Grundsätze prophetischer Auslegung

Dirk Schürmann

© SoundWords, online seit: 02.07.2005, aktualisiert: 02.11.2023

Anmerkung der Redaktion
Diese Grundsätze gehen zurück auf Artikel über das Wesen der Prophetie von W. Kelly und J.N. Darby. Es werden hier nur die Grundsätze selbst dargestellt und in Ansätzen nur knappe Begründungen geliefert.

Einleitung

W.J. Ouweneel schreibt zu den Grundsätzen:

Jede exegetische Vorgehensweise erweckt notwendigerweise diesen Eindruck. Schriftauslegung ist nicht Sache einer Art eiserner Logik, sondern so weit wie möglich ein Hören auf die Schrift selbst, ein Schrift-mit-Schrift-Vergleichen und so zu einer Auslegung kommen, die so gut wie möglich allen Schriftstellen gerecht wird. … Wer einmal den „Schlüssel“ zur richtigen Schriftauslegung in der Schrift selbst entdeckt hat, wird erfahren, dass mit diesem guten „Schlüssel“ das „Schloss“ jeder Tür, die den Zugang zu einem bestimmten exegetischen Problem gibt, leicht öffnet. Wer außerdem eine „Tür“ leicht geöffnet hat, wird entdecken, dass andere „Türen“ umso leichter zu öffnen sind. Aber wer mit dem verkehrten „Schlüssel“ arbeitet (z.B. mit einem posttribulationistischen oder achiliastischen Schlüssel), wird jedes „Schloss“ nur mit Mühe und viel Knarren aufbekommen. Außerdem wird jede „Tür“ noch mühsamer zu öffnen sein als die vorige. Noch einmal: Wer einen „logischen Beweis“ für eine bestimmte Auslegung erwartet, wird immer enttäuscht sein. Aber wer die Schrift offen, ehrlich und so vorurteilslos wie möglich untersucht und verschiedene exegetische Vorgehensweisen miteinander vergleicht, wird unseres Erachtens sicher entdecken, mit welchem „Schlüssel“ die vielen „Türen“ in diesem Buch am leichtesten geöffnet werden können.[1]

1. Kein Widerspruch

Die Auslegung einer Prophezeiung darf klaren Aussagen anderer Schriftstellen nicht widersprechen, denn „das Wort Gottes ist geläutert“ und „dein Wort ist Wahrheit“ (Ps 18,31; Joh 17,17).

2. Der Gegenstand der Prophetie

Der Gegenstand der Prophetie ist die Erde:

  1. Es geht bei der Prophetie darum, wie Gott die Erde regiert.
  2. Prophezeiung kommt nicht dann, wenn es im Volk Gottes gut geht, sondern wenn es Versagen gibt.
  3. Wenn auch der Himmel beschrieben wird, dann geht es einzig darum, dass gezeigt wird, wie der Himmel oder seine Bewohner mit der Regierung der Erde verbunden sind.

3. Die Wirksamkeit der Prophezeiungen

Prophezeiungen können zu unterschiedlichen Zeiten wirksam sein:

  1. Prophezeiungen können einen doppelten/mehrfachen Boden haben, indem die Prophezeiung zu verschiedenen Zeitpunkten wirksam wird.
  2. Teile einer einzigen Prophezeiung können sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfüllen; so zitiert der Herr manchmal nur Teile einer Prophezeiung, weil andere Teile noch nicht erfüllt sind/waren.

4. Anwendungen auf heute sind möglich

In der Prophetie zeigen sich in dem Handeln Gottes auch allgemeingültige Grundsätze, die dann selbstverständlich auch auf den Christen zutreffen. Daher sind Anwendungen der prophetischen Aussage auf den Christen heute oft möglich und sinnvoll.

5. Drei Varianten prophetischer Aussagen

Prophetische Aussagen können in drei Variationen vorkommen: wörtlich, bildlich (z.B. „Pflüger haben auf meinem Rücken gepflügt“) und symbolisch.

  • Der Gegenstand einer prophetischen Aussage wird nie in bildlicher Form beschrieben.
  • In einer prophetischen Aussage kann alles symbolisch sein. Ein Symbol ist allerdings etwas anderes als bildliche Sprache. Ein Symbol ist ein markantes Ganzes, zusammengesetzt aus Eigenschaften und Merkmalen, die die Sache selbst moralisch (und vielleicht auch historisch) beschreiben. Das Symbol zeigt uns Gottes Sicht der dargestellten Sache in moralischer Hinsicht.
  • Bildliche und wörtliche Aussagen können gemischt vorkommen.
  • Auch können symbolische Darstellungen bildliche Elemente enthalten.

Letztlich ist die Entscheidung oft nur durch den Heiligen Geist möglich: „Der geistliche [Mensch] aber beurteilt alles“ (1Kor 2,15).

6. Die Vorsehung

Vorsehung ist kein Gegenstand der Prophetie. Vorsehung Gottes ist die (An-)Ordnung aller Dinge durch Gottes Macht und Weisheit, so dass sie zu seinem Ziel hinführen. Es geht bei der prophetischen Aussage nicht um moralische Grundsätze (wie säen und ernten), sondern um Gottes direktes Eingreifen. Und das in zweierlei Hinsicht:

  1. Gottes Gericht über das Böse
  2. Gottes letztendlicher Segen für sein Volk

Es werden die Ereignisse auf der Erde beschrieben, die zu den Zielen Gottes führen!

7. Die Kirche ist nicht Gegenstand der Prophezeiung

  1. Ihrem Wesen nach ist die Kirche das Geheimnis; von dem Geheimnis heißt es deutlich, dass es im Alten Testament nicht offenbart war.

  2. Die Kirche ist Verwahrstelle der Prophezeiung anstatt ihr Gegenstand.

  3. Allerdings gibt es einen auf der Erde mit der Kirche verbundenen Zustand der (Namens-)Christenheit. Dieser wird auf der Erde gerichtet und ist deswegen sehr wohl Gegenstand der Prophezeiung.

  4. Christus selbst als in Gott verborgen ist nicht Gegenstand der Prophetie. Die Kirche ist vereint mit Christus im Himmel und daher ebenfalls nicht Gegenstand der Prophetie. Scheinbare Ausnahmen:

    • Die Kirche in Offenbarung 21:
      Wenn die Kirche dort in der Prophezeiung auftaucht, dann ist es nur in Verbindung mit der neuen Erde oder in Verbindung mit der Erde im Tausendjährigen Reich. Zudem werden keine Ereignisse beschrieben, sondern nur ein Zustand geschildert.

    • Die Sendschreiben (Off 2–3):
      Wenn die Geschichte der Kirche auf der Erde beschrieben wird, werden sieben existierende Versammlungen ausgewählt und angesprochen. Das, was zu sagen ist, wird aber nicht direkt zum Gegenstand einer Prophezeiung gemacht. Selbst wenn der Herr sich herablässt, Licht zu geben über sein Wirken in der Kirche während der Zeit ihres Verfalls, wählt Er sieben existierende Versammlungen als Mittel, um nicht gegen seine eigenen Prinzipien (der ständigen Erwartung seiner selbst durch die Christen und ihrer himmlischen Position als in Ihm, die nicht Gegenstände der Prophezeiung sind) zu verstoßen.

    • Das Kommen des Herrn:
      Es ist verkehrt, dieses Ereignis für die Kirche zu einem Ereignis der Prophetie zu degradieren. In 2. Petrus 1 wird die Realisierung des Morgensterns (die Auswirkung des Lichts der christlichen Wahrheit und der himmlischen Hoffnung) in unseren Herzen deutlich unterschieden von der prophetischen Lampe (der Prophetie von der Aufrichtung des Reiches Gottes auf der Erde).

  5. Es entspricht nicht dem Charakter der Kommunikation zwischen Christus und der Kirche, über die Dinge, die ihr Wesen betreffen, das bestimmt wird von der Verbindung zwischen Haupt und Leib im Genuss der Einheit mit Ihm durch den Heiligen Geist, über die Distanz der Prophetie zu gehen.

  6. Es gibt keine Prophezeiung über den Himmel an sich (siehe auch 2.c.), denn Prophezeiung bezieht sich auf die Regierung der Erde. Wenn etwas über den Himmel gesagt wird, dann in Verbindung mit der Erde. Die Versammlung ist himmlisch (Eph 1), deswegen wird sie auch nicht in der Prophetie gefunden. Allerdings sollte die Kirche auch während der Zeit der Ablehnung des jüdischen Zeugnisses das Zeugnis vom Königreich Gottes aufrechterhalten.

  7. Zion ist nicht die Kirche: Zion bedeutet Zion, wenn über es eine Prophezeiung ausgesprochen wird. Die Prophezeiung betrifft sie, weil sie auf dem moralischen Boden stattfindet, auf dem sich Zion befindet. Die Versammlung dagegen befindet sich auf einem ganz anderen Grundsatz der Beziehung zu Gott und kann deswegen nicht gemeint sein.

Anmerkungen

[1] W.J. Ouweneel, Das Buch der Offenbarung, Bielefeld (CLV) 1997, S. 73.

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