Müssen die Alltagsprobleme wirklich sein?
5. Mose 8

Walter Thomas Turpin

© SoundWords, online seit: 05.03.2006, aktualisiert: 30.07.2023

Leitverse: 5. Mose 8

Einleitung

Das Christentum wird durch ein wichtiges Merkmal charakterisiert: Der Christ macht auf dem Weg durch die Welt gleichzeitig die Erfahrungen der Wüste und die Erfahrungen Kanaans. Der Jude dagegen, der Israelit, hatte diese Erfahrung getrennt voneinander zu machen – in verschiedenen Abschnitten seiner Geschichte. Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir diese beiden Dinge an ihren richtigen Platz stellen, denn wir sind stets geneigt, die Gedanken Gottes einzuschränken und so wenig wie möglich von dem zu nehmen, was Gott uns schenken will. Eine Folge dieser Neigung ist, dass fast jeder Gläubige seine Lieblingswahrheit oder Lieblingslehre hat. Würden wir treuer mit Gott wandeln, so würden wir all das genießen, was Gott gefallen hat, uns zu geben. Wir würden dann nicht nur finden, dass jede Wahrheit ihren Platz hat und unseren Umständen angepasst ist, sondern wir würden auch dahin kommen, diese Wahrheiten nach dem Grad der Wichtigkeit zu beurteilen, die sie in den Gedanken Gottes haben. Es ist außerordentlich groß, die Wahrheit Gottes als ein Ganzes zu besitzen und so zu schätzen, indem man zu gleicher Zeit jedem ihrer einzelnen Teile den ihm zukommenden besonderen Platz im Herzen einräumt.

Ich möchte nun zunächst von der Pilgerschaft hier auf der Erde sprechen, der geringeren, aber im Allgemeinen wohl besser erfassten und verstandenen Seite unseres Gegenstandes. Ich bitte den Leser, zu diesem Zweck seine Bibel aufzuschlagen und 5. Mose 8,2-6 zu lesen:

5Mo 8,2-6: Du sollst dich an den ganzen Weg erinnern, den der HERR, dien Gott, dich hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu prüfen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. Und er demütigte dich und ließ dich hungern; und er speiste dich mit dem Man, das du nicht kanntest und das deine Väter nicht kannten, um dir kundzutun, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was aus dem Mund des HERRN hervorgeht. Deine Kleidung ist nicht an dir zerfallen, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig Jahre. So erkenne in deinem Herzen, dass, wie ein Mann seinen Sohn züchtigt, der HERR, dein Gott, dich züchtigt; und halte die Gebote des HERRN, deines Gottes, um auf seinen Wegen zu wandeln und ihn zu fürchten.

Diese Verse reden von dem, was ich „die Pilgerschaft hier auf der Erde“ genannt habe. Sie sprechen von dem Weg durch die Welt, die für den Christen zur Wüste geworden ist. Denn von dem Augenblick an, da ich für Gott und seine Wahrheit gewonnen bin, befinde ich mich in der Wüste, die ich fortan als Pilger durchwandern muss. Hier ist der Schauplatz, auf dem sich meine eigentliche Geschichte abspielt; hier ist der Weg, der mich durch die trüben Wechselfälle des Lebens hindurchführt.

Hauptsächlich zwei Dinge sind in unserem Kapitel zu beachten. Gott lehrt uns zwei bedeutungsvolle Tatsachen: zunächst, dass die Geschichte der Wüste für uns notwendig war, und dann (ich sage es mit aller Ehrerbietung), dass sie für Gott nötig war, das heißt, dass sie Ihm die Gelegenheit bot, das zu offenbaren, was in seinem Herzen für uns war, und zwar gerade inmitten der Umstände, die uns in dieser Welt umgeben.

Die Wüstenerfahrung ist wichtig für uns

Betrachten wir zunächst den ersten Teil: das, was uns betrifft. Ich habe gesagt, die Geschichte der Wüste ist für uns notwendig. Warum? Wir lernen auf unserer Wüstenreise zwei Dinge, die dem natürlichen Menschen niemals eigen gewesen sind, nämlich Abhängigkeit und Unterordnung oder Gehorsam. Wir wissen alle sehr wohl, dass gerade das Gegenteil hiervon dem natürlichen Menschen eigen ist. Er liebt Unabhängigkeit und Ungehorsam. Ja, das sind die beiden großen Charakterzüge, die den abgefallenen Menschen als solchen kennzeichnen; zwei Wesensmerkmale, deren Ursprung bis zum Garten Eden zurückzuführen sind. Alles aber wird verändert, wenn Gott uns einmal zu sich gebracht und zu Teilhabern seiner Natur gemacht hat. Die Charakterzüge, die hervorstechenden Eigenschaften dieser neuen Natur, die wir als ein Geschenk seiner Gnade besitzen, sind Abhängigkeit und Unterordnung. Und die Umstände, durch die wir in dieser Welt zu gehen haben, die Schwierigkeiten, Prüfungen und Versuchungen des Weges bilden ebenso viele Gelegenheiten, um diese Eigenschaften ans Licht zu stellen und zu erproben.

Das Durchschreiten der Wüste mit ihren Freuden und Leiden, ja, alles, was uns begegnet, schlägt so für uns zum Segen aus. Wenn das Herz wirklich vor Gott geübt ist und wir in der Kraft des neuen Lebens unter der mächtigen Leitung des Heiligen Geistes wandeln, wird jeder Umstand, jeder Abschnitt unseres Weges bedeutungsvoll für uns, indem die Prüfungen, Schwierigkeiten und die Sorgen, denen wir ausgesetzt sind, uns Gelegenheiten geben, unsere Abhängigkeit und unseren Gehorsam praktisch zu beweisen. Beachten wir wohl, in welch wunderbarer Weise diese beiden Charakterzüge in der Geschichte dessen ans Licht traten, der sich herabließ, Mensch zu werden, während Er der einzig vollkommene Mensch war. Wenn wir an die Versuchung des Herrn in der Wüste denken (Lk 4), so wissen wir, dass das Erste, was Er Satan entgegenstellte, die Festigkeit des abhängigen Menschen war: „Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: ‚Nicht vom Brot allein soll der Mensch Leben, sondern von jedem Wort Gottes.‘“ Der Leser möge beachten, dass der Herr diese Stelle aus dem Kapitel anführt, das uns gerade beschäftigt. Er tut es geflissentlich, denn dieser Teil der Schrift greift auf die Geschichte der Israeliten zurück, die Gott auf ihrer Wüstenreise Abhängigkeit und Unterordnung lehren wollte. Hier nun gibt Gott uns das Muster dieser Dinge in seinem eigenen Sohn, dem vollkommenen Menschen.

Diese Tatsache verbreitet viel Licht über eine andere Schriftstelle, deren Verständnis einige Schwierigkeit bietet. Ich meine diese: „Er blieb dort bis zum Tod Herodes, damit erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, der spricht: ,Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen‘“ (Mt 2,15). Was soll das bedeuten? Nichts anderes, als dass Christus, seine eigene Person, die Geschichte Israels wieder aufnimmt. Israel, das Volk Gottes, hat als solches in jeder Prüfung, in jeder Stellung, in die es versetzt wurde, nicht bestanden; es hat überall versagt: in der Wüste, im Land wie auch später – in welcher Lage es sich auch befinden mochte. Jesus nimmt, wie gesagt, in seiner Person diese Geschichte wieder auf, und in jeder Stellung, in der das Volk nicht bestanden hat, wird Er als vollkommen erfunden. Er war vollkommen in der Wüste, vollkommen in der Abhängigkeit, vollkommen im Gehorsam, mit einem Wort: vollkommen in jeder Beziehung. Die Wahrnehmung, dass Gott in einem Menschen, in dem, der zugleich Mensch und Gott war, den vollkommenen Menschen darstellt, ist unendlich groß für uns. Gott zeigt uns so in der Person Christi die charakteristischen Züge, wie sie einem Menschen eigen sind, der vor Gott wandelt. Er zeigt sie in Jesus. Vergessen wir das nie!

Christus hat in dieser Welt gezeigt, was Gott dem Menschen gegenüber war, aber zu gleicher Zeit war Er der vollkommene Mensch vor Gott. Abhängigkeit ist der erste Charakterzug des vollkommenen Menschen. Deshalb kann es nur Nutzen bringen, in Not und Schwierigkeiten zu kommen. Denn aus der Prüfung fließt Segen hervor. Wenn wir abhängig sind, wird die Trübsal nur eine Gelegenheit zu gesegneten Übungen. Der Grund, warum so viele Kinder Gottes diese Abhängigkeit nicht kennen, ist folgender: Sie haben sich noch nie in Schwierigkeiten befunden, aus dem kein Ausweg mehr zu sein schien. Ich bedaure jeden, der das nicht durchgemacht hat. Ich bin überzeugt, dass wir alle einmal diesen Weg zu gehen haben. Denn Gott ist, den Gedanken seines Herzens gemäß, zu treu gegen uns, als dass Er uns nicht Gelegenheit geben würde, zu erfahren, was für eine Segnung es ist, nichts anderes mehr zu haben als den lebendigen Gott. Es kann nur nützlich sein, in eine Lage gebracht zu werden, in der ich keine andere Hilfe vor mir sehe als Ihn allein, den lebendigen Gott. Denn dann macht Gott sich meinem Herzen in einer Weise bekannt, wie ich Ihn nie vorher gekannt habe, und ich erfahre, was es heißt, in der Abhängigkeit geübt zu sein. Hast du schon einmal eine Esche am Abhang eines hohen Hügels stehen sehen? Je heftiger Wind und Sturm an dem schlanken Baum rütteln, desto tiefer senken sich dessen Wurzeln in den Erdboden, vorausgesetzt, dass sie frei und gesund sind. Der Sturm ist ein Segen für den Baum, denn er ist das Mittel, ihn fester und fester mit dem Erdreich zu verbinden.

Ich brauche kaum zu sagen, dass ich von einem Herzen rede, das wirklich vor Gott geübt ist, von einem Menschen, der mit Gott wandelt. Denn für denjenigen, der nicht mit Gott wandelt, haben die Schwierigkeiten die Wirkung, dass sie zwischen die Seele und Gott treten, und das Ergebnis ist notwendigerweise ein geistlicher Niedergang. Im 13. und 14. Kapitel des vierten Buches Moses, wo die Kinder Israel auf dem Punkt standen, ins Land einzuziehen, sehen wir, wie sich die Schwierigkeiten zwischen sie und Gott stellten. Und was war das Ergebnis? Sie verloren das Bewusstsein des Gehorsams. „Sie sprachen zueinander: Lasst uns ein Haupt über uns setzen und nach Ägypten zurückkehren!“ [4Mo 14,4]. Sie murrten, weinten und waren ungehorsam. Aber wenn das Herz wirklich geübt ist, wenn man vorangeht, das Auge fest auf Gott gerichtet ist, dann lernen wir in den Schwierigkeiten Gott in besonderer Weise kennen. Es entsteht ein Geheimnis zwischen der Seele und Gott, ein stilles Einvernehmen, von dem ein Dritter nichts weiß.

Kennst du dies Geheimnis? Ich glaube, dass der Apostel auf dieses Geheimnis anspielt, wenn er in Philemon 4 sagt: „Mein Gott aber wird all euren Bedarf erfüllen.“ Er sagt nicht: „euer Gott“. Warum nicht? Ohne Zweifel war Gott ebenso der Gott der Philipper wie der Gott des Apostels, aber Paulus sprach von Ihm, als ob er Ihn in besonderer Weise für sich kannte. Wohl hat Jesus gesagt: „Mein Gott und euer Gott“ [Joh 20,17]; aber wenn ich von Gott rede, wie ich Ihn für mich kenne, so kann ich sagen: Es gibt Geheimnisse zwischen Gott und mir: „Mein Gott aber wird euch alles Nötige geben“ [Phil 4,19]. Hier haben wir also eine der kostbaren Wohltaten, die die Wüste uns erweist. Wir begegnen Schwierigkeiten, die uns in der Abhängigkeit von dem lebendigen Gott üben.

Die Wüste war eine Gelegenheit für Gott

Wir kommen jetzt zu der zweiten Unterweisung, die die Wüste uns erteilt: der Unterordnung oder dem Gehorsam. Wir lesen in Matthäus 11,25: „Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast“, und dann folgt eines der wunderbarsten Worte, die uns in der ganzen Schrift berichtet werden: „Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir.“ Welch außergewöhnliche Worte von den Lippen des ewigen Sohnes Gottes! In den äußeren Umständen Christi war alles dazu angetan, sein Herz auf das Tiefste zu betrüben. Johannes zweifelte an Ihm; die Städte, die seine gewaltigsten Wunderwerke gesehen hatten, taten nicht Buße; Israel war Kindern gleich, denen man gepfiffen, die aber nicht getanzt hatten, denen man Klagelieder gesungen, die aber nicht gewehklagt hatten. Kapernaum, die bis zum Himmel erhöhte Stadt, sollte bis zum Hades hinabgestoßen werden. Worin fand denn das Herz des Herrn Trost „zu jener Zeit“, als nicht ein einziger Stern die Finsternis, die Ihn umgab, durchbrach? War es nicht in der vollkommenen Unterwerfung unter den Willen des Vaters? „Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir.“ Er nimmt gleichsam Zuflucht zu der vollkommenen Unterordnung des vollkommenen Menschen, und hier findet Er seine Befriedigung.

Und all das stellt Gott uns in einem Menschen vor: vollkommene Abhängigkeit, vollkommenen Gehorsam! Welch eine unaussprechliche Gnade! Nicht nur sind diese beiden Dinge uns offenbart worden, wie es für Gott angemessen war, sondern sie sind zur Darstellung gelangt in der Person, den Wegen, dem Wandel und den Umständen dieses wunderbaren Heilands: Gott, offenbart im Fleisch. Er ist in diese Welt herabgekommen – vergessen wir es nicht! –, nicht nur, um unseren armen Herzen das zu offenbaren, was in dem Herzen Gottes für uns war, sondern um vor Gott und Menschen unter diesen beiden Charakterzügen Abhängigkeit und Gehorsam das darzustellen, was ein vollkommener Mensch vor Gott ist.

In 5. Mose 8 lesen wir:

5Mo 8,2: Du sollst dich an den ganzen Weg erinnern, den der HERR, dein Gott, dich hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste.

Eine vierzigjährige Wanderung war also für Israel nötig. Vierzig Jahre sind sie in der Wüste umhergeirrt, ohne abhängig und gehorsam zu sein. Hast du verstanden, was uns das sagen will? Sind nicht wohl manche von uns dreißig, vierzig, sechzig oder vielleicht achtzig Jahre unterwegs, ohne diese Unterweisung bis heute gelernt zu haben? Dagegen erblicken wir in Christus einen Menschen, der seine Geschichte als vollkommener Mensch in der Abhängigkeit und dem Gehorsam begann. Hierin liegt der Unterschied zwischen Ihm und uns. Wir haben vierzig, fünfzig, achtzig Jahre, je nachdem, nötig und sind noch nicht vollkommen geworden in Abhängigkeit und Gehorsam. Für Christus war es der Ausgangspunkt. Er wurde Mensch durch eine Handlung des Gehorsams. So begann der vollkommene Mensch, Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit, seinen Lauf. Er kam hier auf diese Erde, um ein wahrhaftiger Mensch zu werden, ebenso wie Er wahrhaftig Gott war, vollkommen in allen Dingen, in denen wir nichts tun als versagen. Es liegt ein großer Segen darin, Ihn so stets vor uns zu haben. Welch eine Freude ist es für das Herz, sich von allem anderen abzuwenden und nur Ihn betrachten zu dürfen!

Ohne Zweifel steht dieses unendlich hoch über uns; aber es gibt doch dem Herzen eine Erleichterung, zu sehen, wie Gott in einem Menschen, in seinem eigenen ewigen Sohn, alles gefunden und in Vollkommenheit zur Darstellung gebracht hat, wonach sein Herz verlangte und was wir versäumt haben, vor Ihm darzustellen. Diese Person, der Gegenstand der ewigen Freude des Vaters, wird in der ganzen Vollkommenheit seines Weges, in der vollkommenen Abhängigkeit, in dem vollkommenen Gehorsam, worin Er stets das tat, was seinem Vater gefiel, vor unsere Augen gestellt als das Muster, das einfache Muster von dem, was wir nach Gottes Willen durch seine Gnade und seinen Geist praktisch sein sollten. Ich spreche von der Tatsache, nicht von der Kraft, durch die die Sache zur Ausführung gebracht wird. Möchte der Herr geben, dass die Wüstenreise uns zu diesem Ergebnis diene! Die Wüste ist nicht nur der Ort, wo die Gnade und Macht eines Gott-Heilandes zur Entfaltung kommen und durch alle Schwierigkeiten und Prüfungen hindurch all unseren Bedarf erfüllen können, sondern sie ist auch die Schule, in der Gott uns nach den unendlichen Reichtümern seiner Gnade praktisch bildet, indem Er in uns sein Werk fortsetzt und sich dazu eben jener widrigen Umständen bedient – der Dornen, Hindernisse, Mühen und Schwierigkeiten des Weges –, um so seine Gnadenabsichten in uns zur Vollendung zu bringen um seines Namens willen.

Bevor wir zum zweiten Teil unseres Gegenstandes übergehen, der mir noch kostbarer als der erste erscheint, möchte ich noch einmal auf die Bemerkung zurückkommen, dass die Wüste eine für Gott notwendige Sache gewesen ist im Blick auf seine Wege mit uns. Ein solches Wort mag seltsam erscheinen; aber Tatsache ist, dass die Zuneigungen Gottes den Wüstenweg nötig haben, um sich in ihrer Wirklichkeit offenbaren zu können. Die Wüste ist tatsächlich der einzige Ort, der Gott Gelegenheit gibt, seine unveränderliche Liebe und die treuen Zuneigungen seines Herzens zur Ausübung zu bringen. Im Himmel werden wir keine Sorgen, keine Leiden und Tränen, keine Not, keine Mühen und Prüfungen mehr haben. Alle diese Dinge gehören dem irdischen Schauplatz an, und Gott braucht sie, um sich selbst darin zu offenbaren. Wunderbare Gedanken: göttliche Macht im Dienst der menschlichen Schwachheit, menschliches Elend der Gegenstand des göttlichen Mitgefühls und Erbarmens! In Wahrheit, es war eine Welt wie diese nötig, damit Gott in ihr die ganze zärtliche Liebe zeigen konnte, die sein Herz erfüllt gegen seine armen, geprüften Heiligen. Er naht sich ihnen, Er trägt Sorge für sie, Er tröstet sie, Er pflegt sie, „wie eine nährende Frau ihre eigenen Kinder pflegt“ (1Thes 2,7). Meinst du nicht, dass es zu der Zeit, als die Seele des Paulus gestärkt wurde, für Gott und Christus eine besondere Freude war, zu dem Apostel zu kommen und ihm zuzurufen: „Sei guten Mutes!“? Wenn diese Begebenheit in der Geschichte des Apostels gefehlt hätte, so behaupte ich kühn, dass Gott eine andere Begebenheit geschaffen haben würde. Und das nicht nur wegen Paulus, sondern um aufzuzeigen, in welcher Weise Christus seinem Diener nahe sein wollte und sein Herz zu stärken liebte, weil dieser so treu für Ihn eintrat und für seinen Namen litt.

Die Umstände, durch die wir gehen, bieten Gott die Gelegenheit, sich uns zu offenbaren, sie sind aber nicht die Quelle seiner Tätigkeit. Da ist kein einziger Beweggrund in dem Herzen Gottes, der nicht seine Quelle in Ihm selbst hätte. In uns findet Er keine Beweggründe zum Handeln, wohl aber gibt unser Elend Ihm Gelegenheit, seine Barmherzigkeit zu zeigen. Er findet darin den günstigen Zeitpunkt, um die zärtliche Liebe seines Herzens zu offenbaren. In unseren Leiden entfaltet Er seine Tröstungen, in unseren Schwierigkeiten seine unergründliche Weisheit und Macht. Aber die Beweggründe zu allem sind nur in seinem Herzen. Welch eine gesegnete Tatsache! Alle Quellen sind in Gott selbst, und unsere Umstände bilden für Ihn nur die Gelegenheiten, das zu offenbaren, was bereits in seinem Herzen ist. Wie unendlich ist die Gnade, die sich so tief herablassen kann! Haben unsere Herzen in diesem Augenblick ein Gefühl davon? Ist unter den Lesern einer, der in irgendeiner Weise bekümmert oder geprüft ist? Er möge die herrliche Tatsache erfassen, dass Gott über ihn wacht, dass seine kostbaren Hilfsquellen da sind für alle seine Umstände! Wir dürfen davon überzeugt sein, dass es für das Herz Gottes stets eine Freude ist, uns zu Hilfe zu kommen, und zwar nicht nach unseren Gedanken, sondern nach seiner unendlichen Weisheit und seiner tiefen Liebe; denn es ist sein eigenes Herz, das seine Hand leitet.

Ich weiß, dass ich Gottes Wege nicht immer so verstehe, wie ich sollte und könnte, aber ich sehe immer wieder, dass den Menschen nichts ungläubiger macht, als wenn er versucht, Gott nach den Wegen seiner Regierung zu beurteilen. Große Massen werden in unseren Tagen von dem Unglauben erfasst und verführt. Das ist ein Übel, das beständig zunimmt. Ich kenne manche, die am Glauben Schiffbruch gelitten haben, weil sie auf ihre Umstände, auf die Wege hinblickten, die sie geführt wurden. Sie kannten Gott genügend, um Ihn nicht von ihren Umständen zu trennen; sie glaubten nicht an die schreckliche Anschauung, dass alles vom Zufall geleitet werde. Aber sie beurteilten Ihn nach seinen Wegen mit ihnen, und so verloren sie ihr geistliches Gleichgewicht und wurden an Gott irre. Nein, auf diese Weise gibt Gott nicht das Geheimnis seiner Wege zu erkennen; aber ich will euch sagen, was Er zu erkennen gegeben hat: Da ist nicht ein einziges geheimes Kämmerlein in seinem Herzen, das Er uns nicht geöffnet und offenbart hätte; der vielgeliebte Sohn hat all die Zuneigungen des Vaters kundgemacht. Wir kennen Ihn, wir kennen sein Herz, und wie kostbar ist es, immer wieder dahin fliehen zu können!

Die Wege Gottes sind oft in Wolken und Finsternis gehüllt. Ich erkenne nicht von Anfang an das Ende des Weges, den Er mich führt; vielleicht hält Gott es mir absichtlich verborgen. Aber wenn ich die Liebe zum Ausgangspunkt nehme, die sein Herz erfüllt, seine unendliche Güte, dann weiß und glaube ich und spreche es ohne Furcht aus: „Gott, der Höchste, der Allmächtige, liebt mich für immer.“ Ich messe dann seine Wege nach seinem Herzen und nicht sein Herz nach seinen Wegen. Ich hörte einmal von einem Mann, der das Evangelium der Gnade Gottes und den einzigen Weg, auf dem ein Sünder zu Ihm geführt werden kann, in entschiedenster Weise zurückwies. „Ich kann“, sagte er, „euer ewiges Predigen nicht verstehen. Das Blut, das Blut, immer das Blut! Was für ein Gott ist eigentlich euer Gott? Ich höre euch von nichts anderem reden als von Blut und Tod.“ Die Antwort, die er erhielt, bestand in einer Frage. „Welche Verbindung besteht“, so fragte man ihn, „zwischen dem Gott, von dem Sie in solchen Ausdrücken reden, und dem Opfer, das Sie verachten und das Er doch bereitet hatte?“ Das war die richtige Antwort. Das Opfer war der Sohn seiner Liebe!

Die Erkenntnis der göttlichen Liebe löst alle Fragen: Auf der einen Seite antwortet sie auf die Spöttereien des Ungläubigen; auf der anderen Seite befestigt sie das schwache Herz, das geneigt ist, sich in Verwirrung bringen zu lassen. Gott hat seinen eingeborenen Sohn gegeben, den Sohn seiner Liebe, der von Ewigkeit her in dem Schoß des Vaters war, von dem selbst, als Er hier auf der Erde war, geredet wurde als dem „eingeborenen Sohn, der im Schoß des Vaters ist“ (Joh 1,18). Gott hat Ihn dahingegeben in der unendlichen, unergründlichen, wunderbaren Größe seiner Liebe, um uns allen zu beweisen, dass Er ein Herz hat! Er hat den teuersten Gegenstand seiner Zuneigung dahingegeben, um uns zu beweisen, dass es eine Lüge ist, wenn Satan uns zuflüstert, Gott kümmere sich nicht um seine Geschöpfe.

Ich habe bereits bemerkt, dass es nicht alles ist, dass Gott uns in unseren Umständen entgegenkommt; es gibt in Bezug hierauf eine noch gesegnetere Wahrheit, und die finden wir in Lukas 12 in den wenigen Worten: „Euer Vater aber weiß.“ Jesus sagt nicht: „Euer Vater wird euch zu Hilfe kommen, um euren Bedarf zu erfüllen“ – das wird Er gewiss tun –, sondern Er richtet die Herzen der Seinen auf die Kenntnis des Vaters: „Er weiß.“ Genügt dir das nicht? Genügt es dir nicht in jeder Lage, dass der Vater alles weiß, dass Er ein Auge auf dich gerichtet hält, das nie schläft; dass Er ein Ohr hat, das stets geöffnet ist, eine Liebe, die sich nie verändert? „Er weiß!“ Kostbare Wahrheit! Ruhst du darin?

Möge der Herr uns alle die Tröstungen und die kostbaren Früchte des Wüstenlebens finden lassen! Es ist nötig, dass wir in der Abhängigkeit und dem Gehorsam geübt werden, und andererseits will Gott uns zeigen, dass Er Mitleid mit uns hat in unserer Schwachheit und in unseren Schwierigkeiten und dass Er uns nahe sein will. Und wer könnte uns in solchen Augenblicken so nahe sein wie Gott? Das Mitgefühl des Menschen ist im günstigsten Fall nichts weiter als der Ausdruck seiner eigenen Schwachheit. Aber wenn Gott uns naht, welch ein Segen folgt dann! „Der Herr aber stand mir bei“ [2Tim 4,17], sagt der Apostel, und an einer anderen Stelle: „Ein Engel des Gottes, dem ich gehöre  und dem ich diene, trat in dieser Nacht zu mir“ [Apg 27,23].

Der Herr schenke uns durch seinen Geist, die Schönheit dieser Dinge mehr zu kosten, während wir die öde Wüste dieser Welt durchwandern!


Dieser Artikel stammt ursprünglich von W.T. Turpin und wurde bei der Übersetzung ins Deutsche für den Botschafter des Heils in Christo stark erweitert. [Der Text wurde von SoundWords an wenigen Stellen sprachlich leicht bearbeitet.]


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

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