Der Pfad und die Hoffnung des Christen
1. Mose 5,18-24; Hebräer 11,1-6

Walter Thomas Turpin

© SoundWords, online seit: 01.01.2015, aktualisiert: 24.04.2022

Leitverse: 1. Mose 5,18-24; Hebräer 11,1-6

1Mo 5,18-24: 18 Und Jered lebte 162 Jahre und zeugte Henoch. 19 Und Jered lebte, nachdem er Henoch gezeugt hatte, 800 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. 20 Und alle Tage Jereds waren 962 Jahre, und er starb. 21 Und Henoch lebte 65 Jahre und zeugte Methusalah. 22 Und Henoch wandelte mit Gott, nachdem er Methusalah gezeugt hatte, 300 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. 23 Und alle Tage Henochs waren 365 Jahre. 24 Und Henoch wandelte mit Gott; und er war nicht mehr, denn Gott nahm ihn weg. 

Heb 11,1-6: 1 Der Glaube aber ist eine Verwirklichung dessen, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht. 2 Denn in diesem haben die Alten Zeugnis erlangt. 3 Durch Glauben verstehen wir, dass die Welten durch Gottes Wort bereitet worden sind, so dass das, was man sieht, nicht aus Erscheinendem geworden ist. 4 Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain, durch das er Zeugnis erlangte, dass er gerecht war, wobei Gott Zeugnis gab zu seinen Gaben; und durch diesen redet er noch, obgleich er gestorben ist. 5 Durch Glauben wurde Henoch entrückt, damit er den Tod nicht sehe, und er wurde nicht gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte; denn vor der Entrückung hat er das Zeugnis gehabt, dass er Gott wohlgefallen habe. 6 Ohne Glauben aber ist es unmöglich, ihm wohlzugefallen; denn wer Gott naht, muss glauben, dass er ist und denen, die ihn suchen, ein Belohner ist.

Zwei verschiedene Grundsätze

Die Grundsätze, die zu den Zeiten galten, auf die sich das Alte Testament hauptsächlich bezieht, waren sehr unterschiedlich von den Grundsätzen, nach denen Gott in der jetzigen Zeit mit den Seinen verfährt und nach denen zu wandeln Er sie berufen hat. Und doch ist es interessant, zu sehen, wie Gott sich in den Gläubigen jener Tage (besonders in den Gläubigen, von denen in Hebräer 11 die Rede ist) unabhängige Zeugen eines großen Grundsatzes erweckte. Dieser Grundsatz trat klar ans Licht, nachdem der Herr Jesus Christus das Werk, das sein Vater Ihm zu tun gegeben hatte, vollendet hatte und wieder in den Himmel zurückgekehrt war. Diese Zeugen waren sowohl während als auch schon vor der Zeit der jüdischen Haushaltung vorhanden. Die jüdische Haushaltung sollte durch das Sichtbare auf den Menschen, wie er von Natur ist, einwirken. Sie hatte ihre Zeit und ihren besonderen Zweck, und Gott wirkte durch diese Haushaltung, um seine Vorsätze zu erfüllen. Dennoch erwählte Er sich aus der Mitte selbst dieses Volkes des Schauens seine Zeugen für den einfachen Grundsatz des Glaubens.

Vertraue dem unsichtbaren Gott

Der Christ ist ganz besonders dazu berufen, durch den Glauben zu wandeln, und daher muss er sehr wachsam sein, damit er sich nicht durch Sichtbares regieren und leiten lässt und dadurch von dem Weg abweicht, den Gott ihm angewiesen hat. Dies stellt unsere Herzen scharf auf die Probe; aber ich wiederhole es: Sobald wir uns durch etwas Sichtbares leiten lassen, sobald dieses Sichtbare unser Beweggrund oder unser Zweck wird oder sobald wir davon Licht oder Leitung für unseren Weg erwarten, haben wir diesen einfachen, gesegneten Pfad verlassen, den Gott den Seinen vorgezeichnet hat.

Es mag freilich eingewendet werden: Wenn man sich unter den Kindern Gottes umsieht, kann man tausend Beispiele finden, wo im Blick auf das Sichtbare gehandelt wird. – Aber es ist sehr wichtig, dass wir nicht der oft vorhandenen Neigung unserer Herzen folgen, indem wir einen Grundsatz machen aus dem, was in der Tat nichts anderes ist, als unsere wunderbare Berufung zu verleugnen. Wir sind berufen worden, davon zu zeugen, dass wir einen unsichtbaren Gott haben, der durch den natürlichen Verstand nicht erfasst werden kann, aber auf den der Glaube die Blicke gerichtet hält, indem er Ihn zur Richtschnur seines Handelns macht. Dieser unsichtbare Gott war es, auf den Mose blickte. Von ihm sagt der Geist Gottes, dass er „standhaft aushielt, als sähe er den Unsichtbaren“ (Heb 11,27).

Zwei Dinge nun kennzeichnen den Christen:

  1. Sein Herz hat einen unsichtbaren Gegenstand im Himmel, der außerhalb all dessen ist, was dieser Welt angehört: den verherrlichten Christus zur Rechten Gottes.
  2. Zweitens trägt der Christ eine unsichtbare Kraft in sich: den Heiligen Geist. Und diese Kraft, die ihm innewohnt (denn sein Leib ist der Tempel des Heiligen Geistes), wirkt auf und durch den Christen stets in Bezug auf den verherrlichten Christus zur Rechten Gottes; diese Kraft leitet die Beweggründe des Christen und gibt ihm Kraft von Gott aus.

Sobald wir diesen Standpunkt verlassen, wandeln wir nicht in Übereinstimmung mit unserer Berufung und handeln wir nicht nach dem Grundsatz des Glaubens, der über alles hinweg zu Gott schaut, Ihn in allem sieht, einfach im Blick auf Ihn handelt und Kraft von Ihm empfängt. Ein großer Teil der Schwierigkeiten, die wir als Einzelne und als Gesamtheit auf unserem Weg erfahren, rührt daher, dass wir nicht einfach durch Glauben wandeln.

Wandle mit Gott

Zweifellos sind viele Schwierigkeiten, die wir als Gesamtheit haben, durch den niedrigen Zustand der Einzelnen entstanden, durch ihre Schwäche, ihren Mangel an Treue. Der gute Zustand einer Versammlung ist stets nur das Resultat davon, dass die Einzelnen in Aufrichtigkeit vor Gott leben. Geistliche Kraft des Ganzen ist nie vorhanden, wenn die Einzelnen für sich nicht treu sind. Die Ursache unserer allgemeinen Schwäche liegt darin, dass wir dies oftmals übersehen haben, denn der praktische Zustand unserer Seelen hat einen unendlich großen Einfluss auf das gesamte Zeugnis, das wir als Glieder des Leibes Christi aufrechtzuhalten haben. Wenn ich nicht persönlich mit Gott lebe als jemand, der im Kindesverhältnis zu Gott steht, als jemand, der ein Erbe Gottes und Miterbe Jesu Christi ist, dann kann ich auch unmöglich meiner Verantwortung als ein Glied des Leibes Christi nachkommen, sondern ich werde auf die eine oder andere Weise die Versammlung nachteilig beeinflussen.

Es ist eine besondere Schönheit des Alten Testaments, dass darin der Platz und die Verantwortung, die der Einzelne Gott gegenüber hat, so klar ans Licht tritt. Wir begegnen darin der Gottseligkeit, der Frömmigkeit des Einzelnen, dem Wandel des Einzelnen mit Gott – wenn sich auch natürlich alles nach dem Maß der Offenbarung Gottes in jener Zeit richtete; dies dürfen wir dabei nicht aus dem Auge verlieren. Für jene Zeit war Henochs Wandel in der Tat ein Wandel mit Gott, aber die Offenbarung Gottes und die Mitteilung der Gedanken Gottes, die wir empfangen haben, gehen weit über Henochs Erkenntnis hinaus. Wenn wir daher heutzutage mit Gott leben wollen, dann müssen wir unseren Platz vor Ihm einnehmen gemäß der Offenbarung Seiner selbst, die Er uns in seinem Wort gegeben hat.

Wir finden eine interessante Ähnlichkeit zwischen Henochs Zeit und unserer Zeit. Man hört manchmal Leute sagen: Es ist leicht, über Henochs Wandel mit Gott zu sprechen; aber er begegnete sicher nicht halb so vielen Schwierigkeiten und Prüfungen wie die Gläubigen heutzutage. – Dies ist jedoch eine sehr oberflächliche Beurteilung der Zeit Henochs, von der uns das Wort Gottes ein Bild gibt. Henoch lebte inmitten eines Systems, das Satan bis in unsere Zeit noch mehr entwickelt hat; Henoch befand sich inmitten der Welt, wie Kain sie geschaffen hatte. Man darf nicht vergessen, dass die Welt, so wie wir sie jetzt sehen, nicht aus der Hand Gottes hervorging. Gott hat wohl die Erde geschaffen, nicht aber das herrschende System der Dinge um uns her, in dem wir solch schreckliche Entfernung von Gott erblicken. Satan hat dieses zustande gebracht, weil der Mensch sich gegen Gott empörte. Satan ist der Gott und Fürst der uns umringenden Welt, die dem Grundsatz nach schon in den Tagen Henochs vorhanden war. Ich berühre nur kurz zwei Dinge, die die Hauptbestandteile des Systems bildeten, von dem Henoch umgeben war: eine Religion und eine Stadt.

  1. Kain war der Gründer einer Religion, die die Forderungen der Gerechtigkeit Gottes hinsichtlich des gefallenen Menschen nicht anerkannte. Diese Religion übersah auch, dass dieser Fall den Fluch über die Erde herbeigeführt hatte. Kain brachte Gott die Frucht der Erde dar. Es fehlte bei ihm sicher nicht an Energie oder an Ernst; nein, er arbeitete und bebaute die Erde, und obwohl sie verflucht war, brachte sie ihm ihre Frucht hervor, die Kain dann Gott opferte, so als ob kein Fluch vorhanden wäre. Beachten wir gut den wichtigen Grundsatz, der uns darin entgegentritt: Sobald der Fall des Menschen – seine Entfernung von Gott nach Natur und Handlungsweise – stattgefunden hatte, konnte der Mensch Gott auf keinem anderen Weg nahen als nur durch ein stellvertretendes Opfer, das auf den Tod Christi hindeutete. Sobald der Mensch dies auf einem anderen Weg versucht, folgt er, dem Grundsatz nach, der Religion Kains. Und diese Religion war dadurch gekennzeichnet, dass sie Gott ein äußeres Opfer, eine Form des Gottesdienstes darbrachte, die den großen Grundsatz leugnete: „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung“ [Heb 9,22].

  2. Was die Stadt betrifft: Sie ist der Ausdruck gerade dessen, was wir heutzutage rings um uns her sehen. Es wurde versucht, die Geschicklichkeit und den Erfindungsgeist des Menschen auf die größtmögliche Höhe zu bringen, und es wurde alles getan, um die Welt in ihrem gefallenen, verdorbenen Zustand erträglich zu machen für den Menschen, der sich von Gott abgewandt und entfernt hatte. So war Kains Stadt.

Wie schön ist es daher, zu sehen, wie Gott sich mitten aus einem solchen Schauplatz heraus einen Zeugen berief! Henoch stand als ein Zeuge der Kraft Gottes da, soweit sie damals offenbart war; er blieb inmitten des damaligen Zustandes der Dinge bewahrt und „wandelte mit Gott“. Dies ist es gerade, wozu wir, ein jeder von uns, in diesen Tagen berufen sind: Wir sind dazu berufen, mit Gott zu wandeln. Wie wenig aber kommen wir im Allgemeinen dieser Berufung nach. Ich hörte einmal einen lieben Diener Gottes erzählen, dass er – als er seine Heimat verließ, um an anderen Orten für den Herrn zu arbeiten – oft gläubige Landsleute traf, die ausgewandert waren und sich anderswo angesiedelt hatten. Wenn er sie fragte, warum sie hierher gezogen seien, antwortete der eine so, der andere anders; aber selten bekam er eine Antwort, die darauf hindeutete, dass sie versucht hatten, den Willen und das Wohlgefallen Gottes in dieser Sache zu erforschen.

Ist es nicht sehr ernst, dass wir von diesem Wandel mit Gott so wenig wissen, dass wir so wenig erfahren von der Verheißung Gottes: „Ich will dich unterweisen und dich lehren den Weg, in dem du wandeln sollst; mit meinem Auge will ich dir raten“ (Ps 32,8)? Es fehlt heutzutage nicht so sehr an Erkenntnis der Schrift; wir wissen ihre verschiedenen Haushaltungen zu unterscheiden; wir verstehen die Tragweite und Bedeutung gewisser Teile des Wortes Gottes; aber was uns fehlt, das ist dieser Wandel mit Gott, diese Gemeinschaft mit Ihm, dieses Geleitetsein durch seine Augen, dieses Leben durch Glauben, der uns über unsere Umstände hinweghebt und zu demjenigen hinleitet, der droben in der Herrlichkeit ist. Wir sollten auf der Hut sein, dass unsere praktische Gemeinschaft mit Gott nicht hinter unserer Erkenntnis zurückbleibt, denn sobald dies der Fall ist, liefert es dem Feind Material genug in die Hände, dass er schreckliche Verwüstungen anrichtet. Ein äußeres Verständnis der Dinge Gottes ohne einen persönlichen Wandel mit Ihm ist in Satans Hand eine Waffe, durch die er traurige Resultate herbeiführen kann.

Die erste Bedingung eines Wandels mit Gott ist, dass wir klar darüber sind, in welcher Stellung wir uns Gott gegenüber befinden. Verstehen wir das Verhältnis, in das Gott nach seinem Wohlgefallen die Seinen durch Christus gebracht hat? Ist keine Wolke vorhanden zwischen uns und Ihm, keine ungelöste Frage in Bezug auf Gottes Gesinnung gegen uns? Und darüber hinaus: Entsprechen unsere praktischen Beziehungen zu Gott diesem Verhältnis? Es ist unmöglich, mit Gott zu wandeln, solange wir das Verhältnis, das Er geschaffen und uns offenbart hat, nicht verstehen, nicht verwirklichen und nicht genießen. Kann von einem Wandel mit Gott die Rede sein, wenn ungerichtete Sünde das Gewissen befleckt? Ungerichtete Sünde macht einen Wandel mit Gott nicht nur für den Betreffenden unmöglich, sondern er wird auch der Versammlung im Ganzen schaden. Sicher denken wir nicht genug an diese Dinge, die doch zum großen Teil die Ursache der bedenklichen Schwachheit sind, die man unter dem Volk Gottes findet. Der Herr möchte doch jeden Einzelnen von uns erreichen, wenn Er zu uns sagt: „Der Mensch prüfe sich selbst“; und weiter: „Deshalb sind viele unter euch schwach und krank, und ein gut Teil sind entschlafen“ [1Kor 11,28.30]. Ungerichtete und in der Versammlung geduldete Sünde war es, die in Korinth Trübsal verursachte; freilich waren dort besondere Fälle vorhanden, aber dies berührt die Wahrheit des Grundsatzes nicht: Schwachheit und Schwierigkeiten in der Versammlung werden unausbleiblich sein, wenn einzelne Glieder der Versammlung nicht im Genusss der Freude und des Friedens wandeln, die die Verwirklichung des Verhältnisses mit Gott mit sich bringt, oder wenn vorhandenes Böses nicht gerichtet wird.

So seltsam es klingen mag, so ist es doch wahr: Sehr viele Gläubige sind sich nicht bewusst, dass sie in einem ewig währenden Lebensverhältnis mit dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus stehen. Sie kommen in ihrem Glaubensleben nicht weiter als dazu, sich als Sünder zu betrachten, deren Schuld vergeben ist. Ist dies nicht sehr traurig? Wie kann ich mit Gott wandeln als sein Kind, wenn ich nicht weiß, dass ich im Kindesverhältnis zu Ihm stehe? Wie kann ich vor Ihm wandeln als ein Glied am Leib Christi, wenn ich dieses Verhältnis nicht kenne und wenn ich der Verantwortung, die dieses Verhältnis mir auferlegt, nicht nachkomme?

Wandle zur Freude Gottes

Um zu Henoch zurückzukehren: Wir finden in Hebräer 11 noch einen wesentlichen Punkt, was den Wandel mit Gott betrifft. Henochs Leben hatte nur einen Zweck, den wir so schön in den Worten angedeutet finden: „Vor seiner Entrückung hat er das Zeugnis gehabt, dass er Gott wohlgefallen habe“ [Heb 11,5]. Das war es, wonach Henoch strebte. Ist dies auch unser Wunsch? Betrachten wir unser tägliches Leben; betrachten wir die Einzelheiten in unserer Geschichte als Christen; prüfen wir alles, worin wir tätig sind: unsere geschäftlichen, unsere häuslichen, unsere kirchlichen Beziehungen. Ist in allem diesem unser Herz wirklich nur darauf gerichtet, Gott wohlzugefallen? Wie lieblich ist der Gedanke, dass Henoch, bevor er die Welt Kains mit all ihren Hindernissen und Versuchungen verließ, „das Zeugnis gehabt hat, dass er Gott wohlgefallen habe“. Der innige Wunsch, Gott wohlzugefallen, war das eine, das ihn beherrschte, das jeden Vorsatz, jede Handlung leitete.

Es besteht ein interessanter Unterschied zwischen dem, was uns von Henoch, und dem, was uns von Abel erzählt ist. Von Abel lesen wir, dass Gott „Zeugnis gab zu seinen Gaben“ (Heb 11,4). Dort ging es darum, dass sein Opfer angenommen wurde, das Blut und das Fett, das Abel Gott darbrachte. Durch sein Opfer bezeugte Abel, dass er sowohl die Forderungen eines heiligen Gottes anerkannte als auch das Verderben, in das Adam die Schöpfung geführt hatte. Abel stellt ein Lamm zwischen sich und den gerechten Gott, ein Opfer, das das Gericht tragen sollte, dessen er, Abel, schuldig war. Die Vortrefflichkeit dieses Opfers finden wir durch das Fett angedeutet, das ein weiteres Vorbild auf Christus ist. Abel brachte das Fett und das Blut, und Gott gab Zeugnis „zu seinen Gaben“. Wenn es sich aber um den Wandel eines Menschen mit Gott handelt, dann lautet das Zeugnis: „Du hast mir wohlgefallen.“ Es ist eine wunderbare Sache, dieses Zeugnis für sich zu besitzen, dieses göttliche Geheimnis zu haben zwischen der eigenen Seele und Gott, von dem niemand weiß als Er und ich!

Bei einem Gläubigen, der sich in der Gegenwart Gottes befindet und der stets in Beziehung zu Gott handelt, werden wir auch immer aufrichtige, völlige Selbstverleugnung finden. Es hat keinen Wert, wenn die Leute sagen, dass sie Gott vor Augen haben, solange es doch offensichtlich ist, dass sie das eigene Ich auf die eine oder andere Weise in den Vordergrund stellen. Wenn ich den Unsichtbaren vor mir habe und all mein Tun sich nach Gott richtet und wenn all mein Denken dahin geht, Ihm wohlzugefallen, dann habe ich in meinem Gewissen das freudige Bewusstsein, dass ich tue, was Ihm wohlgefällt; ich trage eine gesegnete, verborgene Quelle der Befriedigung und Freude in mir; die Zuneigungen der Seele sind dadurch abgezogen von den tausend Dingen, denen sich zuzuwenden sie hier unten in Gefahr steht, und meine Zuneigungen sind an Christus gefesselt, der der Mittelpunkt all unserer Gedanken sein sollte.

Ein Wandel mit Gott hat also zu unseren wie auch zu Henochs Zeiten dieselbe Grundlage, nämlich den Beweggrund und Zweck, in allem Ihm allein gefallen zu wollen, ohne an sich selbst oder das Urteil anderer zu denken. Betrachten wir den Pfad des vollkommenen Menschen, des Herrn Jesus Christus, auf dieser Erde. Wir sehen Ihn in Psalm 16 als den abhängigen Menschen und hören Ihn sagen: „Ich habe den HERRN stets vor mich gestellt“ (Ps 16,8). Was wäre doch dies für unsere Herzen, wenn wir den Herrn stets vor uns stellen würden! Welche Ruhe, welche Selbstbeherrschung würde es uns verleihen, welch heiligenden Einfluss würde es auf uns haben, wenn wir immer zu diesem gesegneten, unsichtbaren Gegenstand hingewandt wären! Es ist oft genug Energie zu allerlei Werk vorhanden; aber der Herr gebe, dass wir doch mehr wissen, was es heißt, sein Wohlgefallen zu erforschen und in Ruhe und Stille des Herzens Gemeinschaft mit Ihm zu haben.

Was für eine Gegenwart und Zukunft hat nun der zu erwarten, der diesen Wandel mit Gott führt, zu dem du und ich berufen sind? Für die Gegenwart bringt dieser Wandel Leiden, Verlust, Schmach, Demütigung auf Schritt und Tritt. Dies sind seine Folgen, denn nicht Unterwürfigkeit, sondern Aufruhr und Widerspruch gegen Gott herrschen ja – jetzt ebenso wie in Henochs Tagen – auf dem Schauplatz, wo wir diesen Wandel zeigen sollen und wo er ans Licht treten muss. Er schließt Leiden in sich, und um uns diesen Leiden zu unterziehen und sie auszuhalten, müssen wir den Weg der Selbstverleugnung gehen. Dies ist Gottes Weg mitten durch die uns umringenden Schwierigkeiten, die so oft gerade daher rühren, dass das Gegenteil von Selbstverleugnung uns erfüllt. Würden wir einfach nur nach Gott fragen, seine Ansprüche, sein Wohlgefallen berücksichtigen und uns seinen Gedanken unterwerfen, so würden viele Schwierigkeiten bald verschwinden. Wir kennen die Lehre von allem diesem sehr wohl, aber wie viele von uns wandeln ernst und aufrichtig vor dem Herrn in dieser Lehre? Und doch lässt sich nichts Traurigeres denken, als wenn wir die Erkenntnis dieser Dinge bloß im Kopf haben. Heutzutage neigen die Menschen dazu, es sich in allem leicht zu machen, und leider zeigt sich dies auch in der Art, wie Gottes Wahrheiten oft aufgenommen werden. Denn anstatt dass diese Wahrheiten das Gewissen wie ein Pfeil durchbohren und die Seele in die Gegenwart Gottes bringen, werden sie angenommen, als ob einem durch sie keinerlei Verpflichtungen auferlegt würde. Man lernt Gottes Wahrheiten wie ein Stück Geschichte und ist davon überzeugt, dass diese Wahrheiten richtig sind, ohne sich darüber klarzuwerden, dass einem durch sie Verantwortlichkeit erwächst.

Übe dein Gewissen

In der besonderen Neigung und dem Charakter einer Zeit besteht dann und wann auch die Gefahr der Kirche Gottes und die Versuchung für die Heiligen: Die Menschen versuchen heutzutage nämlich, sich alles so leicht und mühelos wie möglich zu machen; doch um in der Schule Gottes voranzukommen, gibt es keinen leichten und mühelosen Weg. In der Schule Gottes kann nur durch ein geübtes Gewissen gelernt werden. Wenn das Gewissen nicht durch die Wahrheit beeinflusst ist, wenn das Gewissen sich nicht in der Gegenwart Gottes befindet, kann von einem Wandel mit Gott nicht die Rede sein. Das Gewissen ist der einzige Weg, auf dem Gott das Herz des Menschen erreichen kann, und wenn das Gewissen beim Hören der Wahrheit nicht tätig ist, so erreicht die Wahrheit ihren göttlichen Zweck nicht beim Gewissen. Wie oft kommt es vor, dass man durch die Wahrheit aufgeblasen wird, anstatt sich darunter zu beugen und zu erkennen, dass die Wahrheit Gottes aus dem Menschen nichts macht. Bei einem richtigen Zustand des Herzens ist jemand, der von der göttlichen Wahrheit erfasst ist, zufrieden, nichts zu sein, ja in dieser Welt sogar zu leiden.

Der Pfad des Herrn Jesus auf dieser Erde war gekennzeichnet von Selbstverleugnung, das heißt, Er gab sich selbst auf; Schmach, Verachtung, Verlust waren sein Teil bis nach Golgatha. Während wir kein Recht haben, irgendetwas zu beanspruchen, da wir auch das Kleinste nur durch Gottes freie Gnade haben, gab Er willig alles auf, worauf Er Rechte und Ansprüche hatte. Wie wenig folgen wie Ihm nach auf dem Weg, den Er uns vorangegangen ist. Wenn wir Jünger dessen sein wollen, der nichts hatte, wo Er sein Haupt hinlegen konnte, dann kann der Grundsatz, so viel wie möglich in und von dieser Welt zu besitzen, uns nicht beherrschen. Im Gegenteil: Wir werden versuchen, uns mit so wenigem wie möglich zu belasten. Wer gemäß der Offenbarung des Willens Gottes, die wir heutzutage durch sein Wort haben, mit Gott wandeln will, muss klar und deutlich vor Augen haben: „Es ist dem Knecht genug, dass er sei wie sein Herr“ [Mt 10,25].

Ich möchte die Leute lieber zögernd und bedachtsam diesen Weg betreten sehen als ohne Bewusstsein der Verantwortung, die dieser Pfad ihnen auferlegt. Wer mit geübtem Gewissen die Sache vor Gott bringt und aufrichtig und treu ist, dem wird Licht und Kraft geschenkt werden, damit er auf diesem Weg wandeln kann. Es ist keine Kleinigkeit, sich nicht von dem Sichtbaren beherrschen zu lassen, um einfach den Gedanken dessen zu entsprechen, der droben ist. Gott gebe, dass wir es nicht als eine leichte Sache betrachten, praktischerweise ein Christ zu sein, noch den Ernst unserer göttlichen Stellung vergessen, indem wir diese Stellung nicht höher achten als die vergänglichen Dinge dieser Erde. Ich wiederhole es: Es ist nichts gefährlicher noch in unseren Tagen häufiger als ein bloßes Lernen und Aufnehmen von Wahrheiten, von denen das Gewissen unberührt bleibt und die daher ihren Einfluss auf die Seele verfehlen.

Wenn wir aber auch wohl daran tun, den Ernst eines Wandels mit Gott durch diese Welt recht zu erwägen, so sollten wir andererseits die Freude und Segnung, die dieser Wandel uns bringt, nicht aus dem Auge verlieren. Ist denn das Bewusstsein der Liebe und Teilnahme des Herrn nicht eine reiche Entschädigung für alles, was wir etwa leiden oder einbüßen? Er wandelt unseren Weg mit uns, Er tröstet und stützt uns und richtet unsere Blicke auf unsere herrliche Zukunft.

Erwarte den Herrn

Und was ist unsere Aussicht am Ende dieses Pfades? Während die Hoffnungen des Israeliten ganz mit dieser Erde verknüpft waren und sich auf Fülle und Gedeihen in Bezug auf alles Sichtbare bezogen; während Reichtum, Ehre, Wohlstand sozusagen sein Geburtsrecht, sein Erbteil auf der Erde waren, das er recht lange zu genießen wünschte, so ist das, was vor uns liegt: dass wir von dieser Erde weggenommen werden, vielleicht heute schon! Glauben wir dies wirklich, dass schon im nächsten Augenblick die Wolke der Herrlichkeit uns umgeben könnte? Gott gebe, dass die gesegnete Hoffnung der Wiederkehr unseres Herrn uns nicht nur als Lehre bekannt ist, sondern dass sie als eine lebendige Wirklichkeit in Frische und Kraft vor uns steht. Freuen wir uns beim Gedanken an diese Hoffnung jetzt noch mit derselben Freude und Sehnsucht wie zu der Zeit, als wir sie zuerst erkannten, vielleicht vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren? Ist es das Ereignis, nach dem wir am meisten ausschauen? Ist es unsere freudige Erwartung, verwandelt zu werden und den Tod nicht zu sehen wie Henoch, der „entrückt ward, damit er den Tod nicht sehen sollte“ (1Thes 4)?

Wie traurig ist es doch, dass diese herrlichen Wahrheiten so oft ihre Frische und Wirklichkeit für uns verloren haben und bloß wie ein Teil eines Glaubensbekenntnisses für uns sind. Sobald wir sie aber nur als „unsere Lehre“ festhalten, anstatt ihnen einen praktischen, bildenden, lebendigen Einfluss auf uns zu gestatten, so ist es vorüber mit einer richtigen Herzensstellung gegen den Herrn; wir verleugnen die wunderbare göttliche Kraft dieser Dinge; wir sind, wie jemand treffend gesagt hat, „so klar wie der Mond und so kalt wie der Mond“. Welch ein trauriges Bild! Möge der Herr uns vor einem solchen Zustand bewahren.

Wandle treu

Das, was uns in dieser Zeit besonders nottut, ist ein treuer Wandel des Einzelnen mit Gott. Weltförmigkeit und Irdischgesinntheit würden sicher keinen Raum in unserem Wandel und in unserem Herzen finden, wenn wir die Bedeutung des Weges, zu dem wir berufen sind, mehr bedenken und uns mehr nach dem Augenblick sehnen würden, wenn wir dem Herrn entgegeneilen werden, um dann allezeit bei Ihm zu sein.

Möchte doch ein jeder von uns diese Dinge in Einsamkeit und Stille vor dem Herrn erwägen, mit dem Gedanken: „Herr, bin ich’s?“, und möge der Herr seinen Segen zu seinem Wort geben, damit wir zu einem innigeren, treueren Wandel mit Ihm angespornt werden – in der Hoffnung, bald dieser Welt enthoben zu werden, um für immer sein Angesicht zu schauen und bei Ihm zu sein!


Aus der Vortragsreihe „Remnant Times: As illustrated in the History of Enoch, David, and Daniel“ aus dem Jahr 1874;
Teil 1: „The Christian’s Pathway and Hope“,
deutsche Übersetzung in der Zeitschrift Worte der Ermunterung und Ermahnung, 2/1884, S. 13–24; 3/1884, S. 25–30.
Von SoundWords sprachlich leicht bearbeitet.


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