm weiterzuhelfen; denn wo sonst können sie mehr Licht empfangen, wo können die gelähmten Knie aufgerichtet werden, wenn nicht in der Versammlung Gottes? Wenn wir aber mit der Aufnahme warten, bis ein solcher weiter vorangekommen ist, machen wir dieses erwünschte Wachstum fast unmöglich, und wir selber verwirken den Platz, wo es unser Vorrecht und unsere Pflicht ist, solchen zu helfen. Ich meine doch, die Kirche Gottes sei der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit. Allein dort kann die Wahrheit gelernt werden, wo man in ihr wandelt. Diejenigen, die ich erwähnt habe, die den Herrn Jesus angenommen haben, haben Ihn innerlich, in ihrem Herzen; sie sollten Ihn auch äußerlich in ihren Mitgeschwistern haben. Kann ich mehr als das für mich beanspruchen? Warum denn so viel Zurückhaltung?

Möchte der Herr uns dazu fähig machen, Schwierigkeiten gründlich zu beseitigen; möchte Er uns bereit machen, Seelen, deren Gottseligkeit in Lehre und Wandel nicht in Frage gestellt werden kann, mit freudigem Herzen aufzunehmen. Ich meine damit nicht einfach alle, die sagen, sie glaubten an die Lehre der Rechtfertigung aus Glauben; mit dieser Lehre und ihrer Predigt wird viel Böses verknüpft. Doch sind diese Worte des Herrn Jesus eine bindende Vorschrift, und wir sind dafür verantwortlich, danach zu handeln. Wenn wir bekennen, in seinem Namen versammelt zu sein, dann sollte bei uns eine klare und beständige Darstellung unseres Platzes und unsere Vorrechte gefunden werden. Unser gemeinschaftliches Handeln sollte ebenso klar und unzweideutig für die Wahrheit sein wie unser persönlicher Wandel – nämlich dass wir Christus haben und hoch schätzen –, dass wir, weil wir Ihn haben, auch verpflichtet sind, Sünden zu vergeben, oder, wenn da etwas mit Christus Unvereinbares ist, sie nicht zu vergeben. Den Anspruch, das eine oder andere in einer Art Mittlerfunktion zwischen Gott und Menschen zu tun, weisen wir ab. Nie hat die wahre Kirche ein solches Recht für sich beansprucht und nie haben die Apostel danach getrachtet. Der Herr Jesus hat seine Jünger aber klar dazu berufen, sowohl Sünden zu vergeben als auch sie zu behalten. Wir haben gesehen, wie dies auch in den Versammlungen der ersten Christen ausgeführt wurde, nicht in Betreff des ewigen Verhältnisses zwischen Gott und der Seele, sondern verwaltungsmäßig als ein Dienst für den Herrn, indem man die Echten aufnahm und die Falschen abwies, indem man vor Menschen ausschloss oder wiederherstellte.


Aus dem Buch Die Lehre des Neuen Testamentes über den Heiligen Geist, 
Neustadt/Weinstr. (Ernst Paulus) 1975, S. 117–153

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