Der Brief des Paulus an die Römer (11)
Kapitel 11

Stanley Bruce Anstey

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Das Straucheln Israels (Röm 11)

Der Weg zum Segen für die Heiden wird geebnet – Die Ablehnung der Gnade durch die Heiden – Der Weg zur Wiederherstellung Israels wird vorbereitet

Israels zukünftige Annahme

Drei Beweise dafür, dass Gott sein Volk nicht für immer verstoßen hat

In diesem Kapitel zeigt Paulus, dass Gott sich erneut mit Israel befassen und es segnen wird. Er beginnt mit der Frage: „Ich sage nun: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das sei ferne!“ Stimmt der Vorwurf der Juden, dass das Evangelium, das Paulus predigt, die Verheißungen Gottes an Israel missachtet? Paulus antwortet hierauf mit einem klaren Nein! Zwar heißt es in der Heiligen Schrift, dass Gott sein Volk „verstoßen“ würde, weil es den Messias nicht angenommen hat (Dan 9,24-27; Mich 5,1-3; Jes 61,1-3; Ps 69,23-37; Jer 31,37-40; Sach 11,1–13,6; usw.), aber nirgends steht in der Schrift, dass die Verwerfung vollständig oder endgültig sein wird. Paulus führt nun drei Beweise an, die zeigen, dass Gott sein Volk nicht völlig verworfen hat.

Gegenwärtig gibt es einen Rest der Nation, der an das Evangelium glaubt und gesegnet wird

Verse 1-6

Röm 11,1-6: 1 Ich sage nun: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn auch ich bin ein Israelit aus dem Geschlecht Abrahams, vom Stamm Benjamin. 2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erkannt hat. Oder wisst ihr nicht, was die Schrift in der Geschichte Elias sagt? Wie er vor Gott auftritt gegen Israel: 3 „Herr, sie haben deine Propheten getötet, deine Altäre niedergerissen, und ich allein bin übrig geblieben, und sie trachten mir nach dem Leben.“ 4 Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? „Ich habe mir übrig bleiben lassen siebentausend Mann, die ihre Knie nicht vor dem Baal gebeugt haben.“ 5 So besteht nun auch in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Auswahl der Gnade. 6 Wenn aber durch Gnade, so nicht mehr aus Werken; sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade.

Der erste Beweis dafür, dass Gott sein Volk (Israel) nicht völlig verstoßen hat, ist die Tatsache, dass es gegenwärtig „einen Überrest“ von Juden gibt, die an das Evangelium der Gnade Gottes glauben. Paulus ist in der Tat ein Beispiel dafür. Er sagt: „Denn auch ich bin ein Israelit aus dem Geschlecht Abrahams, vom Stamm Benjamin.“ Auch wenn die Masse des Volkes durch den Unglauben verblendet ist, gibt es doch einen Überrest von Auserwählten, die geglaubt haben und die Gott für sich selbst beiseitegestellt hat, so wie es in den Tagen Elias war. Dieser Überrest nach „Auswahl der Gnade“ sind die Erstlinge des Volkes und ein Unterpfand für die endgültige Wiederherstellung Israels an einem kommenden Tag (Eph 1,12). Das zeigt, dass Gott, wenn die Menschen in ihrer Verantwortung versagen, seine Souveränität aufrechterhält und einen Überrest von Gläubigen sichert. Er wird nicht zulassen, dass seine Segensabsichten vereitelt werden (Hiob 42,2; Jes 46,10). Die Erwählung der gläubigen Juden in der heutigen Zeit ist also vollständig ein Werk souveräner Gnade.

Verse 7-10

Röm 11,7-10: 7 Was nun? Was Israel sucht, das hat es nicht erlangt; aber die Auserwählten haben es erlangt, die Übrigen aber sind verhärtet worden, 8 wie geschrieben steht: „Gott hat ihnen einen Geist der Betäubung gegeben, Augen, dass sie nicht sehen, und Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag.“ 9 Und David sagt: „Ihr Tisch werde ihnen zur Schlinge und zum Fangnetz und zum Anstoß und zur Vergeltung! 10 Verfinstert seien ihre Augen, dass sie nicht sehen, und ihren Rücken beuge allezeit!“

Während der auserwählte Überrest des Volkes zum Segen gekommen ist, wurde die Masse gerichtlich „verfinstert“. Diese Verblendung sollte die Juden nicht überraschen, denn in ihren eigenen Schriften steht, dass dies geschehen würde! Paulus zitiert Jesaja: „Gott hat ihnen einen Geist der Betäubung gegeben, Augen, dass sie nicht sehen, und Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag“ (vgl. Jes 29,10). Er zitiert auch David, der prophetisch das Gebet der Verwerfung des Messias am Kreuz aussprach, als er vom Volk zurückgewiesen wurde: „Ihr Tisch werde ihnen zur Schlinge und zum Fangnetz und zum Anstoß und zur Vergeltung! Verfinstert seien ihre Augen, dass sie nicht sehen, und ihren Rücken beuge allezeit!“ (vgl. Ps 69,23-24; siehe auch Jes 6,9.10; Joh 12,39-41; 2Kor 3,14.15). Diese Verblendung ist also ein Gericht der Regierungswege Gottes über die Nation als Ganzes, aber Einzelne unter ihnen können trotzdem im Glauben zu Christus kommen und gesegnet werden.

Mit der Berufung der Heiden provoziert Gott die Juden zur Eifersucht – und das beweist, dass Er mit Israel noch nicht fertig ist (Röm 11,11-25)

Verse 11.12

Röm 11,11.12: 11 Ich sage nun: Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie fallen sollten? Das sei ferne! Sondern durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu reizen. 12 Wenn aber ihr Fall der Reichtum der Welt ist und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wie viel mehr ihre Vollzahl! 

Der zweite Beweis, dass Gott mit Israel noch nicht fertig ist, zeigt sich darin, dass Er die Heiden beruft, um Israel zur Eifersucht zu reizen. Paulus sagt: „Ich sage nun: Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie fallen sollten? Das sei ferne! Sondern durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu reizen.“ Die Tatsache, dass Gott Israel aufrütteln möchte, um sie zur Eifersucht zu reizen, damit sie sich Ihm wieder zuwenden, zeigt, dass Er noch nicht mit ihnen fertig ist. Paulus stimmt zu, dass Israel „gestrauchelt“ ist, aber er besteht darauf, dass sie nicht gefallen sind in dem Sinne, dass es für sie vorbei ist. Wenn man den Vers so liest, wie er in der englischen King-James-Bibel steht, könnte das verwirrend sein, denn nachdem er gesagt hat, dass sie nicht gefallen sind, fährt er fort und sagt, dass sie gefallen sind! Dieses Rätsel lässt sich leicht lösen, wenn man versteht, dass die zweite Verwendung des Wortes „fallen bzw. Fall“ im elften Vers im Griechischen eigentlich ein anderes Wort ist, das mit „Fehltritt“ übersetzt werden sollte. „Fallen“ in dem Sinne, wie Paulus hier davon spricht, ist etwas Endgültiges, „das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann“ (NASB); „Fehltritt“ hingegen hat nicht diese Bedeutung. Dies kommt in Vers 12 wieder vor. Israel ist also gestolpert und hat übertreten, aber es ist nicht herausgefallen aus Gottes Absicht, es zu segnen.

Paulus sagt, dass Israels „Fall“ den Weg für die Heiden zu großem „Reichtum“ geebnet hat. Der „Reichtum der Nationen“ bezieht sich auf die Gunst, die Gott den Heiden im Evangelium erwiesen hat, ohne zu berücksichtigen, ob sie daran geglaubt haben oder nicht. Mit anderen Worten: Israels „Verlust“ ist ein Gewinn für die Heiden. Dies ist ein Prinzip in Gottes Wegen, das an vielen Stellen in der Schrift zu finden ist (Jes 49,4-6; Apg 13,46-48; 18,5.6; 28,24-28; Röm 1,16). Er fügt hinzu: „Wie viel mehr ihre Vollzahl!“ Das heißt, wenn das Versagen Israels dazu geführt hat, dass der Segen an diesem Tag der Gnade auf die Heiden übergegangen ist, wie viel mehr wird das dann der Fall sein, wenn Gott Israel wiederherstellt! Heute ist der Segen durch das Evangelium in begrenzter Weise in die Welt hinausgegangen, aber dann wird es eine weltweite Bekehrung der Heiden geben (Ps 22,28; 47,10; Jes 2,2.3; Sach 2,15; Off 7,9; usw.). Das erlöste Israel wird an jenem Tag Gottes Segenskanal für die Nationen sein (Jes 60–61 usw.).

Verse 13.14

Röm 11,13.14: 13 Euch aber, den Nationen, sage ich: Insofern ich nun der Apostel der Nationen bin, ehre ich meinen Dienst, 14 ob ich auf irgendeine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und einige von ihnen erretten möge. 

Paulus fühlte sich den Heiden gegenüber verantwortlich, und von Römer 11,13 bis 32 wendet er sich direkt an sie. Bei der Auslegung dieses Kapitels ist es wichtig, zu verstehen, dass Paulus nicht unbedingt von den Heiden als Gläubigen spricht, sondern von den Heiden im Allgemeinen. Er will damit sagen, dass sie das unglaubliche Privileg hatten, dass das Evangelium auf sie ausgeweitet wurde. Wir betonen dies, weil er später im Kapitel von der Möglichkeit spricht, dass diese Heiden „ausgeschnitten“ (Röm 11,22) werden könnten. Wahre Gläubige werden, wie wir wissen, in die Gemeinde aufgenommen, und solche werden niemals ausgeschnitten. Das christliche Bekenntnis insgesamt wird jedoch von Gott gerichtet und „ausgespien“ werden (Off 3,16), weil es nicht in der Güte Gottes geblieben ist. Paulus wollte seinen „Dienst“ ehren, indem er den Heiden predigte, wo immer er konnte, weil er dadurch einige seiner Landsleute zur „Eifersucht“ anregen konnte, und sie würden zum Heil ihrer Seelen glauben (Röm 11,14).

Vers 15

Röm 11,15: Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annahme anderes sein als Leben aus den Toten? 

Genauso sicher, wie es eine „Verwerfung“ Israels gegeben hat, wird es auch eine „Annahme“ an einem kommenden Tag geben. Die Versöhnung ist hier nicht dasselbe wie in Römer 5,10.11, wo alles lebenswichtig und ewig ist. Hier ist sie dispensational, das heißt, sie ist eine vorläufige Sache gegenüber den Heiden in der gegenwärtigen Zeit. Die heidnische Welt ist also Gott nahegebracht worden (in allgemeiner Nähe), aber das ist nur äußerlich. Er sagt, dass Israels Annahme wie „Leben aus den Toten“ sein wird. Dies bezieht sich nicht auf die buchstäbliche Auferstehung menschlicher Körper (1Thes 4,16) und auch nicht auf die nationale Auferstehung Israels (Jes 26,19; Hes 37,1-14; Dan 12,1-3), sondern auf das, was die heidnische Welt als Folge der Wiederherstellung Israels zum Herrn erleben wird.

William Kelly kommentiert:

Was auch immer die göttliche Barmherzigkeit in der Versöhnung der Welt sein mag, die wir jetzt kennen, während das Evangelium zu jeder Kreatur hinausgeht, eine ganz andere Seligkeit erwartet die ganze Welt als „Leben aus den Toten“, wenn ganz Israel wieder aufgenommen und gerettet wird … Wird es nicht für alle auf der Erde sein wie „Leben aus den Toten“?[1]

Vers 16

Röm 11,16: Wenn aber der Erstling heilig ist, so auch die Masse {Teig}; und wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige. 

Paulus verwendet zwei Bilder, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen:

  • Teig [Erstlingsfrucht]
  • Olivenbaum

Erstens sagt er in Bezug auf den Teig: „Wenn aber der Erstling heilig ist, so auch die Masse {Teig}.“ Der „Erstling“ ist der Überrest der jüdischen Gläubigen in der Gegenwart, die an das Evangelium geglaubt haben. Sie haben Christus „zuvor“ vertraut und sind die Erstlinge des Volkes, das in der Zukunft gerettet werden wird (vgl. Röm 11,5; Eph 1,12). Wenn also der Erstling durch Gottes Gnade heilig ist, wird auch „die Masse“ heilig sein. Die Masse [Teig] ist das Volk an einem kommenden Tag, wenn es an Christus glaubt (Röm 11,26). Paulus will damit sagen, dass die wenigen jüdischen Gläubigen heute – „ein Überrest nach Auswahl der Gnade“ (Röm 11,5) – in Wirklichkeit ein Unterpfand oder eine Garantie dafür sind, dass der Überrest wahre Israeliten sind, die gerettet werden. Die Existenz des Überrestes in der heutigen Zeit (der Erstling) ist ein Beweis dafür, dass die Nation (der Teig; die Masse) in der Zukunft gerettet werden wird. Daran erkennen wir, dass Gott Israel nicht aufgegeben hat; es ist ein Segen für die Nation [Israel] vorgesehen.

Paulus geht dann zu dem anderen Bild über, dem „Ölbaum“ (Röm 11,16b-32). Er sagt: „Wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige.“ Die „Wurzel“ ist eine Anspielung auf Abraham, den Vater des Volkes, der an einem „heiligen“ Ort mit Gott verbunden war (Jes 51,2). Paulus will damit sagen, dass, wenn die Wurzel (Abraham) sich an einem äußeren Ort des Segens befindet, dies auch für „die Zweige“ (Abrahams Nachkommen) gilt. Zweige zu sein bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass alle Nachkommen Abrahams aus Gott geboren sind. Sie befanden sich an einem Ort relativer (äußerlicher) Heiligung. So wie Paulus von der Versöhnung spricht (Röm 11,15), so spricht er auch von der Heiligung (Röm 11,16) – beides ist etwas Relatives (Äußerliches), nicht etwas Entscheidendes und Absolutes.

Drei Aspekte der Heiligung

Es gibt drei Aspekte der Heiligung (Heiligkeit) in der Heiligen Schrift, die wir nicht verwechseln dürfen:

  • Es gibt die absolute oder stellungsmäßige Heiligung, wie in Apostelgeschichte 26,18; 1. Korinther 1,2.30; 6,11; 2. Thessalonicher 2,13; Hebräer 10,10.14 und 1. Petrus 1,2. Dies hat damit zu tun, dass die Gläubigen durch Wiedergeburt und Errettung für Gott abgesondert werden.
  • Es gibt eine fortschreitende oder praktische Heiligung, wie in Johannes 17,17-19; Römer 6,19-22; 2. Korinther 7,1; Epheser 5,26-27; 1. Thessalonicher 4,4-7; 5,23; Hebräer 12,14. Dies hat damit zu tun, dass die Gläubigen die Heiligkeit in ihrem Leben vervollkommnen.
  • Es gibt eine relative Heiligung, die damit zu tun hat, dass eine Person äußerlich mit etwas Heiligem in Verbindung gebracht wird.

Die relative (äußerliche) Heiligung findet sich auch in 1. Korinther 7,14, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang. In diesem Fall wird ein ungläubiger Ehemann als „heilig“ bezeichnet, weil er mit seiner gläubigen Frau zusammenlebt. Das bedeutet nicht, dass er gerettet ist, sondern dass er sich an einem heiligen Ort des Vorrechtes befindet. Die relative Heiligung kommt auch in Hebräer 10,29 vor, aber wieder in einem anderen Zusammenhang. Die Juden, die sich zum Glauben an Christus bekannten und eine christliche Haltung einnahmen, befanden sich an einem geheiligten Ort, aber das bedeutet nicht, dass sie gerettet waren. Der Schreiber des Hebräerbriefs warnt sie, dass sie sich als Abgefallene erweisen würden, wenn sie diese christliche Haltung aufgäben, und dass es für sie nichts als Gericht geben würde (Heb 10,30.31). Was Paulus hier in Römer 11,16 meint: Wenn die „Wurzel“ des Volkes (Abraham) an einem heiligen Ort des Vorrechts in Bezug auf Gott steht, dann stehen auch die „Zweige“ (Abrahams Nachkommen, das Volk Israel) an diesem Ort (5Mo 7,6; 14,2; 1Kön 8,53; Amos 3,3). Er spricht nicht von dem, was durch die Neugeburt entscheidend ist, sondern davon, dass sie durch ihre Verbindung mit Abraham einen Platz der Gunst und des Vorrechts haben.

Der Olivenbaum

Verse 17-22

Röm 11,17-22: 17 Wenn aber einige der Zweige ausgebrochen worden sind, du aber, der du ein wilder Ölbaum warst, unter sie eingepfropft und der Wurzel [und] der Fettigkeit des Ölbaums teilhaftig geworden bist, 18 so rühme dich nicht gegen die Zweige. Wenn du dich aber gegen sie rühmst – du trägst nicht die Wurzel, sondern die Wurzel dich. 19 Du wirst nun sagen: Die Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich eingepfropft würde. 20 Recht; sie sind ausgebrochen worden durch den Unglauben; du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich; 21 denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht verschont hat – dass er auch dich etwa nicht verschonen werde. 22 Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes: gegen die, die gefallen sind, Strenge; gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausgeschnitten werden. 

Das Bild des „Ölbaums“ zeigt, dass sich Gottes Missfallen in seiner Regierung gegen Israel (wegen seines Unglaubens) gewendet hat, so dass es von seinem Platz der Gunst und des Vorrechts weggenommen und den Nationen zugewiesen wurde. Das bedeutet nicht, dass die Segnungen Israels geistlich auf die Kirche übertragen wurden – ein Irrtum der reformierten (Bundes-/Ersatz-)Theologie. Der Abschnitt bezieht sich auf Israels Vorrecht, an einem Ort äußerer Verbindung mit Gott zu sein, nicht auf Israels Segnungen, die der Kirche gegeben werden.

Israel hatte einst diesen privilegierten Platz eingenommen, so wie die natürlichen Zweige des Ölbaums mit der „Wurzel“ verbunden waren. Aber durch ihren Ungehorsam und schließlich ihre Ablehnung Christi wurden diese „Zweige“ „ausgebrochen“, und Zweige von einem „wilden Ölbaum“ (den Nationen) wurden „eingepfropft“. Die wilden Olivenzweige beziehen sich auf die Christen (die größtenteils aus den Nationen bestehen: Apg 15,14; 28,28). Die Zweige in diesem Abschnitt beziehen sich nicht auf Gläubige, sondern eher auf Personen (einige wirklich, andere nicht), die sich an einem Ort äußerer Gunst bei Gott befinden. Die wilden Ölzweige stehen also nicht für die Kirche, sondern für diejenigen, die sich an diesem Tag der Gnade zum Glauben an Christus bekennen. (Wenn es sich bei den Zweigen um wahre Gläubige handeln würde, dann würde dies lehren, dass es für einen Gläubigen möglich ist, seine Errettung zu verlieren, denn in Vers 22 heißt es, dass sie „ausgeschnitten“ werden, wenn sie nicht in der Güte Gottes bleiben. Die Schrift lehrt, dass dies unmöglich ist: Gläubige sind auf ewig sicher; siehe Johannes 10,27.28; usw.).

Die Tatsache, dass der Abschnitt an die geschrieben ist, die die wilden Olivenzweige darstellen, zeigt, dass Israel zur Zeit, als Paulus diesen Brief schrieb, als bereits von den Wegen Gottes abgeschnitten angesehen wurde. Beachte auch, dass er sagt, dass „einige“ der natürlichen Zweige ausgebrochen sind; er sagt nicht, dass alle abgeschnitten wären, denn es gibt einen Überrest von Juden, die an das Evangelium geglaubt haben (Röm 11,5). Die „ausgepfropften natürlichen Zweige“ beziehen sich auf die Nation Israel, die im Handeln Gottes auf nationaler Ebene beiseitegestellt ist. Micha 5,2 bezeugt dies. Er erklärt, dass der Messias von den Juden verworfen wurde und sie „hingeben“ wird, bis eine Zeit der Wehen über sie kommt, was sich auf die große Trübsal bezieht (vgl. Micha 5,2). Die wilden Ölzweige, die eingepfropft wurden, werden gewarnt, dass auch sie „ausgeschnitten“ werden, wenn sie nicht „an der Güte bleiben“ (Röm 11,22). Dies bezieht sich darauf, dass das Vorrecht, das der Christenheit gegenwärtig zuteilwird, durch das Gericht weggenommen wird (Off 3,16). Offenbarung 2 bis 3 ist ein Beweis dafür, dass die Christenheit nicht in der Güte Gottes verharrt hat und das Gericht erwartet. Von einer Wiederherstellung der Christenheit ist in der Heiligen Schrift nicht die Rede.

Verse 23.24

Röm 11,23.24: 23 Auch jene aber, wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott vermag sie wieder einzupfropfen. 24 Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum ausgeschnitten und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden! 

Paulus spricht dann von der Möglichkeit und der Unvermeidlichkeit, dass die „natürlichen Zweige“ wieder eingepfropft werden. Dies bezieht sich offensichtlich darauf, dass Gott Israel wieder aufnimmt, und zwar in einer nationalen Weise. Die Bedingung lautet einfach: „wenn sie nicht im Unglauben bleiben“, das heißt, wenn sie ihren hartnäckigen Unglauben aufgeben – was ein Überrest des Volkes eines kommenden Tages tun wird.

Das Geheimnis von Israels Blindheit – eine vorübergehende Angelegenheit

Vers 25

Röm 11,25: Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: dass Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist; …

Paulus wollte nicht, dass den Brüdern das „Geheimnis“ der Blindheit Israels „unbekannt sei“. Es ist durchaus möglich, dass wir uns im Stolz erheben („euch selbst für klug haltet“) und meinen, wir wären besser als Israel. Israel ist nur eine teilweise „Verhärtung“ widerfahren, weil ein Überrest an das Evangelium glaubt. Und diese Verhärtung wird nur andauern, „bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist“. Dies bezieht sich auf die vollständige Zahl der Auserwählten, die an das heute verkündete Evangelium glauben werden. Dann wird der Herr die Gemeinde bei der Entrückung in den Himmel holen (Joh 14,2.3; 1Thes 4,15-18). Danach wird der Herr Israel wieder annehmen und die Juden werden dann in die „Zeit der Drangsal für Jakob“ (Jer 30,7) eintreten. Diese Zeit wird auch die „Zeit, da eine Gebärende geboren hat“ (Mich 5,2) und die „große Drangsal“ (Mt 24,21) genannt. Durch den intensiven Druck dieser Prüfung wird sich ein Überrest gottesfürchtiger Juden in Buße über ihre nationale Sünde, Ihn gekreuzigt zu haben, „zum Herrn bekehren“ (2Kor 3,16a). Siehe auch Jesaja 53. Sofort wird „die Decke“, die sich über ihre Augen und Herzen gelegt hat, „weggenommen werden“ (2Kor 3,16b). „Sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen“ (Sach 12,10), und dann wird der Herr eine „Quelle“ (im übertragenen Sinn) zur Reinigung von ihren Sünden öffnen, woraufhin sie zu Ihm zurückkehren werden (Sach 13,1). „An jenem Tag werden die Tauben die Worte des Buches hören, und aus Dunkel und Finsternis hervor werden die Augen der Blinden sehen. … Und die Augen der Sehenden werden nicht mehr verklebt sein, und die Ohren der Hörenden werden aufmerksam zuhören“ (Jes 29,18; 32,3).

Die Heilige Schrift sagt, dass der Herr aus Zion kommen und Israel erretten wird (Röm 11,26-32)

Verse 26.27

Röm 11,26.27:  … 26 und so wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: „Aus Zion wird der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; 27 und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“

Dies bringt Paulus zu einem dritten Beweis dafür, dass Gott mit Israel noch nicht fertig ist – das Wort Gottes (insbesondere die alttestamentlichen Propheten) sagt ganz klar, dass der Herr „ganz Israel“ erretten wird. Da dies eindeutig noch nicht geschehen ist, handelt es sich um eine Verheißung, die erst noch erfüllt werden muss. Wenn Gott mit seinem Wort verheißen hat, dass Er dies tun wird, kann Er sein Wort nicht rückgängig machen. Wenn Er sein Wort brechen würde, hätte Er mehr zu verlieren als Israel! Er würde seine Ehre und seinen Ruf verlieren und sich als ein Gott erweisen, dem man nicht trauen könnte! Da Er sich selbst nicht verleugnen kann und will, wird sein Wort Bestand haben. „Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge, noch ein Menschensohn, dass er bereue. Sollte er sprechen und es nicht tun, und reden und es nicht aufrechterhalten?“ (4Mo 23,19).

Wenn Gott sagt, dass „ganz Israel errettet werden“ wird, dann wissen wir aus dem, was Paulus uns bereits in Römer 9,6-8 gelehrt hat, dass sich dies auf alle wahren Israeliten bezieht, das heißt auf diejenigen, die nicht nur Abrahams Blutlinie, sondern auch Abrahams Glauben haben. Der Aspekt der Errettung ist hier nicht nur ein seelischer, sondern auch ein buchstäblicher – sie werden von ihren Feinden gerettet und als Nation in Christi zukünftigem Tausendjährigen Reich etabliert (Röm 11,26.27). Paulus zitiert Jesaja 59,20.21 als Beispiel für eine Prophezeiung, die im Zusammenhang mit Israels nationalem Segen noch erfüllt werden muss.

Verse 28.29

Röm 11,28.29: 28 Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen. 29 Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar.

Paulus wendet sich immer noch an die Heiden und zeigt, dass Gott sowohl Israel als auch die Nationen segnet, aber auf zwei verschiedene Arten und zu zwei verschiedenen Zeiten. Er sagt: „Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen.“ Die Heiden können Gott dafür danken, dass Israel gestrauchelt ist, denn das hat ihnen die Tür geöffnet. Aber das bedeutet nicht, dass für Israel alles vorbei ist. Paulus ergänzt, dass die Israeliten „hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte sind, um der Väter willen“, und eines Tages in der Zukunft werden sie gesegnet werden. Er versichert uns dies, indem er sagt, dass „die Gnadengaben und die Berufung Gottes“ in Bezug auf Israel „unbereubar“ sind. Das heißt, Gott wird nicht bereuen (seine Meinung ändern), was Er Israel versprochen hat. Daher sind die Verheißungen, die den Vätern gegeben wurden, und die Prophezeiungen ihrer Propheten über Israels Segen sicher.

Verse 30-32

Röm 11,30-32: 30 Denn wie ihr einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen seid durch deren Unglauben, 31 so haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt, damit auch sie unter die Begnadigung kommen. 32 Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, um alle zu begnadigen.

Paulus schließt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass es bei Gottes Segen für den Menschen, ob für Juden oder für Heiden, auf seine souveräne Güte und Barmherzigkeit ankommt. Während die Heiden „jetzt Barmherzigkeit erlangt haben“ durch Israels „Unglauben“, „können auch sie (Israel) in der Zukunft Barmherzigkeit erlangen“ auf die gleiche Weise. So hat „Gott alle im Unglauben verschlossen, damit er sich aller erbarme“. Das Evangelium, das Paulus predigte, stand also in keiner Weise im Widerspruch zu den Verheißungen Gottes an Israel.

Drei Ausdrücke, die in der Heiligen Schrift im Zusammenhang mit den Heiden verwendet werden

  • „Die Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24)
    Dies bezieht sich auf den Zeitraum, als „der Thron des HERRN“, der seine Regierungsgewalt bezeichnet (1Chr 29,23), aufgrund des Versagens Israels (2Chr 36,14-21) auf die Heiden übertragen wurde (Dan 2,37; 5,18.19). Diese Zeitspanne begann 606 v.Chr. und wird mit der Erscheinung Christi enden (Lk 21,24-28). Die Herrschaft auf der Erde ging in dieser Zeit durch vier aufeinanderfolgende heidnische Reiche – die Babylonier, die Meder und Perser, die Griechen und die Römer. Während der römischen Herrschaft führte Gott eine himmlische Berufung der Kirche durch das Evangelium ein als einen Einschub in seinen Wegen mit der Erde, nach der „der Thron des Herrn“ dem erlösten Israel wieder gegeben und in Jerusalem errichtet wird, wenn Christus als König über die ganze Erde regieren wird (Jer 3,17; Dan 2,35.44; Sach 14,9; Ps 47,8).
  • „Die Vollzahl der Nationen“ (Röm 11,25)
    Dies bezieht sich auf die vollständige Zahl der Auserwählten, die an das Evangelium der Gnade Gottes glauben werden, das heute unter den Nationen verbreitet wird.

  • Der Reichtum der Nationen“ (Röm 11,12)
    Dies bezieht sich auf die besondere Gunst, die Gott den Heiden erwiesen hat, indem Er ihnen die Möglichkeit gab, das Evangelium zu hören.

Die Doxologie des Paulus

Verse 33-36

Röm 11,33-36: 33 O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! 34 Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? 35 Oder wer hat ihm zuvor gegeben, und es wird ihm vergolten werden? 36 Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

An diesem Punkt hat Paulus den Gipfel der Wahrheit in dem Brief erreicht. Wie ein Bergsteiger, der den Gipfel des Berges, den er erklommen hat, erreicht hat und sich umdreht, um zu sehen, wie weit er gekommen ist, blickt Paulus auf den Weg der Barmherzigkeit und Gnade zurück, den er in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt hat, und bricht spontan in ein Loblied auf Gott für seine Weisheit und seine Wege aus. Nichts könnte zu einer solchen Geschichte der Gnade passender sein! Sie zeigt, was die Reaktion eines jeden Christen sein sollte.

In dieser Doxologie sehen wir, dass das Herz des Apostels voll des Lobes und der Bewunderung für Gottes großen Plan ist, sowohl Juden als auch Heiden zu retten und zu segnen. Sieben große Eigenschaften Gottes werden erwähnt: der „Reichtum“, die „Weisheit“, die „Erkenntnis“, die „Gerichte“, die „Wege“, der „Verstand [Sinn]“ und der „Ratschluss [wer ist sein Mitberater]“ Gottes. All diese Dinge wirken zusammen, um unseren Segen in einer Weise zu sichern, der über allen Verstand hinausgeht.

Paulus endet damit, dass er anerkennt, dass alles Gute und der Segen ihren Ursprung in Gott selbst haben; es ist alles „von ihm“. Alles, was Er zum Segen des Menschen wirkt, geschieht „durch ihn“ und wird schließlich „zu ihm“ zurückkehren, zu seiner eigenen Ehre. Das zeigt, dass Gott die Quelle alles Guten, das Mittel alles Guten und das Ziel alles Guten ist. Alles ist dazu bestimmt, Ihm „Ehre“ zu bringen, und wird Ihm am Tag der Offenbarung Christi Ehre bringen. Zu Recht schließt Paulus die Doxologie mit einem herzlichen „Amen“ („So sei es“) ab.

Drei große paulinische Doxologien

  • Lobpreisung der Weisheit Gottes (Röm 11,33-36)
  • Doxologie für die Liebe Gottes (Eph 3,20.21)
  • Doxologie über die Gnade Gottes (1Tim 1,17)

Originaltitel: „The Stumbling of Israel – Opening the Way for blessing to go out to the Gentiles, and the Gentile’s Rejection of Grace – Preparing the Way for Israel’s Restoration: Romans 11“
aus Outline of the Epistle to the Romans: God’s Righteousness declared in the Gospel
Quelle: www.bibletruthpublishers.com

Übersetzung: Stephan Isenberg

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Anmerkungen

[1] W. Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 224.

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