Der Brief an Titus (3)
Kapitel 3

Willem Johannes Ouweneel

© SoundWords, online seit: 05.12.2016, aktualisiert: 30.04.2023

DIE BEREITSCHAFT ZU JEDEM GUTEN WERK

(5) Die christliche Stellung in der Welt (Tit 3,1-7)

(a) Unsere Haltung gegenüber den Menschen (Tit 3,1.2)

Im vorigen Kapitel hat der Apostel darauf hingewiesen, wie sich die verschiedenen Gruppen im Haus Gottes zu verhalten haben. Ältere haben einen anderen Platz als Jüngere, Männer wiederum einen anderen als Frauen, und die Sklaven nehmen einen ganz besonderen Platz ein. Die verschiedenen Plätze, die jeder einnimmt, erfordern auch verschiedene Ermahnungen. Danach hat Paulus jedoch erläutert, dass die Grundlage für den Wandel der verschiedenen Gläubigen derselbe ist: Die Gnade Gottes ist in der Person Christi erschienen und unterweist uns; jetzt nicht mehr allerlei Gruppen einzeln, sondern es gibt eine Unterweisung in Gnade, die für alle Gläubigen in gleichem Maß gilt, nämlich das Böse zu verleugnen, dem Guten nachzujagen und nach der Herrlichkeit Christi Ausschau zu halten, der dafür alles gut gemacht hat: Er hat uns von aller Gesetzlosigkeit erlöst und uns für sich selbst gereinigt, damit wir Ihm dienen. Titus 2,12 zeigt uns unsere Berufung und Verantwortung, und Titus 2,14 zeigt uns, wie es alles das Werk von Christus ist, der uns dazu befähigt hat.

Im dritten Kapitel, das vor uns liegt, setzt Paulus das Austeilen allgemeiner Ermahnungen für unser praktisches Leben hier auf der Erde fort. Dabei hat er unser Verhalten gegenüber allen Menschen im Auge; nicht nur unsere Haltung gegenüber unseren Mitgläubigen muss in Ordnung sein, sondern wir haben eine Verantwortung gegenüber jedem Menschen, mit dem wir in Berührung kommen. Zum Beispiel zeigt der Apostel in Römer 12 zunächst unser Verhältnis zu Gott auf (Röm 12,1.2), dann unser Verhältnis zu den Mitgläubigen (Röm 12,3-8) und schließlich, am ausführlichsten, unser Verhältnis zu allen Menschen (Röm 12,17.18). Unser Bürgertum ist zwar im Himmel, das nimmt jedoch unsere Verantwortung gegenüber unserem Nächsten nicht weg. Derselbe Brief, der über unser himmlisches Bürgertum spricht (Phil 3,20), sagt auch: „Lasst eure Milde kundwerden allen Menschen“ (Phil 4,5). Das alles ist nur in der Kraft des Heiligen Geistes möglich. Das ist für dieses Kapitel kennzeichnend.

In Titus 1 haben wir gesehen, was Gott getan hat (Tit 1,1-4): Er hat uns auserwählt; Er hat das ewige Leben verheißen in der Ewigkeit, noch bevor die Zeit war; Er hat zu seiner eigenen Zeit sein Wort offenbart; Er hat die Predigt seines Wortes Paulus anvertraut, und Er schenkt Gnade und Frieden im praktischen Leben. Titus 2 zeigt uns, was Christus getan hat und tun wird: Er ist als die Gnade von Gott ausgehend erschienen; Er bietet allen Menschen das Heil an; Er unterweist die Gläubigen, das Verkehrte zu unterlassen und das Gute zu tun; Er wird unsere Hoffnung erfüllen; und Er wird in Herrlichkeit erscheinen. Er hat sich für uns gegeben, Er hat uns von aller Gesetzlosigkeit erlöst, und Er hat sich ein eigenes Volk gereinigt (Tit 2,11-14). In Kapitel 3 kommt nun der Heilige Geist dazu: Gott hat uns errettet durch die Waschung der Wiedergeburt und die Erneuerung des Heiligen Geistes, den Er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland. Nur in der Kraft dieses Geistes können die Ermahnungen in unseren Versen zu Herzen genommen werden.

Tit 3,1.2: 1 Erinnere sie daran, Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein; 2 niemand zu lästern, nicht streitsüchtig zu sein, milde, alle Sanftmut zu erweisen gegen alle Menschen.

Erinnere sie

Diese Ermahnungen umfassen sieben Punkte – genau wie unsere früheren Eigenschaften in Vers 3 auch in sieben Punkten aufgezählt werden. Genauso verdorben, wie unser früherer Wandel war, so vollkommen kann unser Wandel jetzt sein, wenn wir nur auf den Herrn sehen und der Kraft seines Geistes vertrauen. Wie gesagt, beziehen sich diese Ermahnungen auf unser Verhältnis zu den Mitmenschen. Zunächst denkt Paulus dabei an die Hochgestellten unserer Mitmenschen, nämlich an die Obrigkeit. Eine Ermahnung hierzu wurde wohl angesichts des aufrührerischen Charakters der Kreter für nötig erachtet (vgl. Tit 1,9-16). Diodunus Siculus, ein alter Geschichtsschreiber, redete bereits von ihrer rebellischen Aufmüpfigkeit. Paulus muss wohl schon früher über diese Dinge gesprochen haben, denn Titus soll sie den kretischen Gläubigen „in Erinnerung rufen“. Dieses Wort bedeutet auch: „erneut Beachtung schenken“, manchmal mit dem Nebengedanken der „Ermahnung“ (s. Joh 14,26; Lk 22,61; 2Tim 2,14; 3Joh 10; Jud 5). Das Wort steht im Präsens, was im Griechischen darauf hindeutet, dass dieses „Erinnern“ beständig und immer wieder aufs Neue geschehen sollte. Die „sie“ in Titus 3,1 sind natürlich die kretischen Gläubigen, über die in Titus 2,1-10 geredet wurde.

Obrigkeiten und Gewalten

Die erste der sieben Ermahnungen ist die, dass sie den Obrigkeiten und Mächten untertan sein sollen. Das Wort Obrigkeit ist archè; dieses Wort kann auch „Anfang“ bedeuten (z.B. in Joh 1,1), manchmal auch mit der Zusatzbedeutung „Vorrang“ (z.B. Kol 1,18). Das deutet auf die hin, die über uns erhaben sind, seien es himmlische oder irdische Personen. Das Wort „Gewalt“ ist exoesia, das von einem Verb abgeleitet ist und „(gesetzlich) erlaubt sein“ bedeutet und mehrmals im Neuen Testament vorkommt (z.B. Mt 22,17). Das Wort exoesia bedeutet in der Einzahl: „durch gesetzmäßige Autorität gedecktes Recht zur Machtausübung“. Dies zeigt sich klar beim Gebrauch dieses Wortes zum Beispiel in Matthäus 9,6; Johannes 1,12 und 19,11. In der Mehrzahl weist es auf „gesetzmäßige Autoritätsträger“ hin, meist wiedergegeben durch „Mächte/Gewalten“ […]. Die Kombination aus Obrigkeiten und Gewalten (Einzahl oder Mehrzahl) kommt an acht Stellen in den Briefen vor, nämlich nebst dieser noch in 1. Korinther 15, dreimal in Epheser und dreimal in Kolosser. Übrigens fehlt in unserem Vers das Wort „und“ in den drei ältesten und wichtigsten Handschriften. Es ist der Mühe wert, dem nachzugehen, auf welche Weise im Neuen Testament über „Obrigkeiten und Gewalten“ gesprochen wird.

Gemäß Philipper 2,10 gibt es drei Klassen von Menschen: diejenigen, die im Himmel sind (eig. himmlisch); diejenigen, die auf der Erde sind (eig. irdisch); und die, die unter der Erde sind (eig. unterirdisch, in der Unterwelt). Jede dieser drei Klassen kennt ihre Obrigkeiten und Mächte. Die erste sind die Engel, die zweite die menschlichen Obrigkeiten und die dritte die Dämonen. Alle Obrigkeiten und Mächte, die es gibt, sowohl die in den Himmeln als auch die auf der Erde, sind in, durch und für Christus geschaffen (Kol 1,16); das heißt, Er schuf nur die himmlischen und irdischen Obrigkeiten als solche, jedoch sind die Dämonen ursprünglich als Engel geschaffen worden, und später sind sie mit Satan von Gott abgefallen. Die Engel sind die Obrigkeiten und Mächte in den himmlischen Örtern, denen nun durch die Versammlung die vielfältige Weisheit Gottes bekannt gemacht wird (Eph 3,10). Die Dämonen sind die Obrigkeiten, die Mächte und die Weltbeherrscher dieser Finsternis, die geistlichen (Mächte) der Bosheit in den himmlischen Örtern (Eph 6,12). Die Regierungen der Nationen sind die irdischen Obrigkeiten und Mächte (Lk 12,11; 20,20 (EZ); unser Vers). Gott übt seine Regierung durch die Engelmächte im Himmel und durch die Regierungen auf der Erde aus (vgl. Spr 21,1). Andererseits ist der Teufel der Oberste dieser Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11) und der Gott dieses Zeitlaufs (2Kor 4,4), und er gebraucht seine eigenen Engelmächte sowie die irdischen Regierungen, um den Herrn und seinen Gesalbten zu bekämpfen (Ps 2,1-3). Dies schränkt die Macht Gottes jedoch nicht ein, denn in Wirklichkeit kann Satan keinen Schritt weiter gehen, als Gott ihm zugesteht (siehe die Geschichte Hiobs); im Prinzip ist er sogar ein Instrument in der Hand Gottes (vgl. 2Sam 24,1 mit 1Chr 21,1).

Im Grunde hat der Herr Jesus diese dämonischen Mächte auf dem Kreuz schon besiegt; Er hat die Obrigkeiten und die Gewalten entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt und durch das Kreuz über sie triumphiert (Kol 2,15). Darum ist Er nicht nur der Schöpfer aller Obrigkeiten und Gewalten, sondern nach seinem Werk auf dem Kreuz ist Er nun auch als Mensch durch Gott in den himmlischen Örtern zu seiner Rechten gesetzt worden, über jedes Fürstentum/Obrigkeit und jede Autorität (Gewalt/Macht) und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem, sondern auch in dem zukünftigen Zeitalter (Eph 1,20.21). Er ist das Haupt jeder Obrigkeit und Autorität (Kol 2,10). Er ist in den Himmel aufgefahren, während Engel, Mächte und Kräfte Ihm unterworfen sind (1Pet 3,22). Darum können weder Engel noch Obrigkeiten noch Mächte noch irgendein anderes Geschöpf uns von der Liebe Gottes scheiden, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn (Röm 8,38.39). Während seiner zukünftigen Regierung wird der Herr tatsächlich jede Obrigkeit und jede Macht und Kraft vernichten, wonach Er dann das Königreich seinem Gott und Vater übergeben wird (1Kor 15,24.25).

Die irdischen Obrigkeiten und Mächte sind die Regierungen, die Gott über die Völker gesetzt hat. Auf welche Weise sie auch an die Macht gekommen seien (demokratisch, diktatorisch oder revolutionär), die Schrift nennt die Obrigkeiten Einrichtungen Gottes und Dienstknechte Gottes (Röm 13,2.4). Deswegen müssen wir um des Herrn willen der Obrigkeit untertan sein, sei es dem König als dem Höchsten oder dem Stadthalter als dem, der vom König gesandt ist, damit er die Übeltäter bestrafe, jedoch die lobe, die Gutes tun (1Pet 2,13.14). Hierzu ermahnte Petrus die gläubigen Juden und Paulus die gläubigen Römer (Röm 13,1-7) und Kreter. Wir sind zwar Himmelsbürger, was aber gewiss nicht heißt, dass wir mit der irdischen Obrigkeit nichts zu tun haben in dem Land, in dem wir zu Gast sind. Wir sind Gesandte in einem fremden Land, und wir unterwerfen uns wie jeder Gesandte den Regeln des Landes, zu dem wir gesandt sind. Gott selbst hat die Obrigkeiten auf Erden eingesetzt. Vor der Sintflut gab es keine Menschen, die über ihre Mitmenschen gestellt waren; niemand hatte das Recht, einen anderen wegen seiner Sünde zu strafen. Als Kain sich fürchtet, dass andere ihn wegen seiner Bosheit töten könnten, verhindert Gott dies und behält sich selbst das Recht zur Rache vor (1Mo 4,14.15). Nach der freien Entfaltung der Verdorbenheit des Fleisches, die in der Sintflut endet, beginnt Gott jedoch, das Böse einzudämmen, indem das Recht zur Rache in die Hände der Menschen übergeben wird: „Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden“ (1Mo 9,6). Da nach der Sintflut die Menschen außerdem in Nationen aufgeteilt wurden, entstanden die verschiedenen Obrigkeiten über die einzelnen Völker, eingesetzt, um die Gewalt zu zähmen (Röm 13,4).

Das heißt nicht, dass diese Obrigkeiten sich darüber im Klaren waren, von Gott angestellt worden zu sein. Meistens sogar gerade nicht. Es waren meistens Ungläubige oder sogar feindliche und grausame Mächte. Es ist bemerkenswert, dass Paulus den Römern gerade dann schrieb, dass sie den Obrigkeiten untertan sein sollten, als Kaiser Nero regierte, der die Christen verfolgte. Das verändert nämlich nichts an unserer Pflicht, ihnen untertan zu sein, denn die Obrigkeiten sind von Gott eingesetzt. Außerdem: Sogar ein schonungsloser, feindlicher Herrscher ist immer noch besser als Anarchie, bei der jede Regierung beiseitegesetzt ist und jede Ordnung und jedes Recht untergegangen ist. Von der Zeit der Richter lesen wir: „In jenen Tagen war kein König in Israel; jeder tat, was recht war in seinen Augen“ (Ri 17,6). Von Nebukadnezar lesen wir, dass der Gott des Himmels ihm ein Königtum, Macht, Stärke und Ehre gegeben und ihn zum Herrscher über Mensch und Tier gesetzt hatte (Dan 2,37.38; vgl. Dan 4,17.25.26; 5,18.19). Er musste nicht nur selbst erkennen, dass jede Macht, die er hatte, von Gott abstammte, sondern auch die Menschen mussten sein Königtum anerkennen als von Gott gegeben. Darum sah Gott die Juden, die sich freiwillig unter das Joch Nebukadnezars beugten, zum Guten an, während Er den anderen das Gericht verkündigte (Jer 24).

Untertan sein

Das „Untertansein“ haben wir schon in Titus 2,5.9 überdacht. Überall, wo im irdischen Gefüge einige Personen in Gottes Schöpfungsordnung oder in seinen Regierungswegen anderen unterstellt sind, gehört sich ein Geist der Untertänigkeit. Das gilt für die Frau gegenüber ihrem Mann, für den Knecht gegenüber seinem Meister und für den „Untertanen“ gegenüber der Obrigkeit (wie die Worte es schon selbst ausdrücken). „Untertänigkeit“ drückt eine Haltung aus, die wir den Autoritäten gegenüber einnehmen; wir haben mit den Autoritäten nichts zu tun, außer dass wir ihnen untertan sind. Das kommt darin zum Ausdruck, dass wir ihnen gehorchen, insofern ihre Befehle nicht mit Gottes Wort im Widerspruch stehen, und dass wir weiterhin unsere Steuern bezahlen (Röm 13,6.7) und Fürbitten und Danksagungen für sie tun (1Tim 2,1.2). Mehr jedoch nicht! Unsere Untertänigkeit lässt nicht zu, dass wir uns in die Regierung einmischen oder auf die Wahl der Regierung Einfluss üben. Wir würden unsere Berufung und Stellung als ausländische Gesandte in einem fremden Land vollständig verleugnen, wenn wir uns mit Regierungsgeschäften in dem Land, in dem wir zu Gast sind, bemühen würden. Vielleicht haben wir noble Absichten: Einfluss nehmen, damit möglichst eine christliche Regierung zusammengestellt wird, die einen positiven, evangelischen Einfluss in dieser Welt haben kann. Doch das ist Selbstbetrug. Lot hatte womöglich auch solche edlen Motive, als er als Gerechter zwischen den Ältesten in den Toren des gottlosen Sodom Platz nahm. Doch er irrte jämmerlich: Sodom wurde dadurch nicht besser, und er selbst verlor alles, was er hatte, und wurde zwar errettet, doch wie durchs Feuer.

Für uns ist die Zeit des Herrschens noch nicht gekommen (1Kor 4,8). Wir verlangen zwar nach der Zeit, in der wir mit Christus herrschen werden, doch das wird erst über das zukünftige Erdreich sein (Heb 2,5); jetzt ist noch die Zeit des Ertragens (2Tim 2,20). Ein Gesandter in einem fremden Land kümmert sich nicht um die Regierung dieses Landes, wiewohl er dort untertan ist. Doch wenn Krieg zwischen dem fremden Land und seinem eigenen Land droht, dann wird er, kurz bevor der Kampf losgeht, durch seine eigene Regierung zurückgeholt werden (so wie die Gemeinde kurz vor den Gerichten aufgenommen werden wird). Wenn dann seine eigenen Landsleute das fremde Land erobert haben, dann erst ist für den Gesandten die Zeit gekommen, um über das Land zu regieren, eher jedoch nicht. Auch für uns kommt die Zeit des Regierens erst, wenn Christus bei seinem Kommen sich die Völker unterworfen hat. Dann wird der eine über zehn Städte herrschen und der andere über fünf (Lk 19,1-9). Es ist ein ernstes Missverständnis, zu meinen, dass die Welt durch das Evangelium für Christus gewonnen werden wird. Wenn der Sohn des Menschen kommt, wird Er wohl Glauben finden auf der Erde (Lk 18,8)? Nein, nicht durch das Evangelium, sondern „wenn deine Gerichte die Erde treffen, so lernen die Bewohner des Erdkreises Gerechtigkeit“ (Jes 26,9).

Diesen Platz der Untertänigkeit gegenüber den Autoritäten, ohne sich in ihre Sachen einzumischen, hat auch der Herr Jesus immer eingenommen. Nie wollte Er den Platz eines irdischen Richters einnehmen (Lk 12,13.14), sondern Er erkannte hingegen die Autorität der bestehenden Regierungen an. Zu den Herodianern sagte Er: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). Und zu Pilatus sagte Er: „Du hättest keinerlei Gewalt gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11); und während Er tatsächlich als Sohn über ihnen stand (ja, ihr Schöpfer war), unterwarf Er sich ihnen als Mensch (Mt 17,24-27). Dieser letzte Abschnitt macht klar, was jetzt der Charakter der Kinder des Reiches ist: Sie sind freie Söhne, Erben der Schöpfung (sogar die Fische sind ihnen unterworfen), momentan sind sie aber noch den bestehenden Obrigkeiten untertan. So haben die Apostel dies auch aufgefasst; ihre Haltung gegenüber dem Synedrium war eine der Untertänigkeit, wenngleich ihr Gehorsam nicht weiter ging, als ihre Unterwerfung unter Gott ihnen zuließ (Apg 4,19; 5,29).

Gehorsam leisten

Das führt uns zur nächsten Ermahnung in unserem Vers: „Gehorsam zu leisten“. Das ist im Griechischen ein ganz besonderes Wort (nicht das gewöhnliche Wort für „gehorsam sein“), das nur hier und in Apostelgeschichte 5,29.32; 27,21 vorkommt (in Apg 27,21 mit „hören“ übersetzt). Das Wort ist peitharcheo, von peitho („gehorchen“) und archè („Obrigkeit“), also: „dem gehorchen, was über uns steht“. Das gilt nicht nur für die Regierung, sondern für alles, was über uns steht. Es ist also ganz allgemein gemeint. Bei der Betrachtung von Titus 2,9 wurde schon darauf hingewiesen, dass es einen großen Unterschied zwischen Untertänigkeit und Gehorsam gibt. Das Erste ist eine andauernde, passive Haltung eines Untergebenen gegenüber einem Vorgesetzten; das Zweite ist keine passive Haltung, sondern ein aktives Ausführen von Befehlen. Wenn ein Vorgesetzter etwas von uns erbittet, was wir nicht ausführen können, weil wir dann Gott gegenüber ungehorsam wären, dann dürfen wir unsere untertänige Haltung nicht aufgeben, wenngleich wir unserem Vorgesetzten nicht gehorchen dürfen. Wenn die Regierung von gläubigen jungen Männern erwartet, dass sie als Militärs andere erschießen, dann ist klar, dass dies für viele von ihnen etwas ist, was sie unmöglich mit ihrer christlichen Stellung in Einklang bringen können. Doch soweit möglich – und wir dürfen vor allen Dingen unsere Abneigung gegen etwas (z.B. gegen den militärischen Dienst!) nicht mit Gewissensnot verwechseln – müssen wir immer und überall denen gegenüber gehorsam sein, die über uns stehen. Über allem steht nämlich, dass wir sogar jeden Gedanken unter den Gehorsam des Christus gefangen nehmen sollen (2Kor 10,5). Sind wir nicht auserwählt zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi auserwählt (1Pet 1,2)? Wir mögen zwar nicht unter Gesetz stehen so wie die Juden (Röm 6,14), doch wir sind auch keine gesetzlosen Heiden, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen (1Kor 9,20.21).

Zu jedem guten Werk bereit sein

In diesen zwei Versen ist ein gleitender Übergang von unserer Haltung gegenüber der Obrigkeit hin zu der Haltung gegenüber allen Menschen. Die Untertänigkeit in Vers 1 bezieht sich ganz auf die Obrigkeit; gemäß einiger Ausleger auch das Gehorsamsein, was sicher für die Obrigkeit gilt; dennoch müssen wir auch allen anderen gehorsam sein, die über uns stehen. Auch bei dem nächsten Ausdruck „zu jedem guten Werk bereit sein“ denken viele ausschließlich an die Werke, die die Obrigkeit uns zu tun auftragen kann (vgl. Röm 13,3), wobei das „gut“ darauf hinweisen soll, dass wir der Obrigkeit nicht gehorchen müssen, wenn sie uns ein verkehrtes Werk aufträgt. Doch auch hier ist die Bedeutung sicher weiter zu fassen: Wir müssen zu jedem guten Werk bereit sein, das unsere Hand zu tun findet (vgl. Pred 9,10). „Gut“ hat hier wieder die Bedeutung von dem, was nützlich und heilsam für unsere Mitmenschen ist, genau wie in Titus 1,16; vergleiche Titus 2,7.14. „Bereit“ oder „zubereitet“ hat die Bedeutung von „fertig“, so wie es oft übersetzt wird (z.B. in Mt 24,44; 25,10; Apg 23,15.21; „bereit“ z.B. in Lk 22,33; 1Pet 3,15)[1].

In 2. Timotheus 2,21 lehrt der Apostel uns, wie wir seine Ermahnung befolgen können: Nur wenn wir keine falschen Verbindungen zu Personen haben, die Ungerechtigkeit lehren oder tun, können wir ein Gefäß zu Gottes Ehre sein, geheiligt, brauchbar für den Meister, bereit für jedes gute Werk. Indem wir uns von dem Bösen fernhalten, sind wir für das Gute brauchbar; und wenn wir nebst der Brauchbarkeit auch noch die Bereitschaft zu jedem guten Werk haben, dann kann der Meister uns solche Werke in den Weg legen. Auch das Wort Gottes wirkt mit, so dass wir vollständig zu jedem guten Werk zugerüstet werden (2Tim 3,17). Der Herr ist hierin, wie in allem, das vollkommene Vorbild. Er ging „wohltuend“ durch das Land (Apg 10,38). Sein Leben war vollständig auf das Tun des Willens Gottes ausgerichtet sowie auf das Heil und Wohlsein des Mitmenschen. Er zeigt uns auch, dass „Gutestun“ nicht „Mitmachen“ bedeutet! Manche scheinen zu denken, dass sie aus Mitmenschlichkeit und Freundlichkeit mit der Welt mitmachen müssen, um ihren guten Willen zu zeigen. So eine Haltung ist jedoch zum Schaden der eigenen Seele, und man betrügt sich sehr, wenn man meint, dass man so die Welt gewinnen kann. Der Herr nahm sich des Schicksals der Sünder an, blieb aber gleichzeitig vollkommen rein von ihren Sünden. Wir haben eine Aufgabe für die Welt, jedoch keine Aufgabe mit der Welt.

Niemand lästern

In Titus 3,2 wird in jedem Fall klar, dass es um alle Menschen geht, was unsere Haltung ihnen gegenüber betrifft. Nach drei positiven Ermahnungen folgen nun zwei negative. Sieben Stücke lassen sich in der Schrift oft in drei und vier einteilen und die vier in zwei und zwei. Die ersten drei Ermahnungen gehören hier eindeutig zueinander, dann folgen zwei negative und zwei positive Ermahnungen (siehe dieselbe Einteilung in Titus 3,3.7). „Lästern“ bedeutet: Böses von jemand erzählen. Im Prinzip ist nicht einmal wichtig, ob das Böse nun wahr ist oder nicht – wenn wir übel von jemand sprechen, machen wir etwas falsch. Das Schlimmste ist natürlich, wenn wir üble Dinge über jemand weitergeben, die gar nicht wahr sind. Wenn wir lästern, obwohl wir wissen, dass wir lügen, sind wir gänzlich zu verurteilen; doch auch wenn wir nicht wissen, ob das, was wir tratschen, falsch ist, hätten wir nichts sagen dürfen, um nicht der Gefahr zu erliegen, auf irgendeine Weise einen Mitmenschen falsch zu beschuldigen. Und selbst wenn wir vollkommen davon überzeugt sind, dass das, was wir übel reden, richtig ist, dann hätten wir eventuell immer noch mit dem Betreffenden selbst reden können, unter vier Augen und in aller Sanftmut, jedoch niemals mit anderen.

Selbstverständlich sind die, die „Herrlichkeiten“ lästern, die größten Lästerer (2Pet 2,10; Jud 8.10), doch das Wort sagt, dass wir jede Lästerung aus unserer Mitte wegtun sollen (Eph 4,31). Im Reich Gottes ist für Lästerer kein Platz (1Kor 6,10). Wenn jemand meint, Gott zu dienen, aber seine Zunge nicht im Zaum hält, sondern sein Herz betrügt, dessen Gottesdienst ist wertlos (Jak 1,26). Wir könnten vielleicht noch verstehen, dass wir von unseren Mitgläubigen nicht übel reden dürfen, jedoch sagt unser Vers, dass wir keinen Menschen lästern dürfen. Das macht es viel schwieriger, weil wir in einer Welt von Verfall und Verderben leben, wo die Menschen in einem Pfuhl von Zügellosigkeit leben und uns lästern, weil wir bei ihnen nicht mitmachen (1Pet 4,4). Wir laufen dann ganz schnell Gefahr, dass wir uns über unsere Mitmenschen stellen und sie wegen ihrer Sünden geringschätzen oder verachten. Wir werden jedoch in Vers 3 sehen, wie der Apostel uns ernstlich darauf hinweist, dass wir früher, vor unserer Erlösung, um kein Haar besser waren. Und sogar jetzt kann die böse Welt um uns her noch einen Bundesgenossen in unserem eigenen Fleisch finden, wenn wir nicht wachsam sind. Das macht uns bedächtig: Wir beschäftigen uns nicht mit dem Bösen anderer und reden noch weniger darüber, weil wir selbst auch so waren und unser eigenes Herz etwas kennen, und wir richten unsere Augen auf das, was droben ist – nicht aus Geringschätzigkeit gegenüber dem, was sich um uns her abspielt, sondern aus einem Selbstschutz heraus und um echte Befriedigung für unser Herz zu finden.

Nicht streitsüchtig sein

Früher lebten auch wir in Bosheit und Neid (Tit 3,3); doch jetzt ist die Gnade Gottes erschienen, und diese Gnade ist an die Stelle des Geistes des Widerstands und der Gewalt getreten, der früher in unserem Herzen war. Das Herz des Ungläubigen ist die Quelle jeden Eigenwillens und jeder Selbstbehauptung, nur auf das eigene Ich ausgerichtet. Doch Gottes Gnade ging uns nach und überwältigte uns; sie nahm unser Herz gefangen und vertrieb daraus alle Bosheit, jeden Betrug, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut und Unverständnis (vgl. Mk 7,20-23). Wenn Gott uns so seine Gnade erwiesen hat, sollten wir dann nicht milder gegenüber denen sein, die noch in der Sünde gefangen sind? Wenn es für uns Gnade gab, lasst uns diese dann auch unserem Nächsten zeigen. Ein streitsüchtiger Geist wäre hiermit in vollkommenem Widerspruch. Das Wort „nicht-streitsüchtig“ bedeutet eigentlich „nicht-kämpfend“ oder „ohne Kampflust“. Speziell der Aufseher darf nicht streitsüchtig sein (1Tim 3,3), und auch den Knechten des Herrn wird gesagt, dass sie nicht streiten sollen (2Tim 2,23.24).

Wenn bestimmte Personen mit uns debattieren und sich dabei aufregen, laufen wir auch Gefahr, in ein Streitgespräch hineingezogen zu werden. Doch dann würden wir wieder auf den niedrigen Pegel zurückfallen, von dem wir gerade erlöst sind (vgl. Tit 3,3: „in Bosheit und Neid leben, verhasst und einander hassend“). Wir müssen gerade freundlich bleiben, duldsam und den Gegner in Sanftmut zurechtweisen, wie 2. Timotheus 2,24.25 und auch unser Vers sagen. Dann haben wir zumindest die Chance, sein Herz zu erreichen, denn sonst werden wir ihn gegen uns in den Harnisch jagen. „Ein zorniger Mann erregt Zank, aber ein Langmütiger beschwichtigt den Streit“ (Spr 15,18). „Ehre ist es dem Mann, vom Streit abzustehen; wer aber ein Narr ist, stürzt sich hinein“ (Spr 20,3). Die wahre Haltung eines Gläubigen gegenüber dem Nächsten wird nach diesen zwei negativen Kennzeichen („lästern“, „streitsüchtig“) in zwei positiven Kennzeichen dargestellt, die dazu einen Gegensatz bilden. Dies vervollständigt die sieben Stücke.

Milde

Als Erstes soll der Gläubige „milde“ sein [WJO hat „freundlich“]. Es ist nicht leicht, eine befriedigende Übersetzung des Wortes epieikès zu geben. Es stammt von dem Grundwort eikos, das „wahrscheinlich“ bedeutet, weshalb unser Wort auf das hindeutet, was „auf der Hand liegt“, was in einer bestimmten Situation recht und angemessen ist. Jemand, der immer danach sucht, was in jeder Situation passend ist und sich gut einfügt, ist daher „gefügig, nachgiebig“ (inschikkelijk in der Voorhoeve-Übersetzung, 4. Aufl.) und „bescheiden“ (Statenvertaling). Es ist jemand, der nicht rigoros auf sein Recht beharrt, sondern sich den Umständen zu fügen weiß, so wie es für den Mitmenschen am besten ist. Der Gemütszustand, aus dem diese Haltung hervorkommt, wird vielleicht am besten wiedergegeben mit „freundlich“ (NBG; King-James­-Übersetzung; Kelly). Darby übersetzt „mild“. Dies wird in 1. Timotheus 3,3 als notwendige Eigenschaft für Aufseher erwähnt. In Jakobus 3,17 ist „Milde“ eine Eigenschaft der Weisheit, die von oben ist; wahre Weisheit hält nicht blindlings an einem Wahn fest, sondern übersieht mit Einsicht die Umstände und erkennt, was in ihnen die am besten passende Haltung ist. In 1. Petrus 2,18 ist die Rede von „milden“ Herren, die nicht blindlings einen Befehl geben, sondern dies angemessen und freundlich tun. In Philipper 4,5 wird dies zum Beispiel als selbständiges Nomen gebraucht: „Lasst eure Milde kundwerden allen Menschen.“ Dort ist es eine Ermahnung an alle Gläubigen, genau wie in unserem Vers, und zwar so stark, dass ihre Milde den Menschen auffallen sollte, so dass sie davon reden würden.

In Apostelgeschichte 24,4 und in 2. Korinther 10,1 finden wir das echte selbständige Nomen epieikeia („Wohlwollen“). Im letzten Vers bezieht es sich auf Christus in Verbindung mit „Sanftmut“, über die auch in unserem Vers geredet wird. Christus ist auch hierin unser vollkommenes Vorbild. Er konnte sagen: „Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29). Er fügte sich vollkommen in die Wege Gottes, auch als diese zum Kreuz hinführten. „Wie ein Lamm wurde er zur Schlachtung geführt, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern“ (Jes 53,7). Sich den Umständen zu fügen heißt nicht, dass wir uns „angleichen“, uns der Welt anpassen. Wir sollen nicht auf unsere eigenen Rechte beharren, aber wohl auf die von Gott! Der Herr war vollkommen sanftmütig, das heißt aber nicht, dass Er sich den Geboten der Pharisäer fügte. „Freundlichkeit“ schließt „Entschlossenheit“ nicht aus, wenn es um die Heiligkeit und den Willen Gottes geht.

Alle Sanftmut erweisen gegen alle Menschen

Eigentlich werden die Ermahnungen immer schwieriger; „niemand zu lästern“ bezieht sich auf den verkehrten Wandel anderer, und „streitsüchtig“ können wir werden, wenn die anderen sich gegen uns wenden und uns ärgern. Doch wir dürfen nicht nur nicht streiten, sondern müssen solche Menschen sogar freundlich und bescheiden behandeln und nicht auf unser Recht beharren. Und schließlich sagt der Apostel sogar, dass wir das nicht in Maßen tun sollen, sondern dass wir jede mögliche Sanftmut erweisen sollen, und zwar nicht nur den netten Menschen gegenüber, sondern allen Menschen. Diese Haltung ist nur durch eine totale Selbstverleugnung möglich, in der Kraft des Heiligen Geistes und aus Liebe zu den Mitmenschen. Beständig vor Augen habend, dass auch wir früher in Bosheit und Neid lebten, verhasst und einander hassend (Tit 3,3). Deswegen müssen wir denen, die sündigen, „im Geist der Sanftmut“ begegnen (1Kor 4,21; Gal 6,1; vgl. 2Tim 2,25).

Es ist die wahre Haltung für die berufenen Auserwählten (Eph 4,2; Kol 3,12) und gehört zur Frucht des Geistes (Gal 5,22). Darum müssen wir dem nachjagen (1Tim 6,11; vgl. Jak 3,13). „Freundlichkeit“ redet mehr von unserer Haltung im Hinblick auf die Umstände, während „Sanftmut“ eine Gesinnung des Herzens ist, die sich durch Gottes Gnade dahingehend auswirkt, dass wir nicht murren oder uns dem Willen Gottes widersetzen. Deswegen geht sie immer mit Demut (Eph 4,2; Kol 3,12) und Selbstbeherrschung (Gal 5,23) einher. Sanftmut ist nicht die Folge eines weichen oder schlaffen Gemüts, wie das Wort vielleicht vermuten lassen könnte, sondern die Folge der kraftvollen Wirkung des Heiligen Geistes in uns. Und dies „allen Menschen gegenüber“, in der Nachahmung dessen, was Gott einst tat, als seine heilbringende Gnade „allen Menschen“ erschien (Tit 2,11). Gott macht keinen Unterschied, sondern Er bietet in seiner Gnade das Heil allen Menschen an; deswegen dürfen auch wir keinen Unterschied machen und sollen die Sanftmut allen Menschen erweisen. Manche sagen auch, dass der Ausdruck „gegen alle Menschen“ sich auch auf die beiden vorhergehenden Ermahnungen bezieht, also: „nicht streitsüchtig gegen alle Menschen“ und „freundlich gegen alle Menschen“ (vgl. Phil 4,5). Siehe Römer 12,17.18; 1Thes 5,15).

(b) Unser Unterschied zu den Menschen (Tit 3,3-7)

Tit 3,3: Denn einst waren auch wir unverständig, ungehorsam, irregehend, dienten mancherlei Begierden und Vergnügungen, führten unser Leben in Bosheit und Neid, verhasst und einander hassend.

Wie wir gesehen haben, beschreibt Paulus in Titus 3,1.2, wie unsere Haltung den Menschen gegenüber sein muss, die uns umringen. Einerseits müssen wir den Mächten, die über uns stehen, untertan sein und gehorchen, aber andererseits dürfen wir mit der Welt nicht mitmachen, weder in der Regierung noch in den bösen Werken (Lästerung, Streit) dieser Welt. Wir müssen aber gerade sehen lassen, dass wir anders sind als die Weltlichen, indem wir uns ihnen gegenüber sanftmütig und freundlich benehmen, egal, wie sie zu uns sind. Wie schon ein Vater zu seinem Sohn sagte: „Behandle alle Menschen freundlich, auch wenn sie grob zu dir sind; du musst freundlich zu ihnen sein, nicht weil sie Christen sind, sondern weil du einer bist.“ Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das nicht mit einem Überheblichkeitsgefühl geschehen darf. Der Vers, den wir vor uns haben, zeigt, dass wir früher genauso schlimm waren und von Natur aus um kein Haar besser sind. Und Titus 3,4 zeigt uns, dass, wenn wir nun schon besser sind, dies nicht aufgrund von Werken, die in Gerechtigkeit vollbracht wir getan hätten, geschehen ist, sondern aufgrund der Barmherzigkeit unseres Heiland Gottes. Und das nicht, indem Er unseren alten Menschen verbesserte, sondern indem Er uns in eine ganz neue Stellung gebracht hat (die „Regeneration“; Tit 3,5) und indem Er uns durch die Kraft des Heiligen Geistes vollkommen erneuerte. Unser Betragen gegenüber den Menschen muss daher von drei Prinzipien bestimmt werden: Wir waren nicht besser als die anderen (Tit 3,3), und was wir jetzt sind, sind wir nicht durch eigenen Verdienst, sondern durch Gottes Barmherzigkeit; und drittens: Gottes Güte und Menschenliebe, die Er uns erwies, sind uns Vorbild, wie wir dem Nächsten gegenüber zu handeln haben (Tit 3,4-7).

Denn einst waren auch wir

Das Wörtchen „denn“ zeigt die Verbindung zwischen Titus 3,1.2 und Titus 3,3-7 auf. Es macht deutlich, dass unser Wandel in Vers 1 und 2 durch das bestimmt werden muss, was in den Versen 3 bis 7 steht. Die Grundlage dieses Wandels ist Gnade. Wir, Gläubige aus den Nationen, waren vor unserer Bekehrung nicht unter Gesetz, und zum Glück hat Gott uns nach unserer Erlösung nicht unter Gesetz gebracht. Wir sind aus Gnaden erlöst, und wir leben aus Gnaden. Darum müssen wir unseren Mitmenschen Gnade erweisen, „denn“ auch uns ist Gnade erwiesen worden.

Israel ist bis hierhin nicht gekommen. Denn die Gnade, die sie selbst für ihre Errettung nötig hatten, missgönnten sie ihren Mitmenschen aus den Heiden (vgl. Mt 18,21-35; 20,1-16). Im Allgemeinen kommt eine derartige Haltung aus einem unzureichenden Bewusstsein hinsichtlich unseres natürlichen Zustands und der Größe der Gnade, die uns erwiesen wurde, hervor. Dies wird der Apostel nun auslegen. „Einst waren auch wir“ so. Vielleicht nicht alle in demselben Maß, aber im Prinzip waren wir alle unverständig, ungehorsam usw.

Es geht hier nicht um die Quelle, die nichts taugt; wie viel Brackwasser sie hervorbringt, ist sekundär – es geht darum, dass es Brackwasser ist. Natürlich gibt es einen Unterschied in der Bemessung dessen, worin wir gesündigt haben. Vor dem großen weißen Thron werden große und kleine Tote stehen, was sich natürlich nicht auf ihr Alter bezieht, sondern auf das Maß ihrer Sündigkeit (Off 20,12). Der Herr sagt selbst, dass der Knecht, der den Willen seines Herrn gekannt, ihn jedoch nicht getan hat, mit vielen Schlägen geschlagen werden wird und dass der, der ihn nicht gekannt und Dinge getan hat, die Schläge verdienen, mit wenig Schlägen geschlagen werden wird (Lk 12,47.48). Allerdings ist die Quelle bei beiden gleichermaßen böse, wiewohl die Werke in ihrer Bosheit unterschiedlich sein können, abhängig von der vorhandenen Kenntnis und Verantwortlichkeit. Darum werden die Ungläubigen nach ihren Werken gerichtet (Off 20,12.13) und werden auch die Gläubigen nicht nach ihrer Bequemlichkeit beurteilt, sondern nach ihrer Arbeit (1Kor 3,8).

„Einst“, sagt Paulus zu Titus, „waren auch wir so.“ Das „einst“ bedeutet nicht einfach: „vor unserer Bekehrung“. Denn es bildet einen Gegensatz zu dem, was in Vers 4 steht: „Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland Gottes erschien.“ „Einst“ meint daher in erster Linie: „vor dem Erscheinen der Güte Gottes“ in der Person des Herrn Jesus. Für die Gläubigen der damaligen Zeit war diese Vorperiode zeitlich identisch mit der Periode vor ihrer Errettung. Als der Herr Jesus auf die Erde kam und in Ihm die Güte und Menschenliebe unseres Heiland-Gottes offenbart wurde, bedeutete dies Errettung für die, die vorher auf Christus hofften und die nachher das Evangelium ihrer Errettung hörten (Eph 1,13). Dennoch dürfen wir diesen Vers auch auf uns selbst anwenden, jeder persönlich. Auch wir waren jeder für sich von Natur aus unverständig, ungehorsam usw.; und auch in unserem persönlichen Leben ist zu einem bestimmten Zeitpunkt die Güte Gottes erschienen, und Er hat uns errettet.

Paulus redet öfter über das, was wir früher waren: „Auch wir wandelten einst unter den Söhnen des Ungehorsams in den Begierden unseres Fleisches und der Gedanken“, sagt er in Epheser 2,2.3. Beachte die Übereinstimmung mit unserem Vers: „Auch wir früher“ – „ungehorsam“ – „Begierden“ – „Gedanken“ (verwandt mit „unverständig“). Manchmal heißt es „ihr“: „Auch ihr habt früher unter ihnen gewandelt, als ihr darin lebtet“ (Kol 3,7; vgl. Eph 2,2; 5,8). Und Petrus sagt: „Als Kinder des Gehorsams bildet euch nicht nach den vorigen Begierden in eurer Unwissenheit“ (1Pet 1,14); „Die vergangene Zeit ist genug, den Willen der Nationen vollbracht zu haben, indem ihr wandeltet in Ausschweifungen, Begierden“ usw. (1Pet 4,3).

„Auch wir“ sagt Paulus hier und in Epheser 2,3. Er schließt sich selbst da mit ein. Er ist nicht besser, im Gegenteil. Er mag vor seiner Bekehrung in Bezug auf die Gerechtigkeit, die im Gesetz ist, untadelig gewesen sein (Phil 3,6), was aber nur die Unvollkommenheit des Gesetzes in ihrer Auswirkung zeigte (Heb 7,19). In Wirklichkeit war er so verdorben, dass er sich selbst den ersten der Sünder nennt (1Tim 1,15). Zwar hatten er und seine Volksgenossen viele Vorrechte (Röm 3,1.2), doch das erste dieser Vorrechte, der Besitz des Alten Testaments, war gerade ihre größte Anklage, wie er in Römer 3,10-19 aufzeigt (siehe auch Röm 6,17-23). Er sagt aber auch nicht „ich“, sondern „wir“; Titus fällt auch darunter. Auch die Heiden waren den Begierden ihrer Herzen, entehrenden Lüsten und einem verkehrten Sinn übergeben (Röm 1,24.26.28). Genauso waren die Korinther (1Kor 6,10.11a), die Epheser (Eph 2,1-3) und die Kolosser (Kol 3,5-7). Ob man nun unter Gesetz gesündigt hatte – man würde durch das Gesetz gerichtet werden – oder ob man ohne Gesetz gesündigt hatte, man würde genauso ohne Gesetz verlorengehen (Röm 2,12), wenn da nicht die Güte Gottes erschienen wäre. Einst waren der Jude Paulus und der Heide Titus in demselben Pfuhl des Elends verbunden, und jetzt waren sie in dem gemeinschaftlichen Glauben verbunden (Tit 1,4).

Unverständig

Als Erstes waren wir früher „unverständig“ (anoètos). Das Wort stammt von noes („Verstand“, „Gemüt“ oder „Sinn“) ab, dem wir schon in Titus 1,15 begegnet sind. Der natürliche Mensch ist unverständig; so unverständig, dass er sogar die höchsten geistlichen Dinge Torheit nennt (1Kor 2,14). Er kann sie auch nicht verstehen, weil sie geistlich beurteilt werden, wofür er den Verstand (den Sinn) Christi nötig hat (1Kor 2,14.16). Das fehlt ihm. Sein Verstand ist nicht geistlich, sondern fleischlich (Kol 2,18), verdorben (1Tim 6,5; 2Tim 3,8), verworfen (Röm 1,28), befleckt (Tit 1,15) und verfinstert (Eph 4,17.18). Hier kann nur Gott Veränderung hervorbringen. Er kann unsere Gesinnung (Verstand) erneuern (Röm 12,2; Eph 4,23). Es war der Herr, der den Verstand seiner Jünger öffnete, als sie unverständig und trägen Herzens waren (Lk 24,25.45). Er ist gekommen und hat uns Verstand gegeben, damit wir den Wahrhaftigen erkennen können (1Joh 5,20). Hierbei nützt uns alle Weisheit und jedes Verständnis von dieser Welt nichts. Im Gegenteil, sie können sogar eine Behinderung sein, um wahre Weisheit, „die von oben ist“ (Jak 3,17), kennenzulernen.

Die geistlichen Dinge sind für den Weisen und Verständigen verborgen und werden Kindern offenbart (Mt 11,25). Das war für die Griechen, wie Titus, und für die Kreter eine schwierige Lektion! Gehörten sie nicht zu einem edlen Volk von Weisen und Philosophen? Sahen sie nicht auf die unwissenden (= unverständigen) Barbaren herab (Röm 1,14)? Nun mussten sie lernen, dass Gott die Weisheit der Welt zu Torheit machte und dass Ihm gefiel, durch die Torheit der Predigt die zu erretten, die glaubten (1Kor 1,20.21). Gott sah aus dem Himmel herab, um nach einem Ausschau zu halten, der verständig wäre, aber es gab nicht einen (Ps 14,2; Röm 3,11). Es gab die, die in den Augen der Welt als Verständige galten, aber ihre Einsicht machte Er zunichte (Jes 29,14; 1Kor 1,19). Wo ist nun der Weise? Wo der Schriftgelehrte? Wo der Schulstreiter dieses Zeitlaufs? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht (1Kor 1,20)? Wer ist weise? Der wird dies beachten, und verstehen werden sie die Gütigkeiten des Herrn (Ps 107,43). Wer sich rühmt, rühme sich dessen: Einsicht zu haben und mich zu erkennen, dass ich der Herr bin (Jer 9,24). Wer ist weise? Der wird dies verstehen; wer verständig ist, der wird es erkennen (Hos 14,10).

Ungehorsam

Von den sieben Merkmalen, die uns früher kennzeichneten, ist das zweite („ungehorsam“; s. Tit 1,16) direkt mit dem ersten verbunden. Deswegen fügen manche ältere Quellen hier das Wörtchen „und“ ein. Wir waren „unverständig“, weil unser Verstand verdorben war, und wir waren „ungehorsam“, weil unser Wille verdorben war. So wie der Herr unseren Verstand öffnen musste, so musste Er auch unseren Willen umbiegen, damit wir fortan jeden Gedanken unter den Gehorsam des Christus gefangen nehmen würden (2Kor 10,5). Dazu hat Gott uns bestimmt (1Pet 1,2). Darum ruft Paulus diejenigen, die früher ungehorsam waren (Tit 3,3) auf, jetzt gehorsam zu sein (Tit 3,1). Früher waren wir der Wahrheit ungehorsam (Röm 2,8), Gott gegenüber (Röm 11,30), dem Wort gegenüber (vgl. 1Pet 3,1), dem Evangelium Gottes gegenüber (1Pet 4,17); und wir gehörten zu den Söhnen des Ungehorsams (Eph 2,2; vgl. Eph 5,6; Kol 3,6). Wir wollten nicht nur nicht gehorchen, sondern wir konnten auch nicht; selbst wenn wir es gewollt hätten, dann hätten wir dennoch nichts anderes getan, als was die Sünde in uns wollte (Röm 7,15-24). Hierin konnte nur die lebendig machende Kraft Gottes helfen, die uns aus dem Leib des Todes durch Jesus Christus, unseren Herrn, erlöst hat. Dadurch sind wir befähigt worden, den Willen Gottes von Herzen zu tun, wozu wir auch aufgefordert werden (Eph 6,6; vgl. Röm 12,2; Eph 5,17; Kol 1,9; 4,12; Heb 13,21; 1Pet 4,2).

Irregehend

Die nachfolgenden Kennzeichen stimmen jeweils mit den ersten beiden überein. Die Tatsache, dass wir unverständig und ungehorsam waren, hatte zur Folge, dass wir nichts als böse Werke hervorbrachten. Einerseits sorgte unser „Unverstand“ dafür, dass wir keine Weisheit und Einsicht hatten, welchen Weg wir zu gehen hatten; dadurch irrten wir auf verkehrten Wegen umher. Andererseits enthielt unser „Ungehorsam“, dass unser Wille der Sünde in uns vollkommen unterworfen war; dadurch waren wir in Sklaverei und „dienten mancherlei Begierden und Vergnügungen“. Das Wort „irren“ kann auch „sich verführen (lassen)“ bedeuten (1Kor 15,33). In wörtlichem Sinn lesen wir von „verirrten/irregehenden“ Schafen (Mt 18,12; 1Pet 2,25) und von Menschen, die in der Wüste „umherirrten“ (Heb 11,38). In übertragenem Sinn bedeutet dies, dass jemand meint, verständig genug zu sein, um seinen eigenen Weg zu wählen, und meint, dass er den richtigen und besten Weg geht. Er fühlt sich von Gott unabhängig, er weiß jedoch nicht, dass er sich selbst verführt. Er irrt (vgl. Heb 3,10; Spr 12,26; 14,12).

Es ist übrigens bemerkenswert, dass das Wort im übertragenen Sinn in den Briefen ansonsten fast immer für bekennende Christen gebraucht wird (1Kor 6,10; 15,33; Gal 6,7; Jak 1,16). Das gilt für das Wort „unverständig“ genauso (Gal 3,1.3; 1Tim 6,9; vgl. Lk 24,25), außer in Römer 1,14. Auch wird von ihnen mehrfach gesagt, dass sie „ungehorsam“ sind (Röm 15,31; 2Tim 3,2; Tit 1,16). Es ist schon ein ernster Gedanke, dass die Kennzeichen, die wir vor unserer Errettung hatten, so häufig bei denen gefunden werden, die bekennen zu glauben. Sie können dann zwar ganz fromm sein und sehr aufrichtig glauben, doch die Frage ist, ob sie wirklich an die richtige Person glauben: an denjenigen, der unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat, damit wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben; wir, die irregingen wie Schafe, aber zu dem Hirten und Aufseher unserer Seelen zurückgekehrt sind (1Pet 2,24.25), so wie Petrus dies insbesondere von den gläubigen Juden sagt.

Dienten mancherlei Begierden und Vergnügungen

Nebst der Tatsache, dass wir als Folge unserer Unverständigkeit irregingen, waren wir auch an die Sünde als Folge unseres Ungehorsams versklavt. Wir hatten keine Kontrolle über unseren Willen und konnten unseren Lüsten schlecht nachgeben. Wir waren wir ein Pferd – wie ein Maulesel –, das keinen Verstand hat, dessen Maul man mit Zaum und Zügel bändigen muss (Ps 32,9). Wir dachten, einen verständigen Weg zu gehen (Spr 14,12), doch wir irrten als verlorene Schafe umher (Ps 119,176). Wir dachten, dass wir vollkommen frei wären und unseren eigenen Willen tun könnten, doch in Wirklichkeit waren wir Sklaven der Sünde (Joh 8,34; Röm 6,6.17; 2Pet 2,19), des Todes (Heb 2,15) und des Teufels (Apg 26,18; Heb 2,14). Wir waren Sklaven, das heißt gebunden (siehe Tit 1,1). Durch Gnade sind wir nun befähigt worden, den Begierden zu entsagen (vgl. Tit 2,12), doch damals dienten wir ihnen. Jetzt darf die Sünde in unserem sterblichen Leib nicht mehr herrschen und seinen Begierden nachgeben (Röm 6,12), aber damals waren wir den Begierden (nicht: Lüsten) unseres Herzens hingegeben (Röm 1,24). Nun dürfen wir als Kinder des Gehorsams den vorigen Begierden mit gleichförmig sein (1Pet 1,14), doch damals verkehrten wir unter den Söhnen des Ungehorsams in den Begierden unseres Fleisches (Eph 2,2.3; vgl. Eph 4,22; 1Pet 4,3). Auch die Begierden sind für die Namenschristen kennzeichnend (1Tim 6,9; 2Tim 3,6; 4,3; 2Pet 2,10.18; 3,3; Jud 14.18). Die Gläubigen müssen sich hiervon fernhalten (Röm 13,14; Gal 5,16.24; Kol 3,5; 2Tim 2,22; 1Pet 2,11; 4,2).

Wir waren nicht nur einer bestimmten Sünde versklavt, sondern „mancherlei“, allerlei Arten von Begierden und Lüsten. Die „Begierden“ sind die natürlichen und/oder sündigen Begierden, während die „Lüste“ mehr Bezug auf die Erfüllung dieser Begierden zu haben scheinen. Das Wort für „Lust“ ist das, „was man gern hat“, und ist verwandt mit dem Wort für „gern“ in Markus 6,20 sowie Markus 12,37; 2. Korinther 11,19 und 12,15 und „am allerliebsten“ (2Kor 12,9). Des Weiteren kommt das Wort in Lukas 8,14 und Jakobus 4,1.3 vor („Leidenschaft“ [in NL-Übers.]); 2. Petrus 2,13 („Genuss“ [in NL-Übers.]).

Führten unser Leben in Bosheit und Neid

Die sieben Kennzeichen in unserem Vers teilen sich (wie öfter bei der Zahl Sieben in der Schrift; siehe Tit 3,2.7) in vier und drei Kennzeichen auf, und die ersten vier in zweimal zwei. Unsere Gesinnung war: unverständig und ungehorsam; die jeweilige Folge davon war, dass wir irrten und dass wir an die Sünde versklavt waren. Diese vier Kennzeichen bestimmten unser Leben unter unseren Mitmenschen: Wir lebten in Bosheit (indem wir anderen Böses taten) und in Neid (indem wir auf andere neidisch waren); wir waren hassenswürdig (d.h., dass wir von anderen verabscheut wurden), aber auch einander hassend (wir selbst hassten auch die anderen). Die ersten vier Kennzeichen nehmen also Bezug auf unsere persönliche Gesinnung und Haltung, und die letzten drei beziehen sich auf unsere Beziehung zum Nächsten. Wenn wir nur diese ersten vier Kennzeichen wüssten, könnten wir vermuten, dass die Sünder sich mit ihren sündigen Mitmenschen in ihrem gemeinschaftlichen elenden Los verbunden fühlen. Doch die letzten drei Kennzeichen enthüllen, dass ihre sündige Natur sich auch gegen ihre Mitmenschen richtet.

Das hier gebrauchte Wort für „leben“[2] bedeutet eigentlich „verbringen, zubringen, leiden“ (diago), in bildlichem Sinn „ein Leben führen“, wie wörtlich in 1. Timotheus 2,2 (bion diago). Wenn nun, wie in unserem Vers, nur ein Verb gebraucht wird, dann bekommt es die Bedeutung von „leben“. Das Wort „Bosheit“ ist dasselbe wie „Übel“, dem wir auch schon öfter begegnet sind (Tit 1,12). Hier ist es insbesondere das Böse, das wir den anderen antaten, was sich auch aus der Verbindung mit „Neid“ ergibt (Missgunst, Eifersucht). Das letzte Wort kommt auch in Römer 1,29 vor (der verdorbene Zustand der Heiden), Gal 5,21 (die Werke des Fleisches), 1. Timotheus 6,4 (dem wir verfallen können), 1. Petrus 2,1 (was wir ablegen müssen), Matthäus 27,18; Markus 15,10; Philipper 1,15 (verkehrte Motive, die jemand antreiben können). In Jakobus 4,5 wird durch eine rhetorische Frage angedeutet, dass diese schlechte Eigenschaft dem Geist Gottes fehlt. „Neid“ ist also eigentlich schlimmer als Eifersucht (was in Galater 5,20 von Neid unterschieden genannt wird), denn auch von Gott wird gesagt, dass Er ein eifersüchtiger (dasselbe wie „eifernder“; siehe Tit 1,14) Gott ist, wenn es um seine Ehre und seine Rechte geht. „Eifer {Ereiferung} ist Fäulnis der Gebeine“, sagt Salomo (Spr 14,30); das ist eine zutreffende Beschreibung dieser Eigenschaft, die jemand durch eine intensive Missgunst, die zum Hass neigt, vollkommen verzehren und krankmachen kann. „Wer aber kann bestehen vor der Eifersucht“ (Spr 27,4)?

Verhasst und einander hassend

Die folgenden zwei Worte „verhasst“ und „hassend“ gleichen sich im Deutschen sehr, weil sie beide von „hassen“ abgeleitet sind, was aber im Griechischen überhaupt nicht der Fall ist. Die beiden Worte sind von zwei unterschiedlichen griechischen Verben für „hassen“ abgeleitet. Das erste Wort kommt nur hier vor; das zweite Wort stammt von dem gebräuchlichen Wort für „hassen“ im Neuen Testament ab. „Verhasst“ hat in unserer Sprache oft eine Bedeutung, die es hier nicht hat, nämlich sarkastisch. Doch hier bedeutet es: „wert, gehasst zu werden“, oder kurzum: „gehasst“. Vergleiche ein verwandtes Wort in Römer 1,30, das wörtlich „gottverhasst“ bedeutet (nicht „Gotteshasser“). In unserem Vers ist es so, dass wir den Hass und die Abscheu bei unseren Mitmenschen hervorrufen. Und auch wir selbst hassen unsere Mitmenschen. Die Welt ist voll von Stimmen, die zur Nächstenliebe aufrufen, zur Mitmenschlichkeit, zum Humanismus und Frieden, zur Toleranz und was sonst noch. Doch es sind die Stimmen derjenigen, die die anderen verurteilen, jedoch dieselben Dinge tun und daher dem Gericht Gottes genauso wenig entkommen werden (Röm 2,1-3). Sie rufen auf zu dem, wozu sie selbst und die anderen von Natur aus nicht in der Lage sind, wovon alle Streitigkeiten und Kriege zeugen, die unvermindert anhalten, ja zunehmen. Doch ohne dies erkennen zu wollen, verachten sie den Reichtum der Güte Gottes und wissen nicht, dass seine Güte sie zur Buße leitet (Röm 2,4). In einer Umgebung, in der Hass mit Hass beantwortet wird, wo man einander verschlingt (Gal 5,15; vgl. 2Sam 2,16), da können die Werke des Fleisches nichts nützen: Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Neid, Mord (Gal 5,19); nur die Güte Gottes kann den Ausweg bieten, wie nachfolgend gesagt wird.

Tit 3,4: Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschien …

Als aber

Die nachfolgenden Verse (Tit 3,4-7) zeigen uns, auf was für eine herrliche Weise Gott in unseren verlorenen, hoffnungslosen Zustand eingegriffen hat. Vers 4 nennt den Zeitpunkt, an der Er uns Heil brachte; Vers 5 beschreibt, auf welche Weise und auf welcher Grundlage Er uns errettet hat; Vers 6 lässt uns sehen, welche besondere Vorsehung Gott für seine Erlösten getroffen hat, solange sie noch auf der Erde sind; und Vers 7 zeigt schließlich, was das schlussendliche Ziel unserer Erlösung ist. Auf grandiose Weise schreitet Gott in unser Elend ein. Er sah uns zappeln in unserem Blut und sprach zu uns in unserem Blut: Lebe! (Hes 16,6). Hier trifft uns ein bemerkenswerter Aspekt. Es war nicht so, dass wir in unserem Blut unsere Hände nach Ihm ausstreckten und um Rettung schrien. Nein! Wir waren seine Feinde und Hasser: unverständig, ungehorsam, irregehend, versklavt an Begierden und Lüsten, in Bosheit und Neid lebend, verhasst und einander hassend. Aber Gott …! Wie groß ist dieses „Aber Gott“! „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). „Gott aber, der reicht ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht“ (Eph 2,4.5). Was für ein Wunder echter Liebe! Dies zeigt uns die Quelle wahrer Liebe: „Die Liebe ist gütig; sie sucht nicht das Ihre, sie rechnet Böses nicht zu“ (1Kor 13,4.5). Diese Liebe, die nicht nach Anziehendem sucht, das wert ist, geliebt zu werden, sondern aus überwältigenden Strömen aus einem unerschöpflichen Brunnen hervorfließt, ist nur aus Gott, denn „Gott ist Liebe. Hierin ist die Liebe Gottes zu uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden“ (1Joh 4,8-10).

Es gab nichts Angenehmes in uns, aufgrund dessen wir ahnen könnten, warum Gott uns geliebt hat. Im Gegenteil, wir waren „verhasst“ (Tit 3,3), wert, gehasst zu werden sowohl von Gott (vgl. Röm 1,30) als auch von Menschen. Darüber hinaus brachten wir selbst auch nur Hass hervor, gegeneinander und Gott gegenüber (vgl. Ps 81,16; Joh 15,23-25). Doch Gott „belohnte“ diesen Hass mit Güte und Menschenliebe. Er häufte feurige Kohlen auf den Kopf derjenigen, die Ihn hassten (vgl. Spr 25,21.22; Röm 12,20). Er gab den Herrn Jesus, als wir noch kraftlos und gottlos waren, und versöhnte uns, als wir Feinde waren (Röm 5,6.10). Seine Liebe überwältigte uns und nahm uns, seine Feinde, gefangen – eine Liebe, stark wie der Tod, durch viele Wasser nicht auszulöschen (Hld 8,6.7). Es gab keinen Anteil oder irgendeine Zutat unsererseits; so wie die Sonne morgens unwiderstehlich aufgeht, so war die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, in der uns der Aufgang aus der Höhe besucht hat, um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten (Lk 1,78.79).

Erschien

Die Sonne schien („erschien“), als der Herr Jesus auf die Erde kam. In Ihm wurde sichtbar, was von Ewigkeit her im Herzen Gottes verborgen war (vgl. Ps 31,20). In Ihm erfüllte Gott seinen Ratschluss und offenbarte darüber hinaus, wer Er selbst war. Der eingeborene Sohn, der in dem Schoß des Vaters ist, hat Gott offenbart, und zwar was Gott in seinem tiefsten und herrlichsten Wegen ist: Vater (Joh 1,14.18). Nachdem Gott den Menschen auf jede erdenkliche Weise erprobt hatte und nachdem der Mensch nach jeder Prüfung vollkommen und unmittelbar versagt hatte und damit bewies, dass er unverbesserlich sündig war, gab es nur noch ein Mittel: Gott sandte seinen Sohn (vgl. Mt 21,37; Joh 3,17). Einerseits war dies eine neue und die letzte Prüfung, um zu untersuchen, ob im Menschen etwas Gutes zu finden wäre („Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen“), doch diese letzte Prüfung offenbarte erst recht in Gänze, wie groß die Feindschaft des Menschen Gott gegenüber war. Darum sandte Gott andererseits seinen Sohn, um Ihn „nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes hinzugeben“ (Apg 2,23) zugunsten seiner Feinde (Röm 5,6-10).

So gibt es also drei „Erscheinungen“ oder „Offenbarungen“ in diesem Brief. Als Erstes ist im Kommen Christi auf die Erde die Gnade Gottes heilbringend für alle Menschen und die Güte und Menschenliebe unseres Heiland-Gottes „erschienen“ (epiphaino; Tit 2,11; 3,4). Zweitens hat Gott zu seiner eigenen Zeit sein Wort in der Predigt „offenbart“ (phaneroö), die Paulus anvertraut ist; das ist die volle Offenbarung der Wahrheit durch den Heiligen Geist (Tit 1,3). Und drittens erwarten wir die glückselige Hoffnung und „Erscheinung“ (epiphaneia) der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus (Tit 2,13). In diesen drei Erscheinungen werden nacheinander das Wesen Gottes, das Wesen des Heiligen Geistes und das Wesen Christi sichtbar.

Die Güte und die Menschenliebe

Es mag einigen befremdend vorkommen, dass unser Vers Titus 2,11 so ähnlich ist. In der Tat gibt es bemerkenswerte Übereinstimmungen. In beiden Versen geht es um Eigenschaften Gottes; in beiden lesen wir, dass die Eigenschaften „erschienen“; in beiden wird über „Heil“ gesprochen: „heilbringend“ (sotèrios) stimmt überein mit „Heiland“ (soter), und in beiden sind alle Menschen im Blickfeld: „für alle Menschen“ (pasin anthropois) stimmt überein mit „Menschenliebe“ (philanthropia). Doch genauso auffallend sind die Unterschiede, vor allem wenn wir die folgenden Verse hinzunehmen. In Titus 2,10-14 geht es (in Verbindung mit den Sklaven) um das, was die Gnade Gottes in einem Menschenherzen und -leben bewirken kann: erst Heil, danach Unterweisung für unser praktisches Leben und unsere Zukunftserwartung und danach das Werk Christi, das zum Ziel hatte, uns zu guten Werken zu befähigen. In diesem allen ist die Gnade von Gott eine einzigartige Eigenschaft von Ihm, die nie eine Eigenschaft von Gläubigen genannt wird; das Gute, das im Wandel der Gläubigen vorhanden ist, ist das, was die Gnade Gottes in ihnen bewirkt hat.

In Titus 3,4-7 geht es jedoch um ganz andere Dinge. Hier wird ausschließlich über das gesprochen, was Gott getan hat, um uns zu erretten; die ganze Betonung liegt auf der einschreitenden Barmherzigkeit, ohne dass auch nur ein einziges Wort über die Folgen davon für unser praktisches Glaubensleben verloren wird. Darum geht es nämlich nicht direkt, sondern die Absicht ist, zu zeigen, wie Gott liebevoll in unseren verlorenen Zustand eingegriffen hat ohne irgendeinen Anteil von unserer Seite. Immerhin geht es darum, zu zeigen, dass wir genauso feindlich und machtlos waren wie die anderen und dass das, was wir jetzt sind, nicht unser Verdienst ist, sondern Gottes Güte ist. Dennoch liegt gerade auch in Titus 3,4-7 eine ganz praktische Lektion für uns vor, denn die Güte und Menschenliebe Gottes, die Er seinen Feinden bewiesen hat, muss auch bei uns gefunden werden gegenüber unseren (vielleicht feindlichen) Mitmenschen. Denn Güte ist (anders als Gnade) sehr wohl eine Eigenschaft, die bei Gläubigen vorhanden sein kann (siehe unten). In Titus 2,10-14 geht es also um die Gnade Gottes, die uns lehrt, wie wir praktisch leben sollen, und in Titus 3,4-7 ist die Güte Gottes ein Vorbild für uns, wie wir uns andern gegenüber zu verhalten haben.

„Güte“ (chrèstotès) ist die liebevolle, sanftmütige Freundlichkeit und Barmherzigkeit, die bei Gott und bei Gläubigen gefunden wird. Der natürliche Mensch kennt keine Güte, wie aus Römer 3,12 hervorgeht, wo das Wort mit „gut“ übersetzt ist; eigentlich steht dort: „Da ist keiner, der Güte tut, da ist auch nicht einer.“ Es ist eine Güte, die sich in einer bestimmten Gesinnung des Herzens äußert und in Taten des Mitleids und Erbarmens. Dies wird vor allen Dingen bei Gott gefunden. Sie kommt allen Menschen gegenüber zum Ausdruck, sogar Undankbaren und Bösen gegenüber (Lk 6,35), wird aber am meisten von denen erfahren, die sich bekehren (Röm 2,4; Eph 2,7; 1Pet 2,3), und danach von denen, die auch in Gemeinschaft mit Ihm bleiben (Röm 11,22). Des Weiteren werden die Gläubigen aufgerufen, auch selbst gütig zu sein (Eph 4,32; Kol 3,12). Das können sie nicht aus eigener Kraft, sondern es ist eine Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22). Paulus konnte dies von sich selbst bezeugen (2Kor 6,6). Siehe auch 1. Korinther 13,4.

„Menschenliebe“ (philanthropia) bedeutet das Liebhaben aller Menschen, abgeleitet von phileo („lieben, mögen“) und anthropos („Mensch“). Unser Wort Philanthropie ist davon abgeleitet. Das Wort kommt ansonsten nur in Apostelgeschichte 28,2 vor, wo es mit „Freundlichkeit“ übersetzt ist; auch kommt einmal das dazugehörige Adverb vor, und zwar in Apostelgeschichte 27,3 („wohlwollend/freundlich“). Wir könnten auch sagen „menschenliebend“ wie in Titus 1,8 philágathos („das Gute liebend“) und philóxenos („Fremde liebend“, d.h. gastfreundlich) und in Titus 2,4 philandros („mannliebend“) und philoteknos („kinderliebend“). Genau wie vor „Güte“ steht auch vor „Menschenliebe“ der Artikel; dadurch werden beide Worte nicht geradewegs miteinander verbunden (wie z.B. wohl bei „Hoffnung und Erscheinung“ in Tit 2,13), wiewohl sie, was den Inhalt betrifft, Übereinstimmungen haben. Doch jedes der beiden Worte wird gesondert vorgestellt und hervorgehoben; dies wird noch dadurch verstärkt, dass das Attribut „unseres Heiland-Gottes“ erst nach dem Verb („erschienen“) steht. Dadurch liegt die volle Betonung auf „die Güte“ und „die Menschenliebe“ als Eigenschaften, die uns zum Vorbild gesetzt werden, personifiziert in Christus.

Gottes Menschenliebe drückt seine Zuneigung aus, die Er für alle Menschen hatte, vor allen Dingen in dem Sinn, dass Er Erbarmen hatte mit ihrem elenden Zustand. Was das angeht, ist dies eine einzigartige Schriftstelle. Wir haben in Titus 2,11 gelesen, dass Gottes Heilsangebot der Gnade zu allen Menschen ausging; Er wollte allen Menschen Gnade erweisen. Unser Vers sagt nun, dass Gott alle Menschen liebte. Er ist „menschenliebend“. Zwar ist es so, dass hier nicht das Gott kennzeichnende Wort ágapè („Liebe“) gebraucht wird (die selbstlose, dienende Liebe), sondern phileo („mögen“), was mehr den Gedanken an Zuneigung zu etwas Anziehendem hat und für die Liebe Gottes nur hier und in Johannes 5,20 (zum Sohn hin) gebraucht wird. Die einzige Schriftstelle, die hinsichtlich der Liebe Gottes zu den Menschen mit unserem Vers zu vergleichen ist, ist Johannes 3,16, wo über die Tatsache gesprochen wird, dass Gott die Welt (kosmos) geliebt hat (agapao). Wir finden eine Fülle von Texten über die gegenseitige Liebe des Vaters und des Sohnes und vom Vater zu seinen Kindern und vom Sohn zu den Gläubigen und umgekehrt. Doch Texte über die Liebe Gottes zu allen Menschen sind selten, während Texte über die Liebe von Christus zu allen Menschen sogar ganz fehlen.

Das ist bemerkenswert und wichtig. Gott hat die Welt geliebt und darum seinen Sohn gegeben; aber von dem Sohn lesen wir nur, dass Er sich selbst gegeben hat, weil Er seine Braut geliebt hat und sie für sich selbst erwerben wollte (Eph 5,25-27) und weil Er die einzelnen Gläubigen liebt (Gal 2,20; Eph 5,2). Darüber hinaus lesen wir nirgends, dass Gott heute alle Menschen und die ganze Welt liebt. Er liebte die Welt, als Er noch eine Erwartung an sie hatte. Doch als die Welt den Sohn nicht kennen wollte (Joh 1,10) und Ihn ans Kreuz brachte, kam das Gericht Gottes über diese Welt (Joh 12,31), so dass die Welt als Ganzes für das Gericht verwahrt ist, wiewohl Gott das Gericht noch aufschiebt, weil Er nicht will, dass irgendjemand verlorengeht, sondern alle zur Bekehrung kommen (2Pet 3,7-9). Was die Welt als Ganzes betrifft, wird nicht mehr über die Liebe Gottes geredet. Stärker noch: Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm (1Joh 2,15).

Philanthropie ist eine Tugend, die sich auch für die Welt bekannt anhört. Schon im Altertum war philantropia vor allem bei den griechischen Fürsten eine berühmte Eigenschaft gegenüber ihren bedürftigen Untertanen. Man sagt, dass im Altertum keine Tugend mehr gepriesen wurde als diese. Und auch in der gegenwärtigen Gesellschaft ist Philanthropie ein bekannter Ausdruck, sowohl in der Politik als auch auf sozialem und medizinischem Gebiet. Doch was für ein Unterschied zur „Menschenliebe“ Gottes! Wenn wir unser eigenes Fleisch etwas kennen, dann wissen wir, dass unsere Menschenliebe niemals uneigennützig und selbstlos ist. Die tiefste Wurzel all unseres philanthropischen Strebens ist unser eigenes Interesse. Selbst wenn wir vollkommen „unentgeltlich“ unser Gut weggeben oder anderen helfen, dann findet das Fleisch trotzdem einen „Gewinn“ darin, indem der eigenen Ehre geschmeichelt wird. Je mehr unsere Wohltätigkeit unentgeltlich ist, umso stolzer sind wir auf unsere „Selbstlosigkeit“. Wie anders ist dies bei unserem Heiland-Gott, der alles gab, was Er besaß, und sich zu seinen größten Feinden herabließ. Der nicht nach Werken des Gesetzes fragte oder nach einer uns eigenen Gerechtigkeit, sondern das Liebste, das Er besaß, für kraftlose und gottlose Sünder hingab.

Unseres Heiland-Gottes

Ich möchte noch auf ein paar Punkte in diesem Vers hinweisen. Erstens haben wir hier einen gleichartigen Gegensatz wie in Titus 2,11.12. Die Gnade ist heilbringend für alle Menschen, unterweist jedoch nur uns, die Gläubigen. So haben wir auch hier, dass Gottes Liebe zur ganzen Menschheit ausgeht, doch ist Er nur unser Heiland-Gott. Er ist nicht der Heiland („Erretter“) aller Menschen.[3] So auch in 1. Timotheus 2,3.4: Unser Heiland-Gott will, dass alle Menschen errettet werden. Hieraus geht hervor, dass es hier um den wünschenden, verlangenden Willen Gottes geht: Er will zwar, dass alle Menschen errettet werden, doch Er errettet nur uns, die glauben.

Zweitens müssen wir hier aufpassen, wer unser Heiland ist. Er ist Gott. Es steht dort nicht: Gott, der Vater, oder der Sohn Gottes, sondern einfach Gott, und zwar als Gegensatz zu „Jesus Christus, unserem Heiland“ in Titus 3,6. Hier kommen wir an einen Punkt, der sehr oft im Ganzen nicht unterschieden wird. Wenn wir nämlich über Gott lesen, dann sind wir schnell geneigt zu denken, dass es um Gott, den Vater, geht, während es sehr wichtig ist, einzusehen, dass es dann im Allgemeinen um den dreieinen Gott geht. (Wie wenig das gesehen wird, zeigt sich zum Beispiel aus der Weise, wie die Übersetzer der Statenvertaling Kolosser 1,19 übersetzt haben, wo stehen müsste: „Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen“; vgl. Tit 2,9.[4] Der dreieine Gott wohnte im Menschen Jesus Christus, wurde in Ihm offenbart, kam in Ihm zu uns. Und gleichzeitig war Jesus Christus selbst der ewige Sohn des Vaters, Gottes Sohn. Es ist das uralte Geheimnis: vollkommen Mensch und vollkommen Gott. Erst wenn wir dieses Mysterium kennengelernt haben (ich sage nicht: verstanden haben), können wir Gott (das ist: der dreieine Gott) kennenlernen. Christus ist das Wort (der Ausdruck) Gottes und gleichzeitig selbst Gott (Joh 1,1). Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes und gleichzeitig der Sohn des Vaters (Kol 1,12-15). Der Sohn des Menschen auf der Erde war gleichzeitig im Himmel (Joh 3,13), der ewige Sohn im Schoß des Vaters (Joh 1,18).

Diese tiefe Wahrheit wird ausgedrückt in dem Satzteil „der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (2Kor 1,3; Eph 1,3; 1Pet 1,3; vgl. Joh 20,17). Er ist der Gott des Menschen Jesus Christus, Er ist der Vater des ewigen Sohnes; und der Mensch Jesus Christus und der ewige Sohn sind ein und dieselbe Person. Wie sollen wir dies nun auf unseren Abschnitt anwenden? Beide Gedanken finden wir in unserem Brief wieder. Der dreieine Gott hat sich herabgelassen, sicher niedergebeugt und ist in seiner Güte und Menschenliebe zum Menschen gekommen, um ihn nach seiner Barmherzigkeit zu erretten, und Er hat die Errettung durch das Werk des Menschen Jesus Christus, unseres Heilandes (Jesus ist der Name, der am meisten mit seinem Menschsein verbunden ist!), ausgeführt. Es gibt jedoch eine starke Brücke zwischen „unserem Heiland-Gott“ und „Jesus Christus, unserem Heiland“, denn Gott ist unser Heiland, und der Mensch Jesus ist unser Heiland. Es gibt aber nur einen Heiland (Jes 43,11; 45,21; Hos 13,4), und das ist nur verständlich, wenn der Mensch Jesus Gott der Sohn ist. Deswegen lehrt der Brief uns nicht nur, dass Jesus wahrhaft Mensch ist, sondern er spricht auch über „unseren großen Gott und Heiland, Jesus Christus“ (Tit 2,13).

„Ich bin der HERR (JAHWE), und außer mir ist kein Erretter/Heiland“ – doch wer ist Jahwe? Er ist im Neuen Testament als der dreieine Gott offenbart, und wenn es schon im Besonderen der Name einer Person der Gottheit ist, dann ist es nicht der Name des Vaters, sondern des Sohnes (vgl. Joh 12,39-41). Wie viel Unehre wurde Ihm unbewusst und unabsichtlich durch Gläubige angetan, weil die Gottheit des Sohnes nicht verstanden wurde. Er, der Sohn, ist der Schöpfer von Himmel und Erde (Joh 1,3; Kol 1,16; Heb 1,1-3), weshalb Er es ist, der in Offenbarung 4 auf dem Thron sitzt (Off 4 sieht Ihn in seiner Gottheit, Off 5 in seiner Menschheit). Er ist auch der, der auf dem großen weißen Thron sitzt (Off 20), denn der Vater richtet niemand, sondern hat das Gericht ganz dem Sohn übergeben (Joh 5,22). Ja, stärker noch: Selbst wenn wir im Himmel sind, werden wir den Vater nicht sehen können außer durch den Sohn (Joh 14,6.9); wir werden Gott sehen, doch den, den wir sehen, ist Gott, der Sohn, und in Ihm werden wir den Vater sehen (vgl. auch Joh 14,10). So groß ist das Geheimnis des Sohnes („Gott offenbart im Fleisch“, Gott und Mensch in einer Person), dass das Mysterium des Vaters uns wohl offenbart werden kann (durch den Sohn!), das des Sohnes jedoch nicht (Mt 11,27).

Diese ausführliche Auseinandersetzung schien mir gut, um den Gedanken zu verhindern, dass unser Vers über den Vater sprechen würde und nicht über den dreieinen Gott. So wie es auch in 1. Korinther 15,28 sowohl Gott, der Vater, als auch Gott, der Sohn, und Gott, der Heilige Geist, sind, die alles in allem sein werden. Und ich möchte auch diesen Gedanken zum Nachdenken geben, dass es der dreieine Gott ist, der „die Welt so geliebt hat“.

Tit 3,3a: … nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit …

Wir kommen nun zum Hauptsatz von Titus 3,4-7: Als Gottes Güte erschien, hat Er uns errettet. In diesem Hauptsatz steht ein Zwischensatz („nicht aus Werken … seine Barmherzigkeit“), der im Griechischen dem Inhalt des Hauptsatzes vorausgeht: „hat Er uns errettet“. Darum haben manche gemeint, dass der Zwischensatz zu Vers 4 gehört in dem Sinn, dass die Güte Gottes erschien nicht aufgrund von unseren Werken in Gerechtigkeit, sondern nach seiner Barmherzigkeit. Doch das ist klar falsch. Das Erscheinen der Güte Gottes ist nämlich allgemein für alle Menschen (vgl. „Menschenliebe“), und die Errettung ist nur für uns, die glauben. Darum gehören die Werke, die wir nicht getan haben, voll und ganz zu uns, die wir errettet sind nach seiner Barmherzigkeit. Das Erscheinen der Güte Gottes hat nicht nur mit uns und unseren vermeintlichen Werken zu tun, sondern mit Gottes Zuneigung zu allen Menschen. Dass die Anfangszeile von Vers 5 vor dem Hauptsatz steht, soll den ganzen Nachdruck darauf legen. Der Hauptgedanke ist ja der, dass unsere Errettung auf keine einzige Weise das Ergebnis unserer Würdigkeit oder unseres Verdienstes ist, sondern ausschließlich von Gottes rettender Barmherzigkeit. Im Griechischen haben die Worte „nicht“, „wir“ und „seine“ daher auch eine besondere Betonung. Nicht die Werke, die wir getan hatten, sondern seine Barmherzigkeit.

In Gerechtigkeit

Wie könnten von uns Werke erwartet werden! Wir verkehrten im Zustand, wie in Titus 3,3 beschrieben; unsere Werke konnten nichts anderes sein als Unverstand, Ungehorsam, Begierden, Lüste, Bosheit, Neid, Abscheulichkeit und Hass. Dieser Zustand war das Gegenteil eines Status von Gerechtigkeit, wie es hier gemeint ist. Es steht dort nämlich nicht: Werke des Gesetzes, die zur Gerechtigkeit führen, das heißt ein Dem-Gesetz-gehorsam-Sein, wodurch wir die Gerechtigkeit des Gesetzes erwerben: das Gerechtsein gemäß den Forderungen des Gesetzes. Es steht dort: Werke, die in Gerechtigkeit getan werden, also in einem Zustand des Gerechtseins. Das ist verständlich, denn es wird hier vornehmlich zu Gläubigen aus den Nationen gesprochen, die nie unter dem Gesetz (oder einem Gesetz) waren. Paulus, der frühere Pharisäer, der nach der Strenge des Gesetzes unterwiesen war (Apg 22,3) und im Judentum mehr zugenommen hatte als viele seiner Altersgenossen (Gal 1,14); Paulus, der sagen konnte, dass er, was die Gerechtigkeit aus dem Gesetz betrifft, untadelig war (Phil 3,6) – derselbe Paulus musste, als er mit der Barmherzigkeit Gottes in Berührung gekommen war, erkennen, dass weder die Werke des Gesetzes, denen die Juden nachjagten, noch die Werke, die die Nationen verrichteten, in einen vermeintlichen Zustand der Gerechtigkeit Gott je wohl gefallen oder Genugtuung geben konnten. Übrigens, wie oft hat sich dieser Grundsatz nicht auch im Alten Testament gezeigt, wie zum Beispiel beim Einzug ins Land Kanaan, von dem Mose sagt: „Nicht um deiner Gerechtigkeit und der Geradheit deines Herzens willen kommst du hinein, um ihr Land in Besitz zu nehmen; sondern … um das Wort aufrechtzuerhalten, das der HERR deinen Vätern … geschworen hat“ (5Mo 9,5).

Nicht aus Werken

Wir waren Ungerechte. Nur Jesus Christus ist der Gerechte (1Joh 2,1), und gerade Er hat einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit Er uns zu Gott führe (1Pet 3,18). Die Schrift entzieht uns jeden Gedanken, dass eventuelle Werke von uns auch nur eine Auswirkung gehabt haben könnten, um uns vor Gott annehmlich zu machen (Röm 4,2.6; 9,11.32; 11,6; Eph 2,9; 2Tim 1,9). Im Gegenteil, unsere Werke waren böse (Joh 3,19-21; 7,7; Kol 1,21) oder im besten Fall tot (Heb 9,14). Gute Werke hätten einem Grundsatz des Gesetzes entsprechen müssen, das heißt, sie hätten aus Gehorsam Gott gegenüber getan werden müssen. Doch wenn wir erkannt haben, dass unser Zustand der Natur aus Vers 3 entsprach, verstehen wir auch, dass aus Werken eines Gesetzes (oder des Gesetzes) kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt werden kann. Das wird in den Briefen von Paulus an die Römer und die Galater ausführlich gezeigt (Röm 3,20.27.28; Gal 2,16.21; 3,2.5.10). Nur die, die in einem Zustand der Gerechtigkeit verkehren, können Gott wirklich gehorsam sein und „Werke in Gerechtigkeit“ tun; doch wie kann dieser Zustand erreicht werden? Indem Werke des Gesetzes getan werden, wodurch man gerechtfertigt wird? Das würde ein Zirkelschluss sein, den kein Mensch durchbrechen kann, denn es würde beinhalten, dass wir, um Gerechtigkeit erreichen zu können, Gerechtigkeit besitzen müssten.

Doch jetzt ist, ohne Gesetz, die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, nämlich Gerechtigkeit von Gott durch den Glauben an Jesus Christus (Röm 3,21.22)! Wir besaßen selbst keine einzige Gerechtigkeit, und selbst wenn wir diese hätten erwerben können, dann hätte dies nichts anderes als eine eigene Gerechtigkeit gewesen sein können, die nicht mehr hätte geben können, als das Gesetz versprach, nämlich ein glückliches Leben auf der Erde. Doch jetzt hat Gott uns seine eigene Gerechtigkeit geschenkt, die viel höher ist als das, was wir je selbst hätten erwerben können, wenn wir das Gesetz hätten vollbringen können. Denn was beinhaltet Gottes Gerechtigkeit? Es ist sein gerechtes Wesen, das Er gezeigt hat, als Er den Herrn Jesus, den Gerechten, nicht im Tod ließ, sondern Ihn unserer Rechtfertigung wegen daraus auferweckte (Röm 4,25; Phil 3,7-11). Und Gott hat weiterhin seine Gerechtigkeit gezeigt, indem Er Ihn zu seiner Rechten gesetzt hat (vgl. Joh 16,8-10) und Ihn als Lohn für sein Werk über alles als Mensch verherrlicht hat mit der Herrlichkeit, die Er bei dem Vater hatte (als ewiger Sohn), ehe die Welt war (Joh 17,5).

Errettete Er uns

Und jetzt das Herrliche! Alles, was der Herr Jesus durch sein Werk erworben hat, rechnet Gott uns aus Gnaden zu! Er hat den Herrn Jesus für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm (2Kor 5,21). Und der Herr Jesus hat die Herrlichkeit, mit der der Vater Ihn verherrlicht hat, auch uns gegeben (Joh 17,22). Das, was wir niemals hätten erwerben können – selbst dann nicht, wenn wir das Gesetz erfüllt hätten! –, das erwarb der Herr für uns, und es wurde durch die Gnade Gottes unser Teil (Röm 9,11; 11,16; Gal 2,21) und durch unseren Glauben als Gegensatz zu unseren Werken (Röm 3,20-22.27.28; 4,5; 9,32; Gal 2,16; 3,2.5.6). Und um bei den Worten unseres Verses zu bleiben: Wir sind errettet, nicht aus Werken, sondern aus Gnade. „Durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme“ (Eph 2,8.9). „Er hat uns errettet und berufen mit heiligem Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber offenbart worden ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus, der den Tod zunichtegemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium“ (2Tim 1,9.10). Aus der Sicht Gottes ist es seine Gnade und seine Barmherzigkeit, die uns errettet hat; von uns aus gesehen sind wir durch den Glauben gerechtfertigt und errettet. Von einem toten Sünder konnte Gott nichts mehr erwarten als nur das gläubige Annehmen des Heils in Christus (nachdem Er ihn dazu erst hat wiedergeboren werden lassen); und selbst dieser Glaube ist nicht einmal eine Leistung unsererseits, sondern eine Gabe Gottes (Eph 2,8).

Der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu retten (Mt 1,21; 18,11; Lk 19,9.10; Joh 10,9; 12,47; 1Tim 1,15), und Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, damit die Welt durch Ihn errettet werden würde (Joh 3,17; Apg 5,31; 2Tim 1,9.10; 1Joh 4,14). Alle, die glauben, werden errettet; der Glaube ist die Bedingung für die Errettung (Röm 1,16). Gott will, dass alle Menschen errettet werden (1Tim 2,3.4), und dazu bietet Er allen Menschen die Errettung an (Tit 2,11). Doch nur die, die glauben, werden tatsächlich errettet. Was muss man glauben, um errettet zu werden? Man muss das „Evangelium des Heils“ annehmen (Eph 1,13). Was ist das Evangelium, durch das wir errettet werden? Es beinhaltet, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften; und dass Er begraben und am dritten Tag auferweckt wurde nach den Schriften (1Kor 15,1-4). Und das nicht nur als historische Heilstatsachen, sondern vor allen Dingen in der Bedeutung, die das für uns persönlich hat: glauben an Ihn, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist (Röm 4,24.25). Wenn wir dieses volle Evangelium angenommen haben, dann gilt für uns: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). Solche Menschen, die das Evangelium des Heils angenommen und dadurch Frieden mit Gott bekommen haben, kann Gott auch mit dem Heiligen Geist der Verheißung versiegeln (Eph 1,13).

Wir sehen also, dass die Errettung – als innerliche, einmalige und ewige Sache – aus Gnaden geschieht (Apg 15,11; Eph 2,5.8) aufgrund des Glaubens (Apg 16,31; Eph 2,8; vgl. Lk 7,50; 8,12; 1Kor 1,21; Heb 10,39; 1Pet 1,9), und zwar indem das Evangelium angenommen wird (Röm 1,16; vgl. 2Thes 2,10). Die Errettung hat auch noch weitere Bedeutungen: Wir sind nämlich nicht nur errettet von der Sünde in uns (das ist eine innere Angelegenheit), sondern auch von allen Mächten von außen (das ist eine äußerliche Sache). Dies wird in der Taufe bildlich dargestellt (siehe bei Titus 3,5), so dass wir auch lesen, dass wir durch die Taufe errettet werden (Mk 16,16; 1Pet 3,20.21; vgl. Apg 2,40.41). Diese äußerliche Errettung beinhaltet das Verlassen der sündigen Welt im Bild des Todes und durch das Hinzugefügtwerden zu einem gestorbenen, aber auferweckten Christus, damit wir in Neuheit des Lebens wandeln (Röm 6,2-4), Gott gegenüber ein gutes Gewissen begehren (1Pet 3,21) und Christus praktisch „anziehen“ (Gal 3,27). Hiermit ist auch verbunden, dass man mit dem Mund bekennt zum Heil (nämlich das Bekennen von Jesus als Herrn) (Röm 10,9.10). Durch weiteres geistliches Wachstum können wir diese Errettung zu einer praktischen Wirklichkeit werden lassen (2Kor 2,16.7; „Heil“ = Errettung; Phil 2,12; 1Tim 4,16; 2Tim 3,15; Heb 2,10; Jak 1,21; 2,14; 1Pet 2,2; 4,18); dazu wirkt auch die Fürbitte des Herrn mit (Heb 7,25). Schließlich gibt es noch einen zukünftigen Aspekt der Errettung: Wir werden erst dann vollkommen errettet sein, wenn auch unser Leib erlöst ist und wenn wir das Fleisch nicht mehr umhertragen werden und nicht mehr im gegenwärtigen Zeitlauf leben. Im Allgemeinen wird hierauf verwiesen in 2. Thessalonicher 2,13; Hebräer 1,14 und 2. Petrus 3,15. Diese Errettung ist mit dem Kommen des Herrn verbunden (Röm 5,9; 8,24; 13,11; Phil 3,20; 1Thes 5,8.9; Heb 9,28; 1Pet 1,5). Die Weise, auf welche wir dann errettet sein werden, ist mit unserer praktischen Verantwortung heute verbunden (1Kor 3,15; 5,5).

Nach seiner Barmherzigkeit

In unserem Vers geht es vor allen Dingen um die erste Bedeutung von „Errettung“: die Errettung der Seelen durch Glauben. Es ist das persönliche Eingreifen Gottes im Leben des Sünders. Das „Erscheinen“ weist auf eine einmalige Heilstatsache hin: das Kommen des Herrn Jesus, doch die „Errettung“ ist etwas, was im Leben jedes einzelnen Gläubigen stattgefunden hat. Gott, unser Heiland (= Erretter!), hat uns errettet nach seiner Barmherzigkeit. Das Maß unserer Errettung wird nach dem Reichtum seiner großen Barmherzigkeit bemessen (siehe Eph 2,4; 1Pet 1,3). Eine Barmherzigkeit, die sich sowohl zu den Auserwählten des Hauses Israels erstreckte (Lk 1,50.72) als auch zu den jetzt ebenfalls zugelassenen Nationen (Röm 11,30.31; 15,9), ja zu beiden (Gal 6,16; Apg 15,11). Wir wissen (siehe bei Titus 1,4), dass Barmherzigkeit weiter und tiefer geht als Gnade. Die Gnade Gottes ist seine Güte, die Er da zeigt, wo der Mensch keine Rechte oder Ansprüche geltend machen kann. Doch Barmherzigkeit ist Erbarmen mit unserem Elend, unserer Kraftlosigkeit, unserem toten Zustand (Tit 3,3). In Titus 2,11 steht, dass die Gnade Gottes erschienen ist, doch hier geht es noch weiter: Als seine Güte erschien, errettete Er uns nach seiner Barmherzigkeit – eine Barmherzigkeit, die uns auch nachher wegen der Schwachheit unseres Fleisches noch oft erwiesen wurde (Jud 2.21; 1Kor 7,25; 2Kor 4,1; 2Tim 1,16.18; Heb 4,16).

Tit 3,5b.6: … durch die Waschung der Wiedergeburt und die Erneuerung des Heiligen Geistes, den er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland.

Wir sind nach der Barmherzigkeit Gottes errettet worden. Jetzt folgt, auf welche Weise Er uns errettet hat. Das Wörtchen „durch“ (dia mit zweitem Fall) bedeutet dies: „mittels“. Gott hat uns errettet durch zwei Mittel: durch Waschung und durch Erneuerung. Um dies weiter zu erläutern, müssen wir zunächst einige falsche Übersetzungen ausschließen. Diese kommen zum Teil aus der Tatsache hervor, dass dia hier den zweiten Fall dominiert; dadurch stehen nicht nur die Worte „Wiedergeburt“ und „Heiliger Geist“, sondern auch „Waschung“ und „Erneuerung“ im zweiten Fall. Darum übersetzen viele Theologen: „durch die Waschung der Wiedergeburt und der Erneuerung des Heiligen Geistes“; sie fassen es also so auf, dass die Waschung durch zwei Mittel stattfindet: durch Wiedergeburt und durch Erneuerung. Dies wird (u.a. Prof. H. Ridderbos) dadurch begründet, dass vor „Erneuerung“ der Artikel fehlt; doch dieses Argument würde nur stichhaltig sein, wenn sehr wohl ein Artikel vor „Waschung“ und/oder „Wiedergeburt“ stünde, wo es jedoch auch fehlt (vgl. die entsprechenden Anmerkungen bei Titus 2,13 und 3,4).

Nicht „Wiedergeburt und Erneuerung“, sondern „Waschung und Erneuerung“ gehören zusammen, so wie wir das gleich auch aus der Bedeutung ableiten können. Beide Worte sind von biblischen Verben abgeleitet und weisen auf eine bestimmte Handlung hin; von „Wiedergeburt“ kommt im Neuen Testament jedoch kein Verb vor, darüber hinaus ist es keine Handlung, sondern eine Zustandsveränderung. Der verkehrten Übersetzung wird das Wort geredet, weil viele Ausleger meinen, dass die Waschung hier die Taufe ist und dass in der Taufe neues Leben geschenkt wird. Darum gehen manche sogar so weit, dass sie übersetzen: „durch die Waschung der Wiedergeburt, nämlich der Erneuerung des Heiligen Geistes“. Hier wird der große Unterschied zwischen Waschung und Erneuerung völlig aus den Augen verloren.

Durch die Waschung der Wiedergeburt

Die Bedeutung ist also: „durch die Waschung der Wiedergeburt und [durch] die Erneuerung des Heiligen Geistes“. Die Ergänzung „der Wiedergeburt“ erklärt, welcher Art die Waschung ist, und die Ergänzung „des Heiligen Geistes“ erläutert, wer die Erneuerung ausführt. Übrigens fehlen bei allen vier Hauptwörtern die Artikel. Das heißt, dass es hier nicht um „die“ Waschung und um „die“ Erneuerung geht, also um die Prozesse an sich, sondern sie charakterisieren hier die Art der Errettung. Diese Errettung wird dadurch gekennzeichnet, dass sie durch Waschung und durch Erneuerung stattfindet. Auch die Ergänzung „Wiedergeburt“ und „Heiliger Geist“ sind charakteristisch: Die Waschung ist „regenerativer“ Art, und die Erneuerung ist „geistlich“; es ist eine „Geisteserneuerung“.

Waschung

Ein weiterer Anlass zur Verwirrung ist, dass meistens übersetzt wird: „das Bad der Wiedergeburt“. Sowohl das Wort „Bad“ wie auch das Wort „Wiedergeburt“ sind irreführend. Man kann beim Wort „Bad“ ja außer an „baden“ (Waschung) auch an die Badewanne denken, was gewiss nicht die Bedeutung ist. Dann hätte dort das Wort loetèr („Waschbecken“) anstelle von loetron („Waschung“) stehen müssen. Auch hier hat die verkehrte Auffassung dieses Verses dieser Verwirrung in die Karten gespielt; als man nämlich anfing, an die Taufe zu denken, kam man leicht in die Verführung, in „Bad“ das Taufbecken zu sehen! Um dies zu vermeiden, habe ich mit „Waschung“ übersetzt. Übrigens kommt das Wort weiterhin nur in Epheser 5,26 vor, und dort ist die Bedeutung „Waschung“ schon mehr auf der Hand liegend. „Bad“ bedeutet in beiden Versen Reinigung durch Wasser.

Diese Waschung ist dergestalt, dass die Folge davon unsere „Regeneration“ ist. Auch hier ist die gebräuchliche Übersetzung „Wiedergeburt“ sehr irreführend, weil Worte an anderen Schriftstellen mit einer anderen Bedeutung auch durch „wiedergeboren“ übersetzt werden. So finden wir in 1. Petrus 3,23 das Wort anagennao, das aus ana besteht, „erneut“ (oder „von oben“) und gennao, „gebären“, „erwecken“, „geboren werden lassen“ sowie in der leidenden Form (gennaomai) „geboren werden“. Hiermit ist verwandt, was wir in Johannes 3,3.7 finden: gennaomai anothen, „von neuem geboren werden“. Hier bedeutet anthen (noch stärker als ana) „von oben“ (vgl. Joh 3,31); das Suffix -then gibt die Richtung „woher“ an. Immer hat „von neuem geboren werden“ die Bedeutung des Empfangens neuen Lebens aus Gott, einer neuen göttlichen Natur, was sich auch in vielen anderen Texten zeigt, wo gennao in dieser geistlichen Bedeutung ohne ana vorkommt (z.B. Joh 1,13; 1Joh 2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18, „aus Gott“; Joh 3,6, „aus dem Geist“; vgl. Gal 4,29). Dieses Empfangen einer neuen göttlichen Natur durch den Geist stimmt mit der „Erneuerung des Heiligen Geistes“ in unserem Vers exakt überein, hat aber mit der „Waschung der Regeneration“ nichts zu tun! Deswegen ist es so verwirrend, hier „Wiedergeburt“ zu übersetzen. Die Wiedergeburt aus Johannes 3 und 1. Petrus 1 korrespondiert mit der „Erneuerung“, jedoch nicht mit der „Regeneration“.

Regeneration

Was ist nun die Regeneration? Das Wort ist eine wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes palingenesia, das wir in unserem Vers finden. Palin bedeutet „von neuem“ und genesia (verwandt mit genao) bedeutet „Geburt“, „Entstehung“. Beim ersten Hinsehen gleicht dies sehr der Bedeutung von anagennao (siehe oben), doch die Bedeutung im griechischen Sprachgebrauch ist sehr unterschiedlich. Im griechischen Altertum wurde das Wort palingenesia gebraucht für eine totale Veränderung einer bestehenden Ordnung, eines bestehenden Zustandes; dies kann eine nationale Wiederbelebung bedeuten oder sogar (in bestimmten Lehren) die endgültige Erneuerung des ganzen Universums. Es kann aber auch auf die Erneuerung des Individuums hinweisen: sein Übergang in ein neues Bestehen.

Diese beiden Aspekte, die kosmische und die individuelle Veränderung des Zustands, finden wir im Neuen Testament genauso wieder. Außer in unserem Vers, wo es um die individuelle Veränderung geht, kommt das Wort nämlich nur noch in Matthäus 19,28 vor, und zwar in der „kosmischen“ Bedeutung: „Jesus aber sprach zu ihnen [den Jüngern]: Wahrlich, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auch ihr werdet in der ,Regeneration‘ [palingenesia], wenn der Sohn des Menschen auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen wird, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Hier bedeutet das Wort also die totale Veränderung des Zustands der Dinge, wenn der Herr Jesus wiederkommen wird und die Schöpfung von der Sklaverei der Vergänglichkeit befreien (Röm 8,19-22) und das herrliche 1000-jährige Reich aufrichten wird. Dann werden „die Zeiten der Erquickung“ und „die Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge“ angebrochen sein (Apg 3,19-22). Dies ist auch die Bedeutung: die Wiederherstellung/Veränderung der alten Welt in eine neue Welt. Diese Regeneration der Schöpfung bildet eine herrliche Parallele mit der Regeneration des individuellen Menschen, so wie dies in unserem Vers gemeint ist.

So wie Gott in dem Herrn Jesus in der Zukunft auf der Erde erscheinen wird, so ist Er auch in unserem Leben erschienen (vgl. Tit 2,11; 3,4). So wie Er dann das Gericht über seine Feinde ausführen wird, so hat Er auch die Sünde in unserem Fleisch verurteilt. So wie die Welt in einen neuen Zustand gebracht werden wird, so sind auch wir von einem alten in einen neuen Zustand gebracht worden, vom Leben des Fleisches (in der Welt der Sünde) durch den Tod hindurch zum Leben im Geist hinübergebracht durch die Auferstehungskraft Christi. So landen wir auf einem neuen Terrain, wo wir mit dem auferstandenen Christus verbunden sind und in Neuheit des Lebens wandeln. Ich sage nicht: in einem neuen Leben; das steht mit der „Erneuerung des Heiligen Geistes“ in Verbindung. Natürlich ist diese notwendig, da sonst die Regeneration wertlos ist; unser Ableben für die alte Welt und unser Versetztsein in eine neue Welt haben nur Wert, wenn sie mit dem Erhalt einer neuen Natur gepaart gehen, doch es sind zwei verschiedene Dinge!

So werden auch nach der Wiederkunft viele im Friedensreich auf der Erde wohnen, doch für die, die nicht wirklich wiedergeboren sind, wird dies keinen Wert haben; sie werden dennoch verlorengehen (Off 20,7-9). Hieraus ergibt sich, dass die Gerechtigkeit zwar über die Erde herrschen (Jes 32,1; 60,17), die Sünde aber noch nicht verschwunden sein wird. So ist es auch mit dem „regenerierten“ Gläubigen; die Gerechtigkeit herrscht nun zwar in ihm (vgl. Röm 5,17.21), aber er trägt auch noch das sündige Fleisch bei sich. Doch am Ende des 1000-jährigen Reiches werden der gegenwärtige Himmel und die Erde brennend vergehen (2Pet 3,7.10.12; Off 20,11; 21,1) und die Sünde der Welt wird weggenommen werden (Joh 1,29); dann werden ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen werden, wo die Gerechtigkeit nicht mehr herrscht, sondern wohnt (2Pet 3,13; vgl. Off 21,1-5). So wird es auch für den Gläubigen einen Moment geben, dass sein vergängliches Fleisch, das noch zur ersten Schöpfung gehört, Unvergänglichkeit anziehen (1Kor 15,53.54) und sein sterblicher Leib lebendig gemacht werden wird (Röm 8,11). Dann wird auch er nichts mehr mit der Sünde zu tun haben (vgl. Röm 8,23; Phil 3,20.21).

Die Waschung der Regeneration

Diese Regeneration entsteht durch Waschung, und die Waschung findet statt durch Wasser. Dieses Wasser ist ganz sicher nicht das Taufwasser, sondern das Wort Gottes. Dies lehrt uns Epheser 5,26 klar, wo dasselbe Wort für „Waschung“ steht: „[die Gemeinde] reinigend durch die Waschung des Wassers durch das Wort“. Wenn das Wort Gottes in seiner reinigenden Kraft auf Herz und Gewissen angewendet wird und der Sünder im Licht dieses Wortes seine sündigen Taten und seinen Zustand erkennt und diesen vor Gott bekennt, dann wird er dadurch durch das Wort gewaschen, so dass er in Bezug auf die Sünden rein ist. Dies sehen wir auch deutlich in den Stellen, wo das Verb „waschen“ (loeo) vorkommt, wovon „Waschung“ (loetron) abgeleitet ist. Immer weist das Wort auf die totale (geistliche) Waschung des Körpers („das Baden“) hin, so wie in Hebräer 10,22: „die Herzen besprengt [und so gereinigt] vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser“. So auch in Johannes 13,10: „Wer gebadet [von loeo] ist, hat nicht nötig, sich zu waschen [nicht loeo, sondern nipto, das Waschen eines Teils des Körpers], ausgenommen die Füße, sondern ist ganz rein.“ Hieraus sehen wir, dass die totale Waschung einmal stattfindet (bei der Bekehrung), danach jedoch immer die Füße gewaschen werden müssen, die während unseres Wandels in dieser Welt beschmutzt werden. Weiterhin kommt in derselben Bedeutung noch das Wort „abwaschen“ (apoloeo) in Apostelgeschichte 22,16 (siehe unten) und in 1. Korinther 6,11 vor. Vergleiche auch Hesekiel 36,25-27.

Das Wasser, mit dem gewaschen wird, ist also das Wort Gottes; nicht das Wort Gottes ohne Weiteres, denn das hat viele Facetten: Waffe („Schwert“: Heb 4,12), Nahrung („Milch“: 1Pet 2,2), Richtschnur („Lampe“: Ps 119,105) usw. Hier haben wir aber das Wort als Mittel zur Reinigung. In dieser Bedeutung wird es an verschiedenen Stellen genannt:

  • Joh 15,3: Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.
  • 1Pet 1,22b.23: Liebt einander mit Inbrunst aus reinem Herzen, die ihr nicht wiedergeboren seid aus verweslichem Samen, sondern aus unverweslichem, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes.

  • Jak 1,18: Nach seinem [Gottes] eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt.

Nebenbei fällt uns auf, dass es nebst der Waschung mit Wasser auch die Waschung mit Blut gibt: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen (loeo) hat in seinem Blut …“ (Off 1,5b). Diese beiden Waschungen sind sehr unterschiedlich. Die Waschung durch das Blut hat dem Grunde nach einmal am Kreuz stattgefunden, aber die Waschung mit Wasser hat einmal bei unserer Bekehrung stattgefunden. Das Blut ist nur einmal vergossen worden und behält seinen Wert bis in Ewigkeit; das Wasser (das reinigende Wort Gottes) wird viele Male angewendet: einmal, um uns ganz zu baden (bei unserer Bekehrung), und danach immer wieder, um uns die Füße zu waschen. Die Waschung mit Blut ist nötig für Gott; das Blut bedeckt unsere Sünden und versöhnt uns mit Gott. Die Wasserwaschung ist für uns selbst nötig: Durch die reinigende Wirkung des Wortes Gottes kommen wir zu der Entdeckung unseres sündigen Zustands und werden dazu gebracht, unsere Sünden zu bekennen, wodurch wir davon gereinigt werden (1Joh 1,9). Vergleiche die Kombination aus Wasser und Blut in 1. Johannes 5,6-8 und Johannes 19,34.

Die Taufe

Wir haben also gesehen, dass die „Waschung der Regeneration“ enthält, dass wir gereinigt sind von unserem früheren, sündigen Wandel und dass wir durch den Tod in die Auferstehungswelt Christi versetzt sind, um dort in Neuheit des Lebens zu wandeln. Dies wird bis in die Details hinein durch die Taufe ausgedrückt. Die „Waschung“ ist nicht die Taufe selbst (wir dürfen Bild und Wirklichkeit nicht miteinander verwechseln), sondern die Waschung ist das, was in der Taufe ausgedrückt wird. Das gilt nicht für die Waschung im Allgemeinen (wie z.B. in Eph 5,26; Joh 3,5; 13,10; Off 1,5; 1Kor 6,11; in allen diesen Texten hat die Waschung nichts, aber auch gar nichts mit der Taufe zu tun); dies gilt aber wohl für die „Waschung der Regeneration“, was die Reinigung ist, die uns in die neue Welt hineinbringt, bevor überhaupt von einer neuen Natur die Rede ist (diese kommt mit der „Erneuerung“, d.i. die andere Seite desselben Ereignisses). Das ist wichtig, denn in vielen Theologien wird die Taufe mit der Wiedergeburt verbunden, also mit dem Empfang neuen Lebens, und das ist ein ernster Irrtum. Nirgends im Neuen Testament wird die Taufe mit dem Empfang neuen Lebens verbunden, wohl aber mit dem Tod und einem neuen Wandel. Leben ist innerlich, Wandel ist äußerlich. Natürlich ist dieser Wandel nur dann gut möglich, wenn auch eine neue Natur da ist; Letzteres befindet sich aber außerhalb des Bildes der Taufe. Wir dürfen das nicht voneinander trennen, müssen aber wohl unterscheiden. Zwei Dinge sind mit uns geschehen: Wir sind durch den Tod gereinigt von unserem früheren Wandel in der Sünde und sind in einen neuen Zustand versetzt worden („die Waschung der Regeneration“), und wir sind vollkommen erneuert, weil wir durch den Heiligen Geist neues Leben aus Gott empfangen haben („die Erneuerung des Heiligen Geistes“). Das Erste wird in der Taufe ausgedrückt, das Zweite absolut nicht.

Die Bedeutung der Taufe können wir in diesem Zusammenhang wunderbar anhand von drei erläuterten Begriffen illustrieren: (1) errettet durch die (2) Waschung der (3) Regeneration. Die Taufe wird so stark mit der Errettung verbunden, wie sie hier beschrieben wird, dass wir an verschiedenen Stellen wörtlich finden, dass wir durch die Taufe errettet werden: „Wer da glaubt und getauft wird, wird errettet werden“ (Mk 16,16). „Als Gegenbild der Taufe [das Wasser der Sintflut] errettet die Taufe euch jetzt (das ist nicht ein Ablegen der Unreinigkeit des Fleisches, sondern das Begehren eines guten Gewissens vor Gott) durch die Auferstehung Jesu Christi“ (1Pet 3,21). Und auch Apostelgeschichte 2,40.41 legt diese Verbindung: „[Petrus] sagte: Lasst euch retten von diesem verkehrten Geschlecht! Die nun sein Wort aufnahmen, wurden getauft.“ Natürlich hat die Taufe nichts mit unserer Errettung im Sinne der Zubereitung für den Himmel zu tun. Wir müssen aber bedenken, dass unsere Errettung gemäß des Neuen Testaments erst vollständig ist, wenn wir nicht nur „erneuert“ sind, sondern auch „regeneriert“ sind und dies in der Taufe ausgedrückt haben: Wir müssen auch von der alten Welt errettet werden und durch die Wasser des Gerichts (wie die Sintflut) in eine neue Welt versetzt werden; so werden wir auch von dem verkehrten Geschlecht errettet, wozu wir früher gehörten. Wir müssen darauf achten (ohne dass wir darauf jetzt weiter eingehen), in wie vielen verschiedenen Aspekten die Errettung im Neuen Testament gesehen wird (siehe z.B. Tit 3,5).

Zweitens wird die Taufe auch als Wasserbad gesehen. Wir haben dies schon in 1. Petrus 3,20.21 wahrgenommen: So wie Noah und die Seinen durch die Wasser von einer alten Welt gereinigt und in eine neue Welt versetzt wurden, so macht die Taufe dies bildlich auch mit uns. Wir sehen dies auch in Apostelgeschichte 22,16, wo Ananias zu Saulus sagt: „Stehe auf, lass dich taufen und deine Sünden abwaschen.“ Dies illustriert sehr schön die „regenerative Wasserwaschung“: Wenn Saulus sich taufen ließe, würde darin zum Ausdruck kommen, dass er forthin keine Verbindung mit seinem früheren sündigen Wandel mehr hätte und davon gereinigt wäre und ein neues Leben beginnen würde; dass er nicht mehr durch die Sünde beherrscht wird, sondern von der Frage vor Gott nach einem guten Gewissen (1Pet 3,21). Es hat also nichts mit der Zubereitung für den Himmel zu tun, sondern es hat alles mit der Erde zu tun: eine Veränderung in Zustand und Wandel. Nicht ein Abwaschen der Sünden für den Himmel, sondern im Hinblick auf den weiteren irdischen Wandel. Genau dasselbe finden wir in Apostelgeschichte 2,38, wo steht, dass die Taufe zur Vergebung der Sünden dient: nicht für den Himmel, sondern administrativ für die Erde. Ein ganz schönes Beispiel der Taufe als Wasserwaschung ist auch 1. Korinther 10,1.2: „Unsere Väter waren alle unter der Wolke, waren alle durch das Meer hindurchgegangen und wurden alle auf Mose getauft in der Wolke und in dem Meer.“ Hier wird die Erlösung aus Ägypten, das Ziehen durch das Rote Meer und das In-Verbindung-gebracht-Werden mit der Herrlichkeit Gottes (die Wolke) und mit Mose (als Bild des auferstandenen Christus) mit der Taufe verglichen. Wir haben durch die Taufe das Gebiet der Welt und der Sünde verlassen und sind in die Wasser des Todes zu Christus gebracht. So sind wir zu Gott gebracht (1Pet 3,19) und wandeln in Neuheit des Lebens in der Auferstehungskraft Christi.

Dies führt uns automatisch zu dem dritten, dem „regenerativen“ Charakter der Taufe: versetzt von der alten Welt in die neue Welt durch den Tod Christi (Röm 6,3.4) – so wie Israel von Ägypten, dem Gebiet der Sünde und der Welt, in die Wüste hinüberging. Die Wüste ist gewiss nicht der Himmel, sondern das Land des Todes. Hieraus können wir schon ableiten, dass die Taufe nichts mit Lebendigmachen (Wiedergeburt) zu tun hat, sondern uns gerade in den Tod bringt (Röm 6,3.4; Kol 2,11). Doch ist es ein Tod, der nicht Gericht für uns bedeutet, denn Christus hat das Gericht getragen. Der Tod ist seiner Kraft beraubt (2Tim 1,10), und wir gehen durch die Wasser des Todes, geborgen in Christus, wie Noah und die Seinen in der Arche (die ein Bild von Christus ist) geborgen waren und so durch die Wasser des Todes ein neues Gebiet erreichten. Wir begeben uns bei der Taufe in den Tod und das Grab Christi, um dadurch das Gebiet der Sünde hinter uns zu lassen; dadurch kommen wir zwar in das Land des Todes (die Wüste), doch dieser Tod jagt uns keine Angst mehr ein, denn Christus ist auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters, und in der Kraft seines Auferstehungslebens folgen wir Ihm als dem wahren Mose durch die Wüste, bis wir in Kanaan ankommen. So fangen wir in der Wüste einen neuen Wandel an (nachdem wir dem alten Wandel in Ägypten abgestorben sind; Kol 2,20; 3,7) mit Christus. In der Taufe haben wir Christus angezogen (Gal 3,27), um Ihm zu folgen und zu dienen und praktisch abgesondert zu sein von den Grundsätzen der Sünde und der Welt, an dem auch Er keinen Teil mehr hat seit dem Kreuz (Röm 6,7-11). In der Taufe sprechen wir das Verlangen aus, Gott von nun an mit einem guten Gewissen zu dienen (1Pet 3,21).

Die Erneuerung des Heiligen Geistes

Bei der Waschung der Regeneration kommt nun als zweites Mittel, das zu unserer Errettung führt, die Erneuerung des Heiligen Geistes; vgl. die „Erneuerung zur Buße“ (vgl. Heb 6,6). Manche Handschriften lesen: „Erneuerung durch [dia] [den] Heiligen Geist“; dies ist in der Tat die Bedeutung, dennoch fehlt dia in den besten Handschriften. Es ist offensichtlich hinzugefügt worden, um den zweiten Fall („des Heiligen Geistes“) zu erläutern. Doch diese Erklärung ist überflüssig, denn niemand wird hier herauslesen, dass der Heilige Geist erneuert werden muss, sondern wir werden erneuert durch den Heiligen Geist.

Wir haben über Wasser und Blut als Mittel für die Waschung gesprochen, und nun kommt der Heilige Geist dazu, der erneuert (siehe 1Joh 5,6-8). Die Verbindung von Wasser und Geist haben wir auch in Johannes 3,5 mit Verweis auf Hesekiel 36,25-27. Allerdings fehlt in diesen Stellen etwas, was wir sehr wohl in unserem Abschnitt finden: Im Alten Testament und vor dem Pfingsttag war der Geist auch wirksam, um Menschen zu erneuern durch Wiedergeburt, doch wohnte der Geist nie als Person bleibend in den Wiedergeborenen. Er erneuerte sie, machte jedoch keine Wohnung bei ihnen. Für uns gilt nun, dass wir nicht nur durch den Heiligen Geist erneuert sind, sondern dass Gott den Geist auch reichlich über uns ausgegossen hat (Tit 3,6). Das ist vollkommen neu; das konnte der Herr auch noch nicht zu Nikodemus sagen. Wir kommen gleich, bei Vers 6, darauf zurück; ich erwähne dies allerdings jetzt schon, um klarzumachen, dass auch die Erneuerung des Heiligen Geistes eine neue Dimension hinzubekommen hat, weil der Heilige Geist auch bleibend in uns Wohnung gemacht hat. Dadurch hat die Erneuerung hier zwei Kennzeichen: zuallererst die Erneuerung, die einmal bei unserer Wiedergeburt stattgefunden hat, und zweitens die bleibende und andauernde, weiter fortschreitende Erneuerung, die wir täglich durch den Heiligen Geist erfahren, der in uns wohnt.

Die einmalige Erneuerung enthält, dass wir von neuem geboren sind aus einem neuen, himmlischen Grundsatz (Joh 3,3.7), und zwar aus Gott (Joh 1,13) bzw. aus dem Geist (Joh 3,6). Wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden (2Kor 5,17; vgl. Gal 6,15). „Erneuerung“ ist anakainosis, von ana („wiederum“) und kainos, was „neu“ bedeutet im Sinne einer anderen Form, eines anderen Charakters. Dies steht im Gegensatz zu neos, was „neu“ im Sinne von „jung“ oder eines „jungen Datums“ (so in Tit 2,4.6) bedeutet. Wenn wir dies wissen, verstehen wir die nachfolgenden Verse: „Ihr habt, was den früheren Lebenswandel betrifft, den alten Menschen abgelegt … und seid erneuert [von neos, verjüngt] im Geist eurer Gesinnung und habt den neuen [kainos, „anderen Ursprungs und Charakters“] Menschen angezogen, der nach Gott geschaffen ist [„eine neue Schöpfung“] in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22-24). „Belügt einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen [neos, „das soeben begonnene neue Leben“] angezogen habt, der erneuert [anakainoö, „fortwährend verändert nach einem neuen Grundsatz“] wird zur Erkenntnis nach dem Bilde dessen, der ihn erschaffen hat“ (Kol 3,9.10). Wir erkennen hieraus zwei Dinge: Erstens sind wir neue Menschen geworden, nach einem neuen Grundsatz total verändert. Doch bislang ist nur unser Geist in dieser Erneuerung betroffen; wir haben neues Leben, eine neue Natur in uns, doch unser Leib gehört noch zur alten Schöpfung. Dadurch haben wir das Fleisch noch bei uns, von dem wir erst erlöst sein werden, wenn unsere Leiber erlöst sind. Solange das nicht der Fall ist, begehrt das Fleisch gegen den Geist (Gal 5,17). Darum ist es nicht genug, dass wir eine neue Natur empfangen haben, sondern wir müssen auch an dem inneren Menschen Tag für Tag erneuert werden (2Kor 4,16), damit wir auch praktisch dem Bild des Sohnes Gottes gleichförmig werden (Röm 8,29).

Der Christ wird im Neuen Testament auf zweierlei Weise gesehen: In Christus ist er vollkommen, heilig und tadellos, ein neuer Mensch; doch was seine praktische Verantwortung betrifft, muss er ständig weiter erneuert werden durch den Heiligen Geist. „Der Herr aber ist der Geist … Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist.“ Diesen Aspekt finden wir auch in den übrigen Stellen, wo über „Erneuerung“ (anakainosis) und „erneuern“ (anakainoö) gesprochen wird. Davon wurden 2. Korinther 4,16 und Kolosser 3,10 bereits genannt, so dass Römer 12,2 noch übrigbleibt: „Werdet verwandelt durch die Erneuerung [eures] Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.“

Den Er reichlich über uns ausgegossen hat

Dies alles bewirkt der Heilige Geist, der über uns ausgegossen ist (Tit 3,6). Er schenkt uns nicht eine neue Natur durch die Wiedergeburt, sondern macht auch Wohnung in uns, um uns von Tag zu Tag dem Bild der Herrlichkeit Christi gleichförmiger zu machen. Was für ein Unterschied mit der Situation vor dem Pfingsttag! Nicht nur, dass der Heilige Geist noch nicht ausgegossen war und noch nicht in den Gläubigen wohnte, sondern auch: In welches Bild hätte der Heilige Geist die Gläubigen verändern sollen? Es war noch kein verherrlichter Mensch im Himmel, der dort eingegangen ist, nachdem Er das Werk der Verherrlichung Gottes vollbracht hat, und den Gott zu seiner Rechten auf seinem Thron in den himmlischen Örtern hat sitzen lassen. Solange dieser Mensch noch nicht verherrlicht war, konnte der Geist nicht kommen (Joh 7,39); doch jetzt ist Jesus durch Gott verherrlicht als Lohn für sein Werk, und Er hat uns den Geist gesandt, der vom Vater ausgeht (Joh 15,26). Dieser Geist wohnt in der ganzen Gemeinde, die der Tempel des lebendigen Gottes ist (1Kor 3,16; 2Kor 6,16); Er wohnt jedoch auch in jedem einzelnen Gläubigen (Jak 4,5), denn auch der Leib jedes einzelnen Gläubigen ist ein Tempel des Heiligen Geistes, der in ihm ist (1Kor 6,19).

Auch vor dem Kommen des Heiligen Geistes in persona auf die Erde war Er auf der Erde schon wirksam. Bei der Schöpfung schwebte der Geist Gottes schon über den Wassern (1Mo 1,2). Doch bedeutet irgendwo zu wirken noch nicht wohnen. Diese Tätigkeit war auch immer zeitlich; David musste, wiewohl er ein Gläubiger war, beten: „Nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir“ (Ps 51,13). Jetzt aber bleibt der Heilige Geist für ewig in den Gläubigen (Joh 14,16.17). Vor Pfingsten war der Geist auf zweierlei Weise in den Menschen wirksam: Er wirkte an den Herzen, damit sie wiedergeboren werden konnten, und Er sprach das Wort Gottes durch Menschen, manchmal sogar durch Ungläubige (Bileam, Saul, Judas). Beides tut der Geist jetzt noch; und darüber hinaus ist Er persönlich herabgekommen, um in denen zu wohnen, die glauben. Das sind also zwei ganz verschiedene Dinge: Er wirkt das Werk der „Erneuerung“ (Wiedergeburt), und sie, die glauben, werden mit Ihm versiegelt. Wie unterschiedlich diese beiden Dinge sind, zeigt sich aus der Tatsache, dass das Werk der Erneuerung auch schon im Alten Testament stattfand, als der Heilige Geist noch nicht in Menschen wohnte; und darüber hinaus gab es auch nach Pfingsten noch viele Fälle, bei denen eine geraume Zeit zwischen der „Erneuerung“ und der „Versiegelung“ lag.

Kornelius war lediglich bekehrt und wiedergeboren und hatte nur Leben aus Gott, bevor er mit dem Evangelium in Berührung kam, durch das er errettet werden würde (Apg 11,14). Nebst Wiedergeburt musste er auch noch gerettet werden. Gott versiegelt keine Wiedergeburt mit dem Geist, sondern Errettung; und erst als Kornelius „das Evangelium der Errettung“ geglaubt hatte, empfing er den Heiligen Geist (Apg 10,43.44). Das ist auch die Reihenfolge in Epheser 1,13. So war es auch bei Saulus. Er wurde bekehrt und wiedergeboren auf dem Weg nach Damaskus; sonst hätte er nicht gefragt: Herr, was soll ich tun? (Apg 22,10). Doch erst als er ganz erleuchtet war, ins volle Licht kam, wurde er mit Heiligem Geist erfüllt (Apg 9,17). Hier lagen drei Tage dazwischen. So auch der Gefängniswächter aus Philippi; er war wiedergeboren, als er vor Paulus niederfiel, sonst hätte er nicht fragen können: „Ihr Herren, was muss ich tun, um errettet zu werden?“ (Apg 16,30.31). Ein Mensch ist bekehrt und wiedergeboren, wenn er seine sündigen Taten und seinen sündigen Zustand einsieht und vor Gott aufrichtig bekannt hat; ein Mensch ist errettet, wenn er darüber hinaus das Evangelium der Errettung annimmt und glaubt, dass Christus für ihn gestorben und auferweckt ist (1Kor 15,1-4) und dass er dadurch gerechtfertigt ist und Frieden mit Gott hat (Röm 4,25; 5,1). Einen solchen kann Gott dann auch mit dem Heiligen Geist versiegeln (Eph 1,13; vgl. Eph 4,30).

Ausgegossen

An anderen Stellen lesen wir auch, dass wir mit dem Heiligen Geist gesalbt sind (2Kor 1,21; Apg 10,38; 1Joh 2,20.27), und weiter, dass der Heilige Geist den Gläubigen gegeben ist (Apg 5,32; 8,18; 15,8; Röm 5,5; 1Thes 4,8; 1Joh 4,13; vergleiche „Gabe“ in Apg 2,38; 8,20; 10,45), auf sie gefallen ist (Apg 10,44; 11,15) und über sie gekommen ist (Apg 1,8; 19,6) und dass sie den Heiligen Geist empfangen haben (Apg 2,38; 8,15-19; 10,47; 19,2; Gal 3,2.14) und damit erfüllt sind (zum ersten Mal: Apg 2,4; 9,17). In allen diesen Fällen finden wir, dass das Geben des Heiligen Geistes nach Pfingsten erwähnt wird; auch nach (nicht nur an) diesem Tag empfingen die Gläubigen den Heiligen Geist, fiel Er auf sie, wurden sie mit Ihm gesalbt und versiegelt. Doch wie steht es mit dem Wort in unserem Vers: „ausgegossen“? Wird der Heilige Geist jedes Mal, wenn jemand zum Glauben kommt, erneut ausgegossen? Ich würde das nicht gern sagen, einfach deswegen, weil das Wort des Weiteren nur in Apostelgeschichte 2 vorkommt, also an Pfingsten (Apg 2,17.18.33). In Apostelgeschichte 10,45 kommt ein anderes Wort für „ausgießen“ vor.

Es scheint also, dass mit der „Ausgießung des Heiligen Geistes“ ein ganz besonderes, einmaliges Ereignis gemeint ist, und zwar in zwei Phasen: zuerst die Ausgießung des Geistes an Pfingsten und in der Zukunft zu Beginn des Friedensreiches. Auf Letzteres weisen Jesaja 44,3, Joel 2,28 und Sacharja 12,10 hin. Also weist die „Ausgießung“ sowohl im Alten Testament als auch im Neuen Testament auf ein einzigartiges Ereignis hin. Dies wird noch auf andere Weise bestätigt. Bei „ausschütten“ und „ausgießen“[5] denken wir an das Ausgießen von Wasser (siehe dasselbe Wort in Mt 9,17 und vgl. auch den „Spätregen“ in Hosea 6,3 und Joel 2,23), und ausgehend hiervon denken wir auch an das „Taufen mit dem Heiligen Geist“. Und nun zeigt sich, dass auch dies – wie falsch der Ausdruck heutzutage auch gebraucht wird – ausschließlich in Verbindung mit dem Ereignis an Pfingsten vorkommt (siehe Apg 1,5 und 11,6 und die Ankündigung in Mt 3,11; Mk 1,8; Lk 3,16; Joh 1,33; beachte, wie Petrus in Apg 11 einen Unterschied macht zwischen dem, was am Pfingsttag, und dem, was im Haus von Kornelius geschah). So wie es eine Taufe mit Wasser gibt, so gibt es auch einen Taufe mit dem Heiligen Geist; so wird die Wirkung des Heiligen Geistes auch oft mit Wasser verglichen (siehe Joh 4,14; 7,38.39).

Doch wie ist nun zu verstehen, dass der Heilige Geist nur einmal, am Pfingsttag, ausgegossen wurde, während wir doch auch an dieser Ausgießung teilhaben? Unser Vers sagt doch, dass Gott den Heiligen Geist über uns ausgegossen hat? Dieses Problem können wir leicht lösen mit dem einen Text über die Taufe mit dem Heiligen Geist, den ich noch nicht genannt habe. Wir lesen nämlich in 1. Korinther 12,13: „In einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden.“ Dies ist am Pfingsttag geschehen; vor diesem Tag gehörten die Gläubigen nicht zu einem Leib und waren sie nicht zu einem Ganzen versammelt. Es ist Phantasie, zu behaupten, dass im Alten Testament so etwas wie „die Kirche“ existierte; das Volk Israel wurde durch natürliche Bande zusammengehalten, während viele von ihnen nicht einmal wiedergeboren waren. Und auch außerhalb des Volkes kamen Gläubige vor (Melchisedek, Hiob). Auf welche Weise waren diese Gläubigen miteinander verbunden? Natürlich hatten sie alle das neue Leben, sie waren jedoch nicht auf eine bestimmte Weise zu einem Leib zusammengefügt; es gab sogar eine Trennwand zwischen Israel und den Nationen (Eph 2,11-18). Doch jetzt ist der Herr Jesus gekommen, um zu sterben, nicht allein für die Sünden des Volkes, sondern auch, damit Er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte (Joh 11,50-52) und die Schafe des Stalls von Israel und außerhalb des Stalls zu einer Herde zusammenfügte (Joh 10,15.16).

Dies ist geschehen, nachdem der Herr verherrlicht wurde und den Heiligen Geist gesandt hatte. Wie eine Flut kam der Geist herab und die Gläubigen wurden darin untergetaucht („getauft“); die Geistesflut schmolz die Gläubigen zu einem Leib zusammen. Darüber hinaus wird man immer „zu“ etwas getauft; so wurden die Gläubigen am Pfingsttag durch den Geist zueinander und zum Herrn getauft und bilden seitdem ein Ganzes, einen Leib – in dem es weder Juden noch Griechen gibt – und auch ein Haus, einen Tempel, in dem der Heilige Geist wohnt (1Kor 3,16; Eph 2,22).

Wie oft hat diese Taufe stattgefunden? Die kann nur einmal stattfinden, denn der Leib kann nur einmal Leib werden. Natürlich ist der Körper seitdem gewachsen, und Glieder auf der Erde wurden durch andere Glieder ersetzt, doch es ist immer noch derselbe Leib Christi. So wie mein Körper klein angefangen hat und stark gewachsen ist und viele seiner Zellen durch andere Zellen ersetzt wurden, ist es immer noch derselbe Körper. Wenn nun jemand zum Glauben kommt, wird er ein Glied am Leib Christi und bekommt er Teil an der Taufe oder Ausgießung des Heiligen Geistes; nicht dass er selbst mit dem Geist getauft wird oder der Geist auf ihm selbst ausgegossen wird, aber er bekommt Teil an dem durch die Taufe mit dem Geist entstandenen Leib. Er tritt der Gemeinschaft des Geistes bei, die durch die Ausgießung des Geistes entstanden ist. Sein eigener Leib wird ein Tempel des Heiligen Geistes, und er wird ein Stein des Wohnortes Gottes im Geist (1Kor 6,19; Eph 2,22; 1Pet 2,5).

Reichlich über uns

Im Alten Testament war der Heilige Geist nur individuell und zeitlich wirksam. Doch seit dem Pfingsttag ist alles anders. Gott hat den Heiligen Geist „über uns“ ausgegossen; nicht mehr in einem Einzelnen wirksam werden lassen, sondern ausgegossen über uns alle, die glauben. Nicht über „mich“ ausgegossen, denn wir haben gerade gesehen, dass die Ausgießung keine persönliche Sache ist, sondern ein einmalig kollektives Ereignis: „Wir sind alle in einem Geist zu einem Leib getauft worden“ (1Kor 12,13). Nicht nur für eine zeitliche Wirksamkeit, sondern „ausgegossen“ über uns, damit Er bei uns zu bleibe bis in Ewigkeit (Joh 14,16.17). Mögen in unserer Zeit die Äußerungen des Geistes abgeschwächt sein, Er bleibt ausgegossen. Einmal ist der Heilige Geist in Person gekommen, um die Gläubigen zu einem Leib zusammenzufügen und um in der Gemeinde für ewig zu wohnen. Es ist also vollkommen unpassend, für eine neue Ausgießung des Geistes zu beten. Wie besonders diese Ausgießung ist, verglichen mit dem Alten Testament, zeigt sich darin, dass im Alten Testament die Ausgießung des Geistes noch Zukunftsmusik war. Es war etwas, wonach sich gesehnt wurde, was aber nicht gekannt wurde.

Darüber hinaus wurde der Geist „reichlich“ ausgegossen. Das ist von großer Bedeutung. „Gott gibt den Geist nicht nach Maß“ (Joh 3,34). Im Alten Testament wirkte der Heilige Geist in der Seele lediglich das neue Leben der Wiedergeburt. Doch der Herr sagt, dass Er gekommen ist, damit die Seinen nicht nur Leben haben, sondern damit sie es in Überfluss haben (Joh 10,10). Er kam, damit die Seinen nicht nur das durch den Heiligen Geist gewirkte neue Leben aus Gott besäßen, sondern Er wollte, dass sie Ihn, den Sohn selbst als das ewige Leben besäßen, das Leben in seiner reichsten und überströmenden Form (siehe Tit 3,7). Dieses Leben konnte nur Er aufgrund seines Todes und seiner Auferstehung geben. Als auferstandener Mensch schenkte Er den Seinen sein Auferstehungsleben und als ewiger Sohn schenkte Er ihnen das ewige Leben (vgl. 1Joh 1,2; 5,20). Dies tat Er, indem Er als der „lebendig machende Geist“ (1Kor 15,45) in die Seinen hauchte und zu ihnen zu sagte: „Empfangt Heiligen Geist“ (Joh 20,22). Was ist reicher als dieses göttliche Leben? Gott hat uns die größten und kostbarsten Verheißungen geschenkt, so dass wir selbst Teilhaber der göttlichen Natur geworden sind (2Pet 1,4). Alles, was Gott in sich selbst ist, ist unser Leben geworden. Sein tiefstes Wesen, die Liebe Gottes, ist in unsere Herzen ausgegossen (vgl. unser Vers) durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5,5). So „reichlich“ hat Gottes Regen uns überdeckt (Ps 84,7)!

Durch Jesus Christus unseren Heiland

Dieses reichliche Ausgießen hat Gott durch Jesus Christus, unseren Heiland, bewirkt. Es ist aufgrund seines Werkes, dass Gott uns den Heiligen Geist geben konnte. Mittels Jesus Christus, als unser Heiland und Seligmacher, schüttete Er den Heiligen Geist über uns aus. Alles, was Gott zu geben hat, das gibt Er und kann Er nur geben durch den Herrn Jesus. Dieser ist uns ja alles geworden: Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung (1Kor 1,30). Wie sehr sind diese drei Personen in allen Dingen verbunden! Gott ist der Schöpfer aller Dinge, aber im Sohn schuf Er (Kol 1,15.16; Heb 1,3) in der Kraft des Heiligen Geistes (1Mo 1,1.2). So war es nicht nur im Schöpfungswerk, sondern auch im Erlösungswerk: Christus hat sich durch den ewigen Geist Gott tadellos geopfert (Heb 9,14). Ich rede hier nicht von der Dreieinheit (Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Geist), sondern über Gott, den Menschen Jesus Christus und den Heiligen Geist. Dieselbe Verbindung finden wir bei der Geburt des Herrn (Lk 1,35), bei seiner Taufe (Mt 3,16.17), bei seiner Auferstehung (Röm 1,3.4), bei seiner Wirksamkeit in der Gemeinde (1Kor 12,4-6; vgl. Eph 2,21.22). So ist es auch bei der Wiedergeburt (Joh 3,5-8); Gal 1,4; 1Pet 1,3), bei der Inspiration (Lk 1,70; Apg 1,16; 1Pet 1,11), bei der göttlichen Offenbarung (1Kor 1,24; 2,7.10.16) und beim Innewohnen (Joh 14,23; 1Kor 6,19; Eph 3,17).

In Verbindung mit unserem Vers gibt es noch ein anderes wichtiges Ereignis, in dem Gott, Christus und der Geist einbezogen sind, und das ist bei der Sendung des Heiligen Geistes nach der Verherrlichung Christi. Gott hat ja den Heiligen Geist über uns ausgegossen durch Jesus Christus, unseren Heiland. In Johannes 14,16-20 verheißt der Herr, dass Er den Vater bitten werde, und dieser würde den Jüngern einen anderen Tröster geben, um den Platz des Herrn Jesus bei den Seinen einzunehmen und ewig bei ihnen zu bleiben. In diesem Geist würde der Herr selbst zu ihnen kommen, und sie würden Ihn als ihr Leben empfangen aufgrund seines Lebens aus dem Tod (vgl. Joh 10,17; 12,24). Auf diese Weise würden sie zu dem wunderbaren Bewusstsein kommen, dass Er in ihnen als ihr Leben ist und dass sie in Ihm sind, verbunden mit dem verherrlichten Menschen im Himmel, und dass dieser Mensch derselbe ist, der als ewiger Sohn in dem Vater ist! Was für eine herrliche, wunderbare Höhe, zu der wir durch Gnade gebracht sind. Es ist der Herr, der den Vater bittet, den Geist zu senden, und es ist der Vater, der den Geist im Namen des Sohnes sendet (Joh 14,15.26). Andererseits ist es der Sohn selbst, der den Tröster vom Vater aus sendet, den Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht (Joh 15,26). So gibt es eine vollkommene Verbindung: Der Vater sendet im Namen des Sohnes, und der Sohn sendet vom Vater den Geist, der von dem Vater ausgeht. Der Heilige Geist ist die Verheißung des Vaters (Apg 1,4), aber es ist der Herr, der von dem Vater diese Verheißung des Heiligen Geistes empfangen hat und diesen ausgegossen hat (Apg 2,32.33).

Der Heilige Geist

Was für ein Vorrecht ist es, diesen Geist zu besitzen und im Besitz dieses Geistes zu sein! Es ist der Heilige Geist, der uns die Tiefen Gottes offenbart hat und uns die Weisheit geschenkt hat, diese Tiefen kennenzulernen (1Kor 2,9-14). Es ist der Heilige Geist, der unsere Herzen auf Gott, den Vater, richtet und uns rufen lässt: „Abba, Vater!“, und mit unserem Geist zeugt, dass wir Kinder Gottes sind (Röm 8,15.16). Es ist auch der Heilige Geist, der unsere Herzen mit dem Herrn Jesus erfüllt! Er zeugt von Ihm, so wie wir Ihn in diesen beiden Umständen kennen: als niedriger Mensch auf der Erde und als verherrlichter Mensch im Himmel. Siehe für Ersteres Johannes 14,26 und für das Zweite Johannes 16,14. Der Geist führt uns vor Augen, wer der Herr auf der Erde war, damit wir Ihm in der Kraft des Geistes darin nachfolgen würden, und Er verkündigt uns die Herrlichkeit, die der Herr jetzt im Himmel hat, damit wir diesem Bild gleichförmig werden (2Kor 3,17.18). Was für ein praktischer Führer und was für eine praktische Hilfe ist der Geist daher für unser Glaubensleben! In der Kraft dieses Geistes sind wir in der Lage, das Fleisch unten zu halten (Röm 8,5-17; Gal 5,16-26). Dazu müssen wir mit dem Geist erfüllt sein (Eph 5,18) und dem Fleisch keine Gelegenheit geben, damit wir den Geist nicht betrüben (Eph 4,30) oder sogar auslöschen (1Thes 5,19).

Durch den Heiligen Geist können wir Gott dienen (Phil 3,3; vgl. Röm 7,6), zu Gott beten (Röm 8,26; vgl. Jud 20), dem Vater nahen (Eph 2,18), Gemeinschaft genießen (2Kor 13,13), Friede und Freude genießen (Röm 14,17; Gal 5,22; 1Thes 1,6) – ja, was für herrliche Segnungen sind das! Und das alles durch das reichliche Ausschütten des Geistes Gottes, aufgrund des Werkes Jesu Christi, unseres Heilands. Ein Werk, dass so reich und herrlich ist, dass nicht nur unsere Sünden dadurch weggetan sind, sondern auch ist Gott durch das Werk so verherrlicht, wie es nie geschehen ist und nie wieder geschehen wird. Ein Werk, so herrlich, dass Gott darin viel mehr empfangen hat, als wir Ihm geraubt hatten, so dass Gottes Herz nun weit offen steht, um uns nicht nur die Sünden zu vergeben, sondern auch zu segnen mit jeder denkbaren geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern (Eph 1,3) – mit allem, was der Herr durch sein Werk erworben hat; und worin sollte sein Werk versagen, so dass es etwas geben könnte, was Er nicht erworben haben würde? Und das alles ist unser Teil geworden! Auf der Grundlage des Brandopfers, das von alledem redet, was der Herr mehr getan hat, als für die Sünde nötig war, damit Gott verherrlicht werden würde, und was immer vor Gottes Angesicht steht, konnte Gott in dem Heiligen Geist zu uns kommen und in unserer Mitte wohnen (lies 2Mo 29,36-46).

Tit 3,7: … damit wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens.

Wir kommen jetzt zum letzten Teil des langen Satzes von Titus 3,3 bis 7. Nach der Einleitung in Vers 4 und dem Hauptsatz in Vers 5 (mit einem eingefügten Nebensatz in Vers 6) folgt nun der Schlusssatz, der das Ziel unserer Errettung angibt: Gott hat uns errettet, damit wir Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens.

Hiermit kommen wir auch zu den letzten beiden der sieben Aspekte, die in diesen Versen über die Errettung aufgezeigt werden. Diese sieben Aspekte sind:

  1. Was unser Dazutun betrifft: Die Errettung geschah vollständig außerhalb unserer Werke und unserer eigenen Gerechtigkeit.
  2. Der Maßstab der Errettung: Sie wird nach dem Maß der Barmherzigkeit Gottes gemessen.

Anschließend die Mittel, die zur Errettung führten:

  1. Die Waschung der Regeneration
  2. Die Erneuerung des Heiligen Geistes

Diese ersten vier gehören zusammen und teilen sich in zweimal zwei auf, wie wir schon in Titus 3,2.3 gesehen haben. Sie unterscheiden sich von den letzten drei Kennzeichen der Errettung, weil die ersten drei auch auf alttestamentliche Gläubige zutreffen, während die letzten drei nur für neutestamentliche Gläubige gelten. Auch die Gläubigen im Alten Testament konnten vor Gott nicht bestehen aufgrund ihrer eigenen Werke, sondern nur aufgrund seiner Barmherzigkeit; und auch sie waren gereinigt durch das Wort Gottes und erneuert durch den Heiligen Geist. Man könnte höchstens daran zweifeln, ob man bei ihnen von Regeneration sprechen kann. Wir können von ihnen nicht sagen, dass sie mit Christus gekreuzigt waren und in der Auferstehungskraft Christi wandelten, denn es gab noch keinen gekreuzigten und auferweckten Christus. Zwar waren sie gereinigt, weil Gott in den Opfern auf das Blut Christi voraussah, doch solange der Herr Jesus nicht auferweckt und zur Rechten Gottes verherrlicht war, konnten die Segnungen, die mit dieser Stellung des verherrlichten Menschen im Himmel verbunden sind, nicht gegeben werden.

Hiervon reden die letzten drei Kennzeichen der Errettung; das sind also die Vorrechte, die über die der alttestamentlichen Gläubigen hinausgehen und die wir durch die Gnade besitzen. Diese Vorrechte sind:

  1. Wir haben den Heiligen Geist empfangen, den der Herr erst senden konnte, nachdem Er verherrlicht war (Joh 7,39), und der jetzt in unseren Körpern wohnt.
  2. Wir sind gerechtfertigt, was auch erst geschehen konnte, nachdem der Herr auferweckt (Röm 4,25) und zum Vater zurückgekehrt war (Joh 16,8-10).
  3. Und wir sind Erben geworden, was erst geschehen konnte, nachdem der Herr Jesus das Erbe durch seinen Tod erworben hatte (Off 5,5.6; Heb 2,5-9; Röm 8,17; Eph 1,9-11).

Die Stadien der Errettung

Die Sache hat jedoch einen Haken: Oberflächlich betrachtet könnte man nun annehmen, dass diese sieben Punkte auch in derselben Reihenfolge stattfinden, wenn jemand errettet wird. Das ist jedoch gar nicht richtig. Wenn das so wäre, dann hätten wir den Heiligen Geist vor unserer Rechtfertigung empfangen; das würde bedeuten, dass der Heilige Geist schon zum Ausüben guter Werke vor unserer Rechtfertigung in uns wirksam war, so dass wir dann doch aufgrund von Werken gerechtfertigt werden würden, und seien es dann auch Werke des Heiligen Geistes. Dies würde jedoch die Gerechtigkeit Gottes zunichtemachen, die nicht auf unseren (möglicherweise geistlichen) Werken fußt, sondern auf dem vollbrachten Werk Christi. Wir dürfen hierüber nicht leichtfertig denken! Das ist kein Mückensieben, keine Erbsenzählerei, sondern die Aufrechterhaltung der Ehre des Herrn und eine Unterscheidung dessen, was die Schrift ausdrücklich unterscheidet. In unserem Vers steht absolut nicht: „damit wir gerechtfertigt werden würden durch seine Gnade und Erben werden würden“. Es steht dort: „gerechtfertigt [seiend]“, wobei außen vor gelassen wird, in welchem Stadium unserer Errettung wir gerechtfertigt wurden. Wir lassen die Meinung einiger außer Betracht, dass alle diese Dinge – Wiedergeburt, Rechtfertigung, Errettung und Versiegelung mit dem Geist – in ein und demselben Moment stattfinden. Diese Meinung kommt aus einem Nicht-Unterscheiden des Inhalts und der Bedeutung dieser unterschiedlichen Begriffe hervor, und wir werden auch gleich sehen, wir unwahr diese Meinung ist.

Wie ist nun die schriftgemäße Ordnung? Lasst uns zunächst den eigentlichen Hauptsatz in unseren Versen hervorheben: „Er hat uns errettet durch die Waschung der Regeneration und der Erneuerung des Heiligen Geistes, damit wir Erben würden.“ Das Wort „damit“ bezieht sich klar auf den vorhergehenden Hauptsatz, also auf das Verb „erretten“ und nicht auf den eingefügten Zwischensatz von Vers 6, wiewohl dieser sicherlich mit Vers 7 verbunden ist (siehe gleich). Wir haben hier also die Mittel (Waschung und Erneuerung), die zur Errettung führen, mit der Folge, dass wir Erben werden. Dies ist schon eine gewisse Reihenfolge; wie die Gabe des Heiligen Geistes und die Rechtfertigung hier hineinpassen, muss aus anderen Schriftstellen hervorgehen. Wir kommen damit zu folgender göttlichen Ordnung:

Die Ordnung Gottes beginnt mit dem Senden von Predigern, die ausgehen, um das Wort Gottes zu predigen; diese Predigt wird durch den Heiligen Geist bekräftigt, der das Wort „lebendig macht“: das heißt auf Herz und Gewissen derer anwendet, die es hören (Röm 10,14-17; vgl. Joh 7,37-39). Ja, es ist Christus selbst, der durch die Prediger redet (Joh 5,25; Eph 2,17). Dieses Wort lässt diejenigen, die es hören, ihre Sünden einsehen. Lebendig gemacht durch den Heiligen Geist wäscht dieses Wort die Sünden ab und gibt anstelle dessen ein neues Leben aus Gott. Dies ist das Werk der Wiedergeburt, durch „Wasser und Geist“ (Joh 3,5). Hiermit ist die Seite der Verantwortlichkeit des wiedergeborenen Menschen verbunden, der, überführt durch das lebendige Wort Gottes, seine Sünden vor Gott bekennt (1Joh 1,19) und seinen verlorenen Zustand erkennt. Er wendet sich von seinem Leben in Sünden ab und kehrt sich zu Gott (1Thes 1,9.10). Das ist die Bekehrung, die zwar immer gesehen wird als etwas, wofür der Mensch selbst verantwortlich ist, die jedoch nur möglich ist, wenn der Geist das Wort auf Herz und Gewissen anwendet und das neue Leben schenkt.

Gemäß 1. Korinther 6,11 folgt auf die Waschung als nächster Schritt die Heiligung, und zwar vor der Rechtfertigung (vgl. auch die Reihenfolge in 1Pet 1,2). Wiewohl viele Christen meinen, dass die Reihenfolge anders herum ist, ist die Lehre der Schrift doch klar. Nachdem Gott jemand von seinen Sünden gereinigt hat, lässt Er ihn nicht auf dem Gebiet der Sünde, sondern „heiligt“ ihn; d.i., Er sondert ihn ab, stellt ihn separat von den Sündern, indem Er ihn mit einem geheiligten Christus verbindet. Erst danach kann Gott ihn rechtfertigen; wie kann Gott jemand rechtfertigen, der noch nicht geheiligt ist, sich also noch auf dem Gebiet der Sünder befindet? Auf diese Heiligung folgt in 1. Korinther 6,11 die Rechtfertigung; doch aus anderen Texten zeigt sich, dass es eine ganz wichtige Bedingung gibt, die erfüllt werden muss, bevor jemand gerechtfertigt wird. Gott rechtfertigt keinen, der nur seine Sünden vor Ihm bekannt hat; er muss auch in Gänze glauben, dass Gott ein sicheres und hinreichendes Mittel gegeben hat, um uns vor dem Gericht zu bewahren. Dass dies nicht nur ein theoretischer Unterschied ist, zeigt sich aus der Tatsache, dass es so viele ernsthafte Christen gibt, die aufrichtig ihre Sünden vor Gott bekannt haben, aber dennoch nicht glücklich sind, weil sie ihre Hand nicht auf das vollbrachte und vollkommene Werk Christi legen wollen. Meistens ist die Ursache verkehrte Belehrung. Sie haben sich zwar bekehrt und haben neues Leben aus Gott (wiewohl sie es nicht wissen und es sich auch nicht zu sagen wagen würden!), wagen jedoch nicht, dem Evangelium zu glauben. Darum sind sie gemäß der Schrift noch nicht gerechtfertigt und errettet und versiegelt, obwohl sie es sicher sein werden, denn Gott bringt seine Sache gewiss zu Ende.

Der folgende Schritt (nach dem Erkennen und Bekennen der Sünden) ist also, dass man das „Evangelium des Heils“ annimmt (Eph 1,13), das nach 1. Korinther 15,1-4 einen Christus enthält, der für die Sünden gestorben ist und der durch Gott auferweckt ist als Beweis dafür, dass Gott sein Werk vollkommen angenommen hat. Wenn man diese Dinge, die auch in Römer 4,24.25 genannt werden, glaubt, dann wird man nach Römer 5,1 aufgrund des Glaubens gerechtfertigt und bekommt Frieden mit Gott (vgl. auch Röm 3,22.28). Gott ist es, der rechtfertigt (Röm 8,39), und zwar aufgrund des Glaubens (siehe noch Röm 4,5; Gal 2,16; 3,24; Phil 3,9). Und wenn wir das Evangelium des Heils geglaubt haben und dadurch gerechtfertigt sind, dann sind wir auch errettet, und zwar durch Glauben (Eph 2,8). Das heißt, dass wir nicht nur Vergebung von Sünden haben (das geschieht bei der Bekehrung) und neues Leben aus Gott besitzen (das geschieht durch die Wiedergeburt), denn diese großen Güter kann man auch besitzen, ohne es zu wissen, sondern die Errettung bedeutet, dass wir auch die Sicherheit des Glaubens und den Frieden mit Gott haben, so dass volle Gemeinschaft mit Gott und wahre Freude möglich sind. Gott nennt uns erst dann „errettet“, wenn wir auch von unserem Zweifel erlöst sind hinsichtlich der Allgenügsamkeit des Werkes Christi in Bezug auf Gottes Verlangen, uns zu retten, und auf alle möglichen anderen Werken des Fleisches, die den Glauben verhindern.

Erst nachdem jemand das Evangelium des Heils angenommen hat und damit errettet ist, ist das Rettungswerk Gottes fertig. Erst dann kann Gott dieses abgeschlossene Werk der Errettung damit krönen, dass der Gläubige mit dem „Heiligen Geist der Verheißung versiegelt wird, der das Unterpfand unseres Erbes ist, zur Erlösung des erworbenen Besitzes“ (Eph 1,13). Und diese Versiegelung, die den Abschluss einer Phase bildet, ist gleichzeitig der Ausgangspunkt einer Flut von Segnungen, die in unserem Vers genannt werden. Eine der herrlichsten Segnungen wird in Römer 8,16.17 genannt. Der Heilige Geist, der in uns Wohnung gemacht hat, zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind! Dies ist ein wunderbares Vorrecht. Durch Glauben nennen wir Gott mit Freimütigkeit „Abba Vater!“, und das ist der Beweis, dass der Geist der Sohnschaft in uns ist. Doch wenn wir in der Tat Kinder Gottes sind, hat das Konsequenzen! Kinder sind die Erben ihres Vaters, und wenn wir also Kinder Gottes sind, dann sind wir auch Erben Gottes (Gal 4,7). Und weil Christus der Sohn Gottes ist, sind wir also auch Miterben Christi. Das erklärt auch, was wir erben werden: Alles, was Christus aufgrund seines Werkes erben wird, wird Er mit uns teilen (Eph 1,9-11). Darüber hinaus lehrt Römer 8 uns, dass wir, nachdem wir nun Erben geworden sind, auch eine gewisse Hoffnung haben (Röm 8,23-26), wie auch unser Vers sagt. Wir, die die Erstlinge des Geistes haben (d.h., die erste Frucht des Geistes in uns ist die Erneuerung und das Innewohnen), verlangen nach der Vollendung des Werkes des Geistes, nämlich der Erlösung unseres Leibes (vgl. 1Kor 15,51-54; Phil 3,20.21). Denn wir sind in Hoffnung errettet worden. Diese Hoffnung wird beim Kommen des Herrn Jesus erfüllt werden, wenn wir zum vollen Genuss des ewigen Lebens kommen werden (Röm 2,6; 5,21; 6,22.23; Gal 6,8; 1Tim 1,16; 6,12). Dies alles ist in unseren Versen wiederzufinden: Wir sind errettet, damit wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens. Das werden wir jetzt genauer besehen.

Wir haben hier also mit sechs Begriffen zu tun (Rechtfertigung aus Gnaden – Errettung – Gabe des Geistes – Erben – Hoffnung – ewiges Leben), die in der Schrift ausführlich besprochen werden, und zwar so, dass jeder der sechs Begriffe in einer gewissen Beziehung zu jedem anderen der sechs Begriffe steht. Ich gehe darauf nicht ein, rate dem Leser aber, die betreffenden Stellen zu lesen.

(1) Wer gerechtfertigt ist, wird (2) errettet, denn die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium des Heils offenbart (Röm 1,16.17), und sie, die gerechtfertigt sind durch das Blut Christi, werden durch Ihn auch errettet werden (Röm 5,9). Sie, die aus Glauben gerechtfertigt sind (und in der Kraft des Heiligen Geistes; 1Kor 6,11), haben aufgrund dessen (3) den Geist empfangen und sind (4) Erben geworden (Gal 3,5.24-29). Durch unsere Rechtfertigung rühmen wir uns auch in der (5) Hoffnung der Herrlichkeit Gottes (Röm 5,1.2), während die Gnade durch Gerechtigkeit herrscht zum (6) ewigen Leben (Röm 5,21).

(2) Wer errettet ist durch den Glauben an das Evangelium wird mit (3) dem Heiligen Geist versiegelt (Eph 1,13). Den vollen Umfang und Segen dieser Errettung werden wir genießen, wenn wir (4) das Erbe empfangen werden (1Pet 1,4.5). Darum sind wir errettet worden (5) in Hoffnung (Röm 8,24). Gott hat seinen Sohn gesandt, damit wir errettet werden würden und (6) das ewige Leben empfangen würden (Joh 3,15-17; 10,28).

(3) Wer den Geist empfangen hat, weiß dadurch, dass er ein Kind Gottes und demnach (4) ein Erbe Gottes ist (Röm 8,16.17; Gal 4,6.7). Der Geist ist das Unterpfand unseres Erbes (Eph 1,13.14). Durch diesen Geist erwarten wir aufgrund des Glaubens (5) die Hoffnung der Gerechtigkeit (Gal 5,5), eine Hoffnung, die durch den Besitz des Geistes nicht beschämt, sondern gerade durch den Geist verstärkt wird (Röm 8,23-26). Und wenn wir für diesen Geist säen, werden wir aus Ihm auch (6) ewiges Leben ernten (Gal 6,8).

(4) Wer Erbe geworden ist, hat dadurch eine lebendige (5) Hoffnung auf das unvergängliche himmlische Erbe bekommen (1Pet 1,3.4) und weiß, was die Hoffnung der Berufung Gottes und die Herrlichkeit seines Erbes ist (Eph 1,18). Er hat das ewige Leben geerbt (Mk 10,17) und ist ein Erbe der Gnade des Lebens geworden (1Pet 3,7).

(5) Wer Hoffnung bekommen hat, besitzt die feste Aussicht auf den vollkommenen Genuss des (6) ewigen Lebens (Tit 1,2).

Gerechtfertigt

Diese Punkte erklären unseren Vers sehr gut. Wir haben gesehen, dass „damit“ auf „errettet“ zurückgeht, und das kann auch gar nicht anders sein. Wir sind keine Erben geworden, weil wir den Geist empfangen haben, sondern weil wir errettet worden sind. Andererseits ist aber auch wahr, dass wir das Bewusstsein dieser Erbschaft durch den Geist genießen, den wir besitzen (Punkt 3). Obwohl also Titus 3,6 ganz klar ein Einschub ist, zeigt dieser Vers sehr wohl die Kraft auf, durch die wir den Vers Titus 3,7 genießen können. Damit wir verstehen können, wie und wodurch wir Erben geworden sind, fügt der Apostel darüber hinaus ein: „gerechtfertigt durch seine Gnade“. Hiermit gibt er einen zusätzlichen Hinweis auf unsere veränderte Stellung, jetzt aus dem „juristischen“ Blickwinkel betrachtet. Wir sind gerechtfertigt, das heißt, Gott hat uns von unseren Sünden freigesprochen (2Kor 5,9) und von Sünde freigemacht (Röm 8,1-4). Dadurch dass wir mit Christus gestorben sind, ist unser alter Mensch tot und daher nicht mehr wegen Sünden zu beschuldigen oder sogar auch von Sünde; ein Toter sündigt nicht nur nicht, sondern er kann auch nicht mehr sündigen: „Wer gestorben ist, ist gerechtfertigt [in Elb. Übers: „freigesprochen] von der Sünde“ (Röm 6,7). Die Sünde ist nicht in uns tot, sondern wir sind tot für die Sünde. Der neue Mensch hat nichts mehr mit der Sünde zu tun, er ist juristisch frei von der Sünde. Dieser neue Mensch hat Leben aus Gott in sich, d.i., er ist aus Gott geboren. Das bedeutet, dass er ein Kind Gottes ist und daher auch ein Erbe Gottes. Hieraus wird also in der Tat klar, dass die Rechtfertigung eine Bedingung ist, um Erbe sein zu können. Wir sind gerechtfertigt zu nennen, gerade weil wir neue Menschen sind, die mit der Sünde nichts zu tun haben, weil wir aus Gott geboren sind und daher als Gerechtfertigte von Gott angenommen werden können, dadurch, dass Er uns aufgrund unseres Glaubens die Gerechtigkeit Christi zurechnet. Rechtfertigung besteht nicht aufgrund der Anrechnung unserer guten Werke, sondern geht mit dem Absterben des alten Menschen gepaart, der mit seinen verführerischen Begierden ins Verderben geht (Eph 4,22), und ist die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi durch den Glauben an den neuen Menschen, der aus Gott geboren und daher Erbe ist.

Durch seine Gnade

Die Tatsache, dass wir gerechtfertigt sind, beinhaltet also, dass wir in eine Stellung gebracht sind, in der wir „Recht“ auf das Erbe geltend machen können. Wir sind in Christus Gerechtigkeit von Gott geworden; ein Gott, der gerecht zu sein schien, als Er den Gerechten auferweckte, muss, wenn Er gerecht ist, uns alles schenken, was der Herr Jesus, mit dem wir untrennbar verbunden sind, durch sein Werk erworben hat: nämlich das Erbe. Darum haben wir, weil wir gerechtfertigt sind, Rechte. Dieser Gedanke darf jedoch keinen Anlass für das Fleisch bieten. Darum sagt der Apostel, dass wir gerechtfertigt sind durch seine Gnade; das ist wörtlich: „die Gnade von jemand“, nämlich Gott in Titus 3,4 (vgl. die Gnade von Gott in Tit 2,11), denn Gott ist es, der rechtfertigt (Röm 8,33). Jetzt, wo wir gerechtfertigt sind, haben wir „Rechte“; doch wie sind wir gerechtfertigt worden? Aus Gnade! Wir sind umsonst gerechtfertigt durch Gottes Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist (Röm 3,24; vgl. Röm 4,35). Die Gnadengabe ist aus vielen Übertretungen zur Gerechtigkeit (Röm 5,15.16.18). Die Tatsache, dass Gott uns von der Sünde freigesprochen und uns seine Gerechtigkeit geschenkt hat, ist nichts anderes als pure Gnade! Und alle „Rechte“, die wir jetzt besitzen (wie wahr auch!), haben wir aus lauter Gnade empfangen. Sicher, wir mussten zuerst glauben, bevor wir die Gerechtigkeit und die Rechte bekommen konnten; wir sind auch aus Glauben gerechtfertigt (Röm 3,22.28; 5,1; Apg 13,39; Gal 2,16; 3,24; Phil 3,9). Doch auch der Glaube ist kein Verdienst unsererseits, denn er steht unseren Werken geradewegs entgegen, und darüber hinaus ist sogar der Glaube eine Gabe Gottes (Eph 2,8). So ist alles aus Gott und nichts aus uns. Wenn es dann doch ein einziges Verdienst gibt, dann das „Kreuzesverdienst“ Christi. Gott hat uns gerechtfertigt in der Kraft des vergossenen Blutes des Herrn Jesus (Röm 5,9). Wir finden also diese drei Dinge: Wir sind gerechtfertigt im Blut Christi, durch die Gnade Gottes und aus Glauben an Gott.

Erben

So sind wir nun errettet durch Gott, damit wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, Erben werden würden, Erben aufgrund der Kindschaft Gottes (Röm 8,16.17) und aufgrund des Glaubens (Gal 3,29; 4,7) und vor allem: Wir sind in Christus Erben geworden, wozu Israel zuvorbestimmt war und wozu auch die Nationen Zugang erhalten haben, als sie das Evangelium des Heils angenommen hatten (Eph 1,9-13). Alles, was der Herr Jesus durch sein Werk erworben hat, teilt Er mit uns (Joh 17,4.5.22). Alles, was Er erbt, erben auch wir, die wir mit Ihm verbunden sind, das ist: die in Ihm sind. Alles, was im Himmel an Segnungen existiert, teilt Er mit uns (Eph 1,3); ein unvergängliches, unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil wird in den Himmeln für uns aufbewahrt als lebendige Hoffnung für uns (1Pet 1,3.4), eine Hoffnung, die für uns in den Himmeln aufgehoben wird (Kol 1,5). Der Herr selbst wird uns dieses Erbe geben (Kol 3,24). Dieses Erbteil ist jedoch nicht nur mit dem Himmel verbunden, sondern auch mit der Erde. Gott hat die Armen der Welt auserwählt, damit sie reich im Glauben und Erben des Reiches sind, das Er denen verheißen hat, die Ihn lieben (Jak 2,5). Wenn alles, was in den Himmeln und was auf der Erde ist, unter einem Haupt in Christus zusammengebracht werden wird, dann werden wir in Ihm auch Erben des Himmels und der Erde sein (Eph 1,10.11). Oh, wenn wir uns doch bewusst machten, was die Hoffnung der Berufung Gottes und wie reich die Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen ist (Eph 1,18). Wie sollten wir Gott nicht anbeten wegen solch einer Gnade und Weisheit, weil Er nicht allein alles Christi Füßen unterworfen hat, sondern Ihn auch als Haupt über alles der Gemeinde gegeben hat, die sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt (Eph 1,21-23).

Nach der Hoffnung des ewigen Lebens

In unserem Vers steht nicht, was wir erben. Es steht nicht dort, dass wir Erben (der Hoffnung) des ewigen Lebens sind, sondern dass wir Erben nach (das ist: in Übereinstimmung mit) der Hoffnung des ewigen Lebens sind. Wenn wir mit Christus alles erben, braucht das nicht näher spezifiziert zu werden. Deswegen sagt das Neue Testament oft nur, dass wir Erben geworden sind; das sagt genug aus, denn es enthält jeden gegenwärtigen und zukünftigen Segen. Hier wird allerdings ein bestimmtes Kennzeichen unserer Erbschaft hinzugefügt; dies wird nämlich durch die Hoffnung des ewigen Lebens charakterisiert. Auch in Titus 1,2 kommt dieser Ausdruck vor, und auch dort ist es charakterisierend: Paulus nennt sich Apostel aufgrund der Hoffnung des ewigen Lebens. Bei der Behandlung von Titus 1,2 und auch Titus 2,13 haben wir schon gesehen, was dies bedeutet: Wir haben die feste Hoffnung, dass wir das ewige Leben, das wir jetzt schon dem Grunde nach besitzen, einmal im Himmel in seinem vollen Umfang genießen werden. Beachte, es steht dort nicht, dass wir das ewige Leben erwarten, denn wir haben es schon, sondern wir haben die Hoffnung des ewigen Lebens, so wie wir auch nicht auf die Gerechtigkeit, sondern auf die Hoffnung der Gerechtigkeit warten (Gal 5,5). Wir haben schon klar gesehen, dass diese Hoffnung nicht erfüllt wird, wenn wir entschlafen (wie herrlich das Paradies, wo unsere Seelen dann sind, auch ist), sondern dann, wenn der Herr Jesus kommt, um seine Gemeinde zu sich zu holen und um uns erlöste und verherrlichte Körper zu geben (Röm 8,23.24). Unser Erbteil ist mit dieser glückseligen Hoffnung verbunden, die erfüllt werden wird, wenn wir vollkommen gemacht in die Himmel eintreten werden, wo ein unverwelkliches Erbteil uns erwartet. Dann ist unsere Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes, in der wir uns als Gerechtfertigte rühmen, erfüllt (Röm 5,1.2), und wir ernten von dem Geist ewiges Leben (Gal 6,8).

Hiermit sind wir ans Ende dieses schwierigen Lehr-Abschnitts gekommen, in dem der Apostel uns, in Verbindung mit Titus 3,1-3, auf folgende Dinge hinweist: Wir sind von Natur aus keineswegs besser als die Menschen um uns her; das müssen wir gut bedenken, wenn wir mit ihnen umgehen. Was wir geworden sind, ist ausschließlich aufgrund von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Gnade; von uns war nichts dabei. Wie gründlich hat Er uns verändern müssen: durch Errettung, Waschung, Regeneration, Erneuerung, der Gabe des Geistes, Rechtfertigung. So groß, so gut ist Gott gegen uns gewesen, die wir seine Feinde waren. Sollten wir dann nicht danach jagen, dieselbe Barmherzigkeit und Menschenliebe den Menschen zu zeigen, die uns umringen, wie feindlich sie uns auch gesinnt sein mögen?

(6) Letzte Ermahnungen (Tit 3,8-11)

(a) Über gute Werke und nutzlose Worte (Tit 3,8.9)

Tit 3,8: Das Wort ist gewiss; und ich will, dass du auf diesen Dingen fest bestehst, damit die, die Gott geglaubt haben, Sorge tragen, gute Werke zu betreiben. Dies ist gut und nützlich für die Menschen.

Das Wort ist gewiss

Nach der tiefgehenden Darlegung in den Versen Titus 3,4-7 über wichtige christliche Grundsätze fügt Paulus dieser, wie so oft, unmittelbar praktische Ermahnungen hinzu. Das Wort, das er gerade geschrieben hat, ist nicht nur ein interessantes Lehrstück, sondern ein verlässliches und glaubwürdiges Wort. Man hat etwas davon und kann es im praktischen Leben mitnehmen. Dem Ausdruck „zuverlässiges Wort“ [hier: „Wort ist gewiss“] sind wir auch schon in Titus 1,9 begegnet. Es ist das Wort des „zuverlässigen“ Gottes; „zuverlässig“ ist im Griechischen pistos, das auch in Titus 1,9 durch „zuverlässig“ übersetzt ist, jedoch in Titus 1,6 mit „gläubig“. So ist auch das selbständige Nomen in Titus 2,10 „Treue“ und in Titus 1,1; 4,13; 2,2; 3,15 „Glauben“, während pisteuo in Titus 1,3 „anvertrauen“ und in Titus 3,8 „glauben“ bedeutet. „Glauben“ und „Vertrauen“ liegen also ganz nah beieinander. „Gott glauben“ (wie es in unserem Vers steht) bedeutet also auch „Gott vertrauen“ – darauf vertrauen, dass das, was Er gesagt hat, wahr ist.

Der Ausdruck „das Wort ist gewiss“ kommt mehrfach in den pastoralen Briefen vor, und zwar oft (genau wie hier) in Verbindung mit einer Erklärung der christlichen Wahrheit. „Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu erretten“ (1Tim 1,15), und ebenso: „Die Gottseligkeit … hat die Verheißung des Lebens, des jetzigen und des zukünftigen. Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert“ (1Tim 4,8.9). Und in 2. Timotheus 2,10.11: „Die Errettung, die in Christus Jesus ist mit ewiger Herrlichkeit; das Wort ist gewiss; denn wenn wir mitgestorben sind, so werden wir auch mitleben.“ Nur in 1. Timotheus 3,1 steht es nicht direkt in Verbindung mit der Lehre, sondern mit dem Aufseherdienst (nach Meinung mancher gehört dies noch zu Tit 2,15). In allen diesen Fällen steht eigentlich wörtlich da: „Zuverlässig ist das Wort“, so dass auf „zuverlässig“ die volle Betonung liegt. Manchmal geht der ganze Ausdruck einer bestimmten Erörterung voraus (so wie in 1Tim 1,15), während er in unserem Vers der Abschluss einer Darlegung ist.

Ich will, dass du auf diesen Dingen fest bestehst

Nach der Entfaltung des zuverlässigen Wortes bringt der Apostel wieder unmittelbar eine praktische Ermahnung. „Diese Dinge“ (am Anfang des Satzes und daher betont) sind die, die in den Versen Titus 3,1-7 genannt sind, so wie „diese Dinge“ in Titus 2,15 die Dinge in Titus 2,1-14 umfassen. Der Grund, warum Titus auf dem in den Versen 1 bis 7 Beschriebenen fest bestehen soll, wird aus den Versen 1 bis 3 klar. Wir haben ja gesehen, dass die Güte und Barmherzigkeit Gottes, die in den Versen 4 bis 7 geschildert werden, uns zu Vorbildern gesetzt sind, damit wir uns den Menschen gegenüber ebenso verhalten. Darum steht in unserem Vers auch, dass „diese Dinge gut und nützlich für die Menschen sind“. Das zuverlässige Wort Gottes ist die Grundlage und der Ausgangspunkt unseres praktischen Wandels und unserer guten Werke. Es ist offensichtlich nötig, dass Paulus hierauf erneut besteht. Bei der Errettung war nichts von uns dabei, es war alles aus Gott; doch die Weise, auf die Gott dabei in seiner niederbeugenden Güte zu Werke ging, ist das Modell für unseren Wandel, denn wir sind der göttlichen Natur teilhaftig geworden (2Pet 1,4). Die Sicherheit, dass wir errettet sind, ist eine notwendige Bedingung, doch der gute Wandel muss die ebenso notwendige Folge sein. Wir müssen unsere eigene Errettung mit Furcht und Zittern bewirken (Phil 2,12) und das ewige Leben ergreifen (1Tim 6,12) – das ist alles sehr wirklich und praktisch. Wir müssen nicht nur in eine neue Beziehung zu Gott kommen (durch den Glauben), sondern die Beziehung auch praktisch unterhalten, was die Seite unserer Verantwortlichkeit betrifft.

Darum muss Titus mit Stärke auf diesen Dingen fest bestehen. Dieser Ausdruck „fest bestehen“ ist im Griechischen ein einziges Wort, diabedaioömai, das von bebaioö („befestigen, versichern“) kommt, mit der Zusatzbetonung im Präfix dia („durch und durch“). Das Wort ist in 1. Timotheus 1,7 übersetzt mit: „fest behaupten“. Der Grundgedanke ist eigentlich: „mit fester Sicherheit reden über“. Diese feste Sicherheit basiert auf dem festen, „zuverlässigen Wort“. Das ist schon der sechste Auftrag, den Titus bekommt, um zu anderen zu sprechen (siehe Tit 1,13; 2,1.6.15; 3,1).

Damit die, die Gott geglaubt haben

Dass Titus auf diesen Dingen fest bestehen soll, hat ein Ziel, nämlich dass die, die Gott glauben, dafür sorgen, dass sie selbst gute Werke betreiben. Hieraus ergibt sich auch, an wen Titus seine Ermahnungen richten sollte: nämlich an die, die Gott glauben. Was für ein schrecklicher Irrtum ist es, Ungläubige zu ermahnen, gute Werke zu tun! Man treibt sie nur weiter von Gott weg, wenn sie sich durch ihre vermeintlich guten Werke eine eigene Gerechtigkeit einbilden, die ein Gräuel ist vor Gott. Nein, die Errettung (nicht aus Werken, sondern nach Gottes Barmherzigkeit) ist die absolute Bedingung, um gute Werke tun zu können. Der Mensch muss zuerst „Gott glauben“, das heißt glauben, dass das, was Gott sagt, zuverlässig ist, dass „das Wort gewiss ist“, und dann sein Zeugnis annehmen, das im Evangelium zu uns kommt (siehe 1Joh 5,10.11). Es steht hier also nicht „an Gott glauben“; „glauben“ (pisteuo) wird hier vom dritten Fall begleitet, und dann bedeutet es: „etwas oder jemand glauben“ (vgl. Mt 21,25; Joh 5,24.47). Wir müssen diese Bedeutung also gut von vier anderen Konstruktionen unterscheiden, in denen pisteuo vorkommt, nämlich: mit dem Präfix eis (wörtlich: „an“): „glauben an“ (siehe z.B. Joh 3,16), das heißt „an jemand glauben, der der Gegenstand des Glaubens ist“; hier ist also eine Person selbst der Gegenstand des Glaubens und nicht das, was er sagt so wie bei unserer ersten Konstruktion (in unserem Vers). Diese Form kommt auch in 1. Petrus 1,21 vor: „damit euer Glaube und eure Hoffnung an [nicht auf!] Gott sei“, das heißt, dass Gott der Gegenstand deines Glaubens und deiner Hoffnung sein soll. Die dritte und vierte Konstruktion ist das Verb, das von epi („auf“) gefolgt wird, begleitet vom vierten Fall oder vom dritten Fall; wörtlich bedeutet dies „glauben auf“, das heißt „sein Vertrauen setzen auf“. Der vierte Fall drückt mehr eine Bewegung aus, also „mit Vertrauen (Glauben) auf jemand sehen“ (siehe z.B. Apg 16,31), während der dritte Fall einen Zustand ausdrückt: „ruhen im Vertrauen auf jemand“ (z.B. Röm 9,33). Schließlich kann pisteuo auch von en gefolgt werden („in“), und dann bedeutet es „glauben an“, nämlich dass etwas wahr ist (z.B. Mk 1,15).

Wie gesagt, es ist in unserem Vers „Gott glauben“, genau wie in 1. Johannes 5,10; dennoch unterscheidet sich die Form in unserem Vers in zwei Hinsichten von dem in 1. Johannes 5, und zwar weil hier die vollendete und dort die unvollendete Gegenwartsform gebraucht wird, und zweitens, weil hier der Name Gottes ohne und dort mit Artikel vorkommt. Die vollendete Zeitform in unserem Vers ist wert, beachtet zu werden, denn diese drückt aus, dass wir nicht nur in diesem Moment Gott glauben, sondern dass in der Vergangenheit ein Moment da gewesen ist, in dem wir das Zeugnis Gottes angenommen und es vor allen Dingen seitdem ununterbrochen festgehalten haben. Darum ist es so praktisch! Unser Wandel basiert auf einem anhaltenden Bewusstsein und Glauben dessen, was Gott gesagt hat und was wir früher angenommen haben, als wir errettet wurden. Dass der Name Gottes hier keinen Artikel hat, weist darauf hin, dass weniger die Person gemeint ist als der göttliche Charakter dessen, was wir glauben. Wir glauben, was Gott gesagt hat, mit der Betonung auf der Tatsache, dass es nicht Gott selbst ist, der es gesagt hat, sondern dass das, was Er gesagt hat, seinen Charakter trägt.

Sorge tragen, gute Werke zu betreiben

Das Ziel der Ermahnung ist, dass die, die Gott glauben, dafür sorgen, gute Werke zu betreiben. Das Verb „sorgen“ kommt im Neuen Testament nur hier vor und ist abgeleitet von „Gemüt“ als Sitz der Gedanken, der verständigen Überlegung und der Einsicht (vgl. Eph 1,8). Es bedeutet auch: „bedacht sein auf“, „sich widmen“, „Aufmerksamkeit schenken und Sorge tragen“. Diese Sorge müssen wir „guten Werken“ widmen, worüber wir schon bei Titus 2,7.14 (unterschieden von „jedem guten Werk“ in Tit 1,16; 3,1; siehe dort) gesprochen haben. Wir haben schon mehrmals gesehen, dass diese guten Werke nur möglich sind, nachdem wir errettet wurden. In Vers 5 lesen wir gerade, dass wir nicht aufgrund von Werken, sondern nach Gottes Barmherzigkeit errettet sind; erst daran anschließend folgen die guten Werke in unserem Vers. So lasen wir auch in Titus 2,11, dass es Gottes Gnade war, die uns Heil brachte; es war nichts von uns dabei; wir wurden jedoch wohl gereinigt, damit wir ein Volk sein sollten, eifrig in guten Werken (Tit 2,14). So ist es auch in Epheser 2: „Durch die Gnade seid ihr errettet …, nicht aus Werken, damit niemand sich rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen“ (Eph 2,8-10). Auch hier also: keine Errettung aufgrund von Werken, jedoch Werke aufgrund der Errettung.

„Betreiben“ ist proistèmi, was wörtlich „stehen (histèmi) vor (pro)“ bedeutet. Meistens bedeutet es „vorstehen“ im Sinn von „Leitung übernehmen“ (Röm 12,8; 1Thes 5,12) oder „anführen“ (1Tim 3,4.5.12; 5,17). So kann man das in unserem Vers natürlich nicht übersetzen. Vielleicht kann man sagen: „vorstehen in guten Werken“, also in dem Sinn, dass jemand sich beeifert, gute Werke zu tun und darin anderen ein Vorbild ist. In diesem Fall ist er „anführend“ im Ausüben guter Werke. Doch dies drückt immer noch nicht hinreichend den Inhalt des Wortes aus. Man muss auch „anführend“ sein in dem Sinn, dass man andere zum Ausüben guter Werke anhält. Darum habe ich „vorstehen“ übersetzt, weil dieses Wort nahe am Grundtext ist und weil es sowohl das Propagieren guter Werke als auch das „Vorstehen in“ guten Werken enthält (siehe auch Tit 3,14).

Dies ist gut und nützlich für die Menschen

Noch immer hat der Apostel die Beziehung der Gläubigen zu ihren Mitmenschen im Blickfeld, womit er in Titus 3,1.2 angefangen hat, wo er schon über ihre Sanftmut allen Menschen gegenüber sprach. Wenn die Gläubigen gute Werke tun, wozu sie kraft ihrer Errettung in der Lage sind, dann ist das zuallererst zur Verherrlichung Gottes und weiterhin zum Segen der Mitgläubigen. Doch es ist auch gut und nützlich für „die Menschen“. Oft sind im Neuen Testament mit „Menschen“ die Ungläubigen gemeint (z.B. 1Kor 3,4, „menschlich“ ist wörtlich „Menschen“; Röm 2,16; 1Kor 1,25; 4,9; 2Kor 5,11; Eph 4,14; Kol 2,8.22; 2Tim 3,2; Heb 9,27; 1Pet 2,4; 4,2 (pl.)). Für sie sind die guten Werke der Gläubigen gut (d.i. „rein“) und nützlich (vgl. 1Tim 4,8; 2Tim 3,16), denn ihnen geht es gut durch die Sanftmut und Barmherzigkeit der Gläubigen gegen sie. Darüber hinaus kommen sie hierdurch in Berührung mit der noch viel erhabeneren Barmherzigkeit Gottes gegen Sünder, damit sie errettet werden und auch lernen, sich guten Werken zu widmen. „Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen“, hat der Herr gesagt, „damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen“ (Mt 5,16).

Tit 3,9: Törichte Streitfragen aber und Geschlechtsregister und Zänkereien und Streitigkeiten über das Gesetz vermeide, denn sie sind unnütz und wertlos.

Titus 3,9 bildet in verschiedenen Hinsichten einen Gegensatz zu Titus 3,8. Das „aber“ in unserem Vers steht „diesen Dingen“ aus unserem vorigen Vers entgegen. „Diese Dinge sind gut und nützlich für die Menschen“, doch die Dinge, die jetzt folgen, sind nutzlos und eitel, und darum muss Titus sich ihnen entziehen. „Nützlich“ steht also „nutzlos“ gegenüber. Wir müssen gut und freundlich sein zu allen Menschen, die draußen sind, doch wenn von denen, die drinnen sind, manche mit eitlen Lehren kommen, müssen wir uns von solchen Menschen ohne weiteres abwenden. Diese Personen waren umherziehende jüdische Christen, mit gnostischen Wahnideen behaftet. Der Gnostizismus ist eine sehr alte Lehre, die mittels Ideen aus der Mythologie, der Kosmogonie (Lehre von der Entstehung der Welt) und der Philosophie versuchte, die tiefere Wahrheit zu ergründen, die hinter den Dingen ist. In dieser Lehre ist die [Er-]Kenntnis (gnosis) das Wichtigste: Kenntnis von tiefgründigen, mystischen Geheimnissen, die helfen sollten, die Seele aus dem Kerker des Körpers zu befreien und mit der Gottheit zu vereinigen. Es ist klar, dass diese Lehre, die in den ersten zwei Jahrhunderten das Christentum durchzog, einen sehr schädlichen Einfluss auf den einfachen christlichen Glauben hatte.

Vermeide aber

Verschiedene dieser Einflüsse sind im Neuen Testament schon zu entdecken. In Kolossä gab es eine Mischung aus Philosophie, Überlieferungen von Menschen, Speisegeboten, Astrologie, Engelverehrung und falscher Askese (Kol 2,8-23). Johannes spricht über die gnostischen Namenschristen, die nicht bekannten, dass Jesus Christus wahrhaft im Fleisch gekommen war (1Joh 4,3; 2Joh 7), und damit seine vollkommene Menschheit leugneten. Die Ursache dieser Leugnung war die Verabscheuung der Materie, das Fleisch (s.o.). Auch diejenigen, die behaupteten, „die Tiefen des Satans“ zu kennen, lassen an solche Gnostiker denken (Off 2,24). In den pastoralen Briefen finden wir die meisten solcher gnostischen Einflüsse, und zwar mit einem starken jüdischen Charakter (vgl. Tit 1,10.14). Diese Einflüsse sind hier ungöttliche und alt-weibische Fabeln (die „Mythen“; 1Tim 1,4; 4,7; 2Tim 4,4; Tit 1,4), Geschlechtsregister („kosmogonische Genealogien“; 1Tim 1,4; Tit 3,9), Askese (1Tim 4,3) und Vergeistlichung der Auferstehung (2Tim 2,18; vgl. 1Kor 15,12). Von diesem ungöttlichen Geschwätz und den Gegensätzen der zu Unrecht sogenannten Kenntnis (gnosis) sollte Timotheus sich abwenden und auch Titus sollte sich diesem närrischen Treiben entziehen (1Tim 6,20; 2Tim 2,16).

Törichte Streitfragen

„Sich entziehen“ kommt nur hier und in 2. Timotheus 2,16 vor; die tätige Form des Verbes ist „umherstehen“ (Joh 11,42; Apg 25,7), und in der Form, in der es hier vorkommt, ist es „sich herumdrehen und andersherum stehen“, also „sich abwenden“ oder „sich entziehen“. Es ist ein anderes Wort als „sich abwenden“ in 1. Timotheus 6,20 und wieder anders als in 2. Timotheus 3,5. Das Wort für „Fragen“ bedeutet wörtlich „Untersuchungen“ (wie in Apg 25,20 „Untersuchung“ ); nun ist zwar die „Untersuchung“ des Wortes Gottes ein gute Sache, wenn diese Untersuchung jedoch ein Aufdröseln von allerlei Lappalien mit sich bringt, die jemandes Phantasie entsprießen und die dann zu tiefsinnigen, Zwist verursachenden Streitfragen erhoben werden, dann muss dies kräftig verworfen werden. Daher bedeutet dieses Wort meist (in der Einzahl) „Wortstreit“ wie in Johannes 3,25, wo es eine belanglose Unterscheidung bzgl. des Gesetzes betrifft, und (in der Mehrzahl) „Streitfragen“ wie in 1. Timotheus 1,4 in Verbindung mit Fabeln und Geschlechtsregistern, in 1. Timotheus 6,4 („Streitkrankheit“) und in 2. Timotheus 2,23.

Titus sollte sich derlei Dinge entziehen. Indem er diese törichten Lehrer ignorierte und nicht mit ihnen in Diskussionen verfiel, sollte er sich nicht nur selbst vor schädlichem Einfluss schützen (vgl. 2Tim 2,14), es ist darüber hinaus oft das Beste für solche Schwätzer selbst, wenn man sie ignoriert. Sie suchen immer ein Podium für ihre Phantasien; wenn man ihnen jedoch keine Aufmerksamkeit schenkt, sind sie machtlos. Man kann ihnen zwar entgegnen, dann aber nur, um ihren Mund zu stopfen und sie scharf zu bestrafen (Tit 1,11.13), jedoch nie, um auf ihre Streitfragen einzugehen, denn ein Knecht des Herrn soll nicht streiten, sondern den Widersacher mit Sanftmut (was nicht im Gegensatz zu „scharf“ steht!) zurechtweisen (2Tim 2,23-25).

Geschlechtsregister

Bei Titus 1,14 habe ich schon kurz auf „Geschlechtsregister“ und ihre Bedeutung hingewiesen. Wörtlich heißen sie genealogia, die Lehre des Entstehens, die Herkunft bestimmter (hier vor allen Dingen geistlicher) Wesen. Eine Handschrift fügt hier (möglicherweise analog zu 1Tim 6,4) „Wortstreit“ ein, so dass die Bedeutung ergibt: „genealogischer Wortstreit“. Das Wort kommt sonst nur noch in 1. Timotheus 1,4 vor; zwar ist ein attributives Nomen davon abgeleitet, das in Hebräer 7,3 übersetzt wird mit „ohne Geschlechtsregister“, und ein Verb in Hebräer 7,6, das bedeutet: „sich zu jemandes Geschlecht zählen“. Das Aufribbeln dieser Geschlechtsregister hatte nicht zum Ziel, darin die Größe Gottes und die Schönheit der Entwicklung seiner Wege nachzuforschen, sondern das eigene Fleisch zu tätscheln und stolz auf die Abstammung von den Erzvätern zu sein, indem mythologische Geschichten über die Voreltern erworben wurden. Darüber hinaus erstreckten sich diese genealogischen Phantasien im alten Gnostizismus auch auf die Engel und Dämonen und allerlei mystische Welten. Derartige Träume stellten für die Christen eine große Gefahr dar, denn sie bildeten einen Anlass für das Fleisch und keimten dadurch das wieder auf, was das Werk Christi zunichtegemacht hatte. Es war besser für die jüdischen Christen, auf das zu hören, was Gott über seine Abstammung gesagt hat (5Mo 26,5; Hes 16,1-6; usw.). Wie schrecklich derartige Lehren sind, sehen wir heutzutage in Bewegungen wie die der Mormonen mit ihren abscheulichen Lehren über die Abstammung des Menschen, Engel und Götter sowie auch in der Britisch-Israel-Bewegung mit ihren Phantasien über die Abstammung von den Europäern und Amerikanern – derartige Lehren verdrehen, verderben das Wort Gottes.

Zänkereien und Streitigkeiten über das Gesetz

Titus soll sich auch Zänkereien entziehen (der Sinaiticus liest hier die Einzahl). Zank ist ein Kennzeichen des Fleisches (Röm 1,29; Gal 5,20) und kommt leider auch bei (Namens-)Christen vor (1Kor 1,11; 3,3; 2Kor 12,20; Phil 1,15; 1Tim 6,4), die sich aber davon aber fernhalten sollten (Röm 13,13). Auf „Zänkereien“ folgen die „Streitigkeiten über das Gesetz“. Das Wort „Streitigkeiten“ steht immer in der Mehrzahl und ist eigentlich stärker: „Kampfführung“; siehe 2. Korinther 7,5 („Kampf“), Jakobus 4,1 („streiten“) und 2. Timotheus 2,23 („Streitigkeit“). Die Hinzufügung „über das Gesetz“ ist eigentlich ein adjektivisches Nomen: „gesetzesgelehrt“, das meist selbständig gebraucht wird wie in Titus 3,13. Es geht also um die streitartigen Diskussionen der jüdischen Gesetzesgelehrten, die die Gebote des Gesetzes bis in die Finessen hinein aufdröselten und viele Gebote hinzufügten. Über sie sprach der Herr das „Wehe euch“ aus, weil sie die Mücke heraussiebten und das Kamel verschluckten (Mt 23,24). Das Gesetz an sich ist gut, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht und weiß, dass das Gesetz nicht für einen Gerechten bestimmt ist, sondern für Gesetzlose und Aufmüpfige, für Gottlose und Sünder (1Tim 1,8.9). Wie gefährlich war es also für Juden, die bekannten, Christen zu sein, das Gesetz aufzuribbeln und darüber Streit mit anderen anzuzetteln, wie die gläubigen Pharisäer aus Jerusalem taten (Apg 15,1-5). Zu Recht antwortete Petrus ihnen, dass es Torheit war, den Nationen ein Joch aufzulegen, das kein einziger Israelit je hatte tragen können (Apg 15,10; Gal 5,1-4). Wir sind nicht unter (dem) Gesetz, sondern unter (der) Gnade (Röm 6,14). Wir sind nicht unter Gesetz, wiewohl für Gott nicht ohne Gesetz, jedoch an Christus gesetzmäßig unterworfen (1Kor 9,20.21). Wenn wir durch den Geist geleitet werden, sind wir nicht unter Gesetz (Gal 5,18). Wir sind dem Gesetz gestorben (Röm 7,4.6; Gal 2,19; vgl. Kol 3,20), freigemacht vom Gesetz (Röm 7,6; 8,2) und freigekauft (Gal 3,13; 4,5). Christus hat in seinem Fleisch die Feindschaft, das Gesetz der Gebote, zunichtegemacht (Eph 2,15) und ist das Ende des Gesetzes, Gerechtigkeit für jeden, der glaubt (Röm 10,4). Sollten wir uns dann nicht allen Irrgeistern entziehen (was z.B. heute die Siebentags-Adventisten sind), die versuchen, uns mit Streitigkeiten über das Gesetz zu belästigen?

Denn sie sind nutzlos und wertlos

Wie aktuell sind diese Dinge auch für unsere Zeit, wenn wir die Zerteilung und Verwirrung in der Christenheit sehen. Alles, was zuvor geschrieben ist, wird durch Unwissende und nicht Standhafte zu ihrem eigenen Verderben verdreht (2Pet 3,16). Ob es nun geschichtliche Streitfragen betrifft (nämlich die Genealogie) oder lehrmäßige Streitfragen (über das Gesetz), lasst uns davon weit weg bleiben, so dass wir vor ihrem Einfluss bewahrt bleiben, denn sie sind nutzlos (vgl. Heb 7,18) und wertlos. Was ist nutzloser als eine tote Fliege? Doch wenn wir nicht aufpassen, lässt sie die Salbe des Salbenmischers stinken und aufquellen (Pred 10,1). „Wertlos“[6] ist verwandt mit „Schwätzer“ in Titus 1,10, mit „sinnlosem Gerede“ in 1. Timotheus 1,6 (die Folge davon, wenn man sich mit Fabeln und Geschlechtsregistern abgibt), mit „nichtssagender Prahlerei“ der falschen Lehrer in 2. Petrus 2,18 und wird weiter unter anderem auch von den Überlegungen der Weisen gesagt (1Kor 3,20) und vom Gottesdienst dessen, der seine Zunge nicht im Zaum hält, sondern sein Herz betrügt (Jak 1,26).

(b) Über sektiererische Menschen (Tit 3,10.11)

Tit 3,10.11: Einen sektiererischen Menschen weise ab nach einer ein- und zweimaligen Zurechtweisung, da du weißt, dass ein solcher verkehrt ist und sündigt, wobei er durch sich selbst verurteilt ist.

In Titus 3,9 hatten wir noch mit Sünden und verkehrten Lehren zu tun; hier bekommen wir es mit den Personen selbst zu tun. Zunächst musste zugesehen werden, sich dem Bösen zu entziehen, so dass es dadurch von selbst ausbluten würde, doch wenn diejenigen, die dieses Böse verbreiten, Sekten bildeten, musste härter aufgetreten werden. Dann mussten die Personen selbst angegriffen werden. Sie werden „sektiererische Menschen“ genannt; nicht einmal „Bruder“, sondern „Mensch“, wiewohl es natürlich Menschen innerhalb der Christenheit waren, denn wie sollten sie sonst Trennungen verursachen. Wenn jemand jedoch in der Sünde lebt, darf er sich selbst vielleicht Christ nennen, doch Gott erkennt ihn nicht als Gläubigen oder Bruder an. So redet Paulus auch in Apostelgeschichte 20,30 von Männern und in 1. Korinther 5,11 von „jemand, der ein Bruder genannt wird“, und Judas redet auch von Menschen (Jud 4) so wie Paulus in Römer 16,18. Solche Menschen, die zwar bekannt haben, Gläubige zu sein, die jedoch in der Sünde leben, können wir nichts anderes vorhalten, als dass ihr Weg im Verderben enden wird (vgl. Joh 15,2; Phil 3,18.19; Heb 6,4-8; 10,26.27). Wenn sie wirklich wiedergeboren sind (was wir in so einer Situation nicht wissen können), wird Gott sie zurechtbringen, was jedoch Gottes Seite ist. Wir können nur mit Sicherheit sagen, wo ein böser Weg endet, wenn dieser nicht zeitig verlassen wird.

Sektiererisch

Das griechische Wort, das mit „sektiererisch“ wiedergegeben wird, ist hairétikos. Dieses Wort ist abgeleitet von háireo („nehmen“), das nur in der Form von hairéomai vorkommt und bedeutet: „für sich selbst nehmen“, das heißt „wählen“ (z.B. Phil 1,22). Das abgeleitete selbständige Nomen háiresis bedeutet ursprünglich „Wahl“ und später „das Gewählte“ und von da aus eine „eigenwillige Auffassung“, die von der Wahrheit wegführen kann und dann vor allem zur Bildung von Parteien führt. Es ist die „Wahl“ eines eigenen Weges, der an sich nicht per se verkehrt sein muss (meistens aber doch ist!) und anderen aufgedrängt wird, wodurch die Gemeinde auseinanderzufallen droht. Von dem Wort hairesis ist unser Wort „Häresie“ abgeleitet, das Ketzerei oder Irrlehre bedeutet; das ist jedoch nicht der ursprüngliche Inhalt des Wortes, was sich deutlich zeigt, wenn wir die Bedeutung davon im Neuen Testament gründlich untersuchen. Sektiererei ist nicht in erster Linie ein Abweichen von der Wahrheit, sondern ein Abweichen von der Gemeinde, die der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit ist; ein Abweichen von dem Fundament der Einheit des Leibes Christi. Das soll sich im Folgenden zeigen.

Ursprünglich war eine „Sekte“ (háiresis) einfach eine bestimmte Schule oder Richtung, in der bestimmte Lehren stark im Vordergrund standen. So bestanden in Israel die Sekte der Sadduzäer (Apg 5,17) und die Sekte der Pharisäer (Apg 15,5; 26,5). Hier wird ganz deutlich, dass diese Einteilung in Sekten nicht mit Irrlehren zu tun hatte, sondern mit der „Wahl“ von, das heißt mit der Vorliebe für bestimmte favorisierte Lehren über anderen. Später wurden die jüdischen Christen als „Sekte der Nazarener“ bezeichnet (Apg 24,5; vgl. Apg 24,14; 28,22), woraus hervorgeht, dass Sekten nicht nur nach ihren Lehren unterschieden wurden, sondern auch nach ihren Führern (hier Jesus von Nazareth). So wie die christliche Sekte geringschätzig als solche bezeichnet wurde, so bekommt das Wort auch in den Briefen einen abschätzigen Charakter, im Sinne von eigenwilliger Parteibildung innerhalb der Gemeinde. Gemäß Galater 5,20 sind „Sekten“ Werke des Fleisches, und nicht umsonst folgt das Wort dort direkt auf „Parteisucht“ und „Zwietracht“. In 2. Petrus 2,1 wird vor falschen Lehrern gewarnt, die „verderbliche Sekten“ heimlich einführen würden. Hier sind die Sekten also doch mit der falschen Lehre verbunden; die Verführer trachten danach, verderbliche Lehren einzuführen, um dadurch Parteien unter den Gläubigen zu gründen, die sie auseinandertreiben würden. „Sekten“ bilden also eine große Bedrohung für die praktische Einheit der Gläubigen.

Die Bedeutung wird auch deutlich aus dem ersten Korintherbrief. In 1. Korinther 1,10-12 lesen wir, dass es Spaltungen, Risse unter den Korinthern gab, in dem Sinn, dass manche sagten: Ich bin des Paulus, andere: Ich des Apollos usw. Hier war der Anfang einer Parteibildung; noch nicht in dem Sinn, dass sie nicht mehr gemeinschaftlich zusammenkamen, doch die praktische Einheit war schon gestört. Das Wort für „Spaltung, Riss“ ist schisma, das immer auf Zerteilung untereinander hinweist, weil Menschen sich für eine unterschiedliche Auffassung oder Person entscheiden. Das wird auch deutlich aus Johannes 7,43; 9,16; 10,19; Apostelgeschichte 14,4; 23,7, wo das Wort durch „spalten, Spaltung“ übersetzt ist. Was lesen wir nun in 1. Korinther 11? „Ich höre, es seien Spaltungen unter euch, und zum Teil glaube ich es. Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden“ (1Kor 11,18.19). Hieraus erkennen wir, dass es schon Risse gab, jedoch noch keine Sekten; eine Sekte geht also weiter als ein Schisma. Ein Riss ist eine innerliche Teilung, jedoch noch keine vollständige Trennung. Wenn Sekten gebildet werden, gibt es eine vollständige Trennung und kein gemeinschaftliches Zusammenkommen mehr am Tisch des Herrn. Paulus wünschte in gewissem Sinn, dass die Spaltungen in Korinth zu Sekten auswachsen würden, damit das Böse vollkommen offenbar und deutlich werden würde, wer die Bewährten waren, die in diesem Bösen nicht einbezogen waren.

Eine Sekte ist also schlimmer als eine Spaltung. Die fleischlichen Lehren in Titus 3,9 brachten die Gefahr mit sich, dass eine Teilung unter den Gläubigen entstehen könnte. Darum sollten sie sich der Lehren entziehen. Doch wenn die Verkündiger der Lehren die Absicht hatten, aufgrund ihrer Person oder ihrer Lehre in der Gemeinde Parteien zu gründen, so dass die Gläubigen auseinandergetrieben würden, dann waren sie sektiererisch. In diesem Fall sollte nicht nur ihre Lehre verurteilt werden, sondern sie selbst sollten verworfen werden. Streng genommen ist eine Sekte also nichts anderes als eine Gruppe von Christen, die die ursprüngliche Gesellschaft der Gläubigen verlassen und sich aufgrund einer bestimmten Lehre vereinigt hat (eventuell in einem bestimmten Glaubensbekenntnis oder Katechismus festgelegt) oder die sich um einen bestimmten Leiter sammelt, nach dem man sich dann oft nennt. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch spricht man von „Kirchen und Sekten“, was allerdings nicht schriftgemäß ist. Die Bibel kennt keine „Kirchen“, nur „die Kirche“ (die Gemeinde), und alle, die die Grundlage der Einheit der einen Kirche verlassen, um auf der Basis anderer Grundsätze als die dieser Einheit zusammenzukommen, sind Sekten. In diesem Sinn sind alle protestantischen Kirchen also Sekten. Das zeigt sich auch aus deren Benennungen: Entweder nennen sie sich nach bestimmten Personen (Lutheraner, Calvinisten), oder sie nennen sich nach ihrer Lieblingslehre (Baptisten, Apostolen, Pfingstbewegung, Siebentags-Adventisten). Damit soll nicht gesagt sein, dass die Reformer nicht zu Recht die römisch-katholische Kirche verließen. Ganz sicher! Wie kann man mit einem so großen Verderben verbunden bleiben, wie er damals und heute in der Kirche vorherrscht. Doch wenn man nach dem Austritt einfach zum Namen des Herrn Jesus in der Einheit des Geistes zusammengekommen wäre (d.i. alle zugelassen hätte, die wahrhaft gläubig waren und nicht in moralisch und lehrmäßig Bösem verkehrten), dann hätte man nach der Schrift gehandelt. Doch stattdessen stellte man menschliche Glaubensbekenntnisse auf (die viel Verkehrtes enthalten, was nicht verwunderlich ist bei denen, die gerade erst die römische Finsternis verlassen hatten), die durch Gläubige unterschrieben werden mussten, bevor sie zugelassen wurden. Wiewohl dies mit den besten Absichten geschah, war es doch sektiererisch; das zeigte sich auch darin, dass die Anhänger der „neuen Lehre“ schon sehr schnell voneinander getrennt wurden, indem viele verschiedene Kirchen gegründet wurden (wo der abscheuliche Gedanke einer „nationalen Volkskirche“ nicht fremd war) aufgrund von sekundären Unterschieden in der Auffassung der Lehre.

Eine Sekte ist also eine Gruppe von Gläubigen, die von anderen Gläubigen getrennt ist durch sekundäre Unterschiede von Auffassungen; sie haben stark betonte Ideen über bestimmte Teile der Wahrheit und wollen, dass andere den Gedanken unterschreiben, bevor man Gemeinschaft mit ihnen haben kann. Diese ausgesprochenen Ideen brauchen also nicht per se falsch zu sein oder gar ganz falsch zu sein, sie sind jedoch stark übertrieben und einseitig und als Folge davon schon verkehrt. Es brauchen jedoch überhaupt keine Irrlehren zu sein. Darum ist die Übersetzung „Ketzer-Mensch“ (in der Statenvertaling) falsch, denn sie suggeriert, dass es nur um Irrlehren geht. Ein sektiererischer Mensch kann ein Irrlehrer sein (und ist dies auch oft, wie in 2Pet 2,1), muss aber nicht. Auch dürfen wir nicht sagen, dass jeder, der zu einer Sekte gehört, sektiererisch ist. Viele verstehen überhaupt nicht, auf welcher Grundlage sie zusammenkommen. Doch die Gründer sind sehr wohl sektiererisch. Sie bilden durch ihre eigenwilligen Lehren eine Partei unter Gläubigen bei gleichzeitigem Ausschluss anderer. Letzteres ist ein gutes Kennzeichen einer Sekte. Wenn man in einer bestimmten Gruppe von Gläubigen nicht zugelassen wird (wiewohl man ein Gläubiger ist und keinen verkehrten Wandel oder Verbindungen hat), weil man nicht mit ihren Lehren einer Meinung ist, dann hat man es mit einer Sekte zu tun.

Nach einer ein- und zweimaligen Zurechtweisung

Wir kommen zu der Frage, welche Prozedur angesichts eines sektiererischen Menschen befolgt werden muss. Dabei müssen wir direkt schon beachten, dass dies ein persönlicher Brief ist und nicht ein Brief an eine Gemeinde. Es wird hier also nicht über Ausschluss gesprochen, sondern über verwerfen. Titus hatte natürlich, als Beauftragter des Apostels, eine besondere Befugnis. Zunächst musste er den Sektierer zweimal ermahnen, mit seinen sektiererischen Praktiken aufzuhören. Bei der „Ermahnung“ musste dieser zuerst einmal darauf hingewiesen werden, dass sein Streben sektiererisch war, denn es konnte sein, dass er sich dessen gar nicht bewusst war; deswegen musste er gewarnt werden, wohin sein Streben führen würde. Das Wort, das auch in 1. Korinther 10,11 und Epheser 6,4 vorkommt, würde man mehr wörtlich wiedergeben können als ein Wort, mit dem man jemandem „etwas aufs Herz drückt“. Es ist wörtlich ein „Hinstellen ins Gemüt“. Die Handschriften weichen in dem vor uns liegenden Satzteil voneinander ab. Manche lesen: „nach einer ersten Ermahnung und einer zweiten“, wodurch mehr Betonung auf der ersten Ermahnung liegt, und die zweite gilt, sofern sie nötig ist. Eine andere Handschrift liest sogar: „nach einer ersten Ermahnung oder einer zweiten“, wodurch die zweite Ermahnung völlig fakultativ wird, während manche Kirchenväter sogar nur lesen: „nach einer ersten Ermahnung“. Letzteres ist in jedem Fall falsch; es muss in jedem Fall klar sein, dass sicher zwei Ermahnungen in so einer ernsten Situation nötig sind.

Auch in Matthäus 18,15-17 finden wir mehrere Ermahnungen, bevor jemand verworfen wird. Dort ist es sicher ein anderer Fall, nämlich „wenn ein Bruder gegen dich sündigt“, doch die Prozedur ist genauso sorgfältig, immer mit dem Ziel, den Bruder zu gewinnen (Mt 18,15). Zuerst muss man den Bruder zwischen sich und ihm bestrafen; wenn er hört, ist die Sache in Ordnung. Wenn er allerdings nicht hört, muss man mehrere mitnehmen, die als Zeugen dienen. Erst danach, wenn er immer noch nicht hört, sagt man es der Gemeinde, und wenn er selbst da nicht hört, „dann sei er dir (Einzahl!) wie der Heide und der Zöllner“, d.i., ich muss mich ihm persönlich entziehen. Schließlich folgt dann in Matthäus 18,18-20 der Ausschluss durch die Gemeinde („ihr“ und „euch“ ist jetzt in der Mehrzahl). So auch zwei Ermahnungen in unserem Vers. Immerhin erst nach dem Abweisen der ersten Ermahnung würde sich zeigen, dass der Sektierer nicht verführt war, sondern dass er mutwillig verkehrt handelte und sündigte. Deswegen musste noch eine zweite, schärfere Ermahnung folgen, die dies an den Pranger stellte und auf die Konsequenzen einer derartigen Haltung hinwies. Nachdem auch diese Ermahnung in den Wind geschlagen wurde, musste Titus ihn verwerfen.

Wir finden das auch in anderen Fällen. Drei Monate lang redete Paulus mit den Ephesern, um sie bzgl. der Dinge des Königreichs Gottes zu überzeugen. Doch als einige sich verhärteten und nicht glaubten und von „dem Weg“ übel vor der Menge sprachen, trennte er sich von ihnen und sonderte die Jünger ab (Apg 19,8.9). So sprach Paulus auch zu den Römern über einen ähnlichen Fall wie in unserem Vers: „Ich ermahne euch aber, Brüder, auf die zu achten, die Zwiespalt und Ärgernis anrichten, entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab“ (Röm 16,17). Beachte auch hier die Reihenfolge: erst „achtgeben“, dann „sich entziehen“. So war es auch bei den Thessalonichern angesichts derer, die unordentlich wandelten. Zunächst ermahnt Paulus sie, solche Unordentlichen zurechtzuweisen (1Thes 5,14), doch später befiehlt er ihnen, in dem Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass sie sich von jedem Bruder, der unordentlich wandelt, zurückziehen sollten (2Thes 3,6). Das ist also ein allgemeiner Grundsatz: keine Strafe ohne Warnung. So handelt Gott selbst auch dem Sünder gegenüber. „Gott redet in einer Weise oder in zweien, ohne dass man es beachtet. Im Traum, im Nachtgesicht … Dann öffnet er das Ohr der Menschen und besiegelt die Unterweisung, die er ihnen gibt, um den Menschen von seinem Tun abzuwenden und damit er Übermut vor dem Mann verberge“ (Hiob 33,14-17). Hier also auch genau wie in unserem Vers: eine erste und zweite Ermahnung, bevor die Verwerfung folgt.

Weise ab

Das Verb [WJO gebraucht „verwirf“] steht ganz am Ende von Titus 3,10, also sozusagen in chronologischer Reihenfolge: Zuerst benimmt sich jemand sektiererisch, dann folgen die Ermahnungen, und schließlich folgt die Verwerfung. Das Wort (paraitéomai) bedeutet wörtlich: „beiseitefragen“ (para, „beiseite“; aiteo, „bitten“), das heißt: „bitten, dass etwas beiseitegesetzt wird“. So zum Beispiel „begehren, bitten“ in Markus 15,6, nämlich „begehren, damit losgelassen wird“. So auch „flehen“ in Hebräer 12,19, nämlich „flehen, dass etwas untergelassen wird“. Daraus wird dann „bitten um Verschonung“, das ist: „sich entschuldigen“ (Lk 14,18.19), und dann ist es nur noch ein Schritt zu: „bitten, von etwas verschont zu bleiben“, nämlich „abweisen“ (1Tim 5,11; Heb 12,25) und „verwerfen“ (1Tim 4,7; 2Tim 2,23; Tit 3,10). In unserem Vers deutet es auf einen vollständigen Bruch zwischen Titus und dem Sektierer hin. Genauso wie Paulus den Korinthern schreibt, dass sie mit Personen, die zwar Brüder genannt wurden, jedoch große öffentliche Sünder waren, keinen Umgang haben und sogar nicht mit ihnen essen sollten (1Kor 5,11). Auch in einem anderen Fall wird gewarnt, dass, wenn jemand sich als Christ hervortut, jedoch nicht die Lehre von Christus bringt, man so jemanden nicht ins Haus aufnehmen soll und ihn nicht begrüßen darf. Denn wer ihn begrüßen würde, würde Gemeinschaft mit seinen bösen Werken haben (2Joh 10.11). Ebenso sollte sich Timotheus von denen abwenden, die zwar einen Schein von Gottseligkeit hatten, die Kraft davon aber verleugneten (2Tim 3,5). Solche Fälle haben wir schon in Apostelgeschichte 19,9 und Römer 16,17 gesehen. Immer wieder andere Fälle von Bösem, jedoch stets derselbe Grundsatz – sich dem Übeltäter entziehen, und zwar aus zwei Gründen: um selbst von der Verunreinigung des Bösen frei zu bleiben und um durch diese äußerste Maßnahme den anderen doch noch zu gewinnen.

Diese zwei Grundsätze sind sehr wichtig. Erstens müssen wir dafür sorgen, nicht beschmutzt zu werden – nicht weil wir besser sind als der Übeltäter, sondern gerade weil wir von Natur aus ebenso schlecht sind. Darum gilt: „Wenn nun jemand sich von diesen reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet“ (2Tim 2,21). Und selbst das kann noch dazu dienen, den anderen zu gewinnen (2Tim 2,23-26). Dazu soll jede Ermahnung dienen (Gal 6,1; Jak 5,19.20). Selbst wenn jemand zum Beispiel dem Wort der Apostel nicht gehorcht und deswegen bezeichnet werden muss, so dass die Gläubigen keinen Umgang mehr mit ihm haben dürfen, selbst dann darf man so jemanden nicht für einen Feind halten, sondern soll ihn als Bruder ermahnen (2Thes 3,14.15). Und sogar wenn jemand durch die Apostel dem Satan überliefert werden musste, diente das dazu, dass er durch Züchtigung zum Beispiel lernen sollte, nicht zu lästern (1Tim 1,20), oder damit sein Fleisch verderbt würde (wie bei Hiob), um schließlich aber doch selbst gerettet zu werden (1Kor 5,5).

Wir müssen beachten, dass in unserem Vers nicht über Ausschluss geredet wird. Dazu sind zwei Begründungen zu nennen. Erstens haben wir es hier mit einem persönlichen Brief zu tun, also mit der persönlichen Verantwortlichkeit von Titus. Deswegen war Titus in erster Linie persönlich verantwortlich, einen Sektierer zu verwerfen, genau wie Timotheus auch eine strikt persönliche Verantwortlichkeit in diesen Dingen hatte, wie zum Beispiel in 2. Timotheus 2,16–3,5. Dies ist für sehr wichtig Gläubige, die in einer Zeit des Verfalls leben, in der viele abgewichen sind und wo es oft auf persönliche Treue ankommt. Wir haben hier nicht mit Briefen an Gemeinden zu tun, in denen wir Vorschriften für die Gemeinden erwarten könnten wie im Fall des Ausschlusses. Wir haben bei Titus 1,5 schon gesehen, wie wichtig es ist, dies einzusehen, so dass wir die Vorschriften, die nur Titus und Timotheus gegeben waren (nämlich Älteste anzustellen), nicht auf die Gemeinde übertragen würden.

Der zweite Grund, warum hier nicht über Ausschluss geredet wird, hängt mit der Art des Bösen zusammen. Es wird in der Schrift nur dann ausdrücklich über Ausschluss gesprochen im Fall von Sauerteig, also Böses, das in kurzer Zeit die ganze Gemeinde infiziert, nämlich sittlich Böse (1Kor 5,6-8.13) und lehrmäßig Böses (das noch viel schneller infiziert als sittlich Böses) (Gal 5,7-10; vgl. Röm 16,17; 2Joh 10,11). Allerdings kann man Sektiererei nicht einfach so Sauerteig nennen, es sei denn, der Sektierer würde auch falsche Lehre verkündigen wie in 2. Petrus 2,1. Wir haben aber gesehen, dass die Auffassungen eines Sektierers nicht per se verkehrt zu sein brauchen bzw. sie können zwar verkehrt sein, jedoch nicht so sehr, dass sie die Fundamente des christlichen Glaubens berühren. Der Sektierer betont lediglich bestimmte, bevorzugte Ideen (falsche oder nicht), die er einseitig präsentiert mit der Absicht, sich eine eigene Partei zu bilden. Das ist jedoch kein Sauerteig; es ist ja nicht so, dass diese Sektiererei so ansteckend wirkt, dass in kurzer Zeit die ganze Gemeinde sektiererisch ist und alle Gläubigen mit eigenen Ideen kommen und jeder seine eigene Partei haben möchte.

Um gegen Sektiererei vorzugehen, ist es ausreichend, dass die Gläubigen ihn individuell „verwarfen“, das heißt jeden Umgang mit ihm abbrechen, so dass er isoliert und sich selbst überlassen wird. So einen Zustand der Einsamkeit kann er nicht aushalten; entweder wird er sich bekehren (was in der Praxis ganz unwahrscheinlich zu sein scheint) oder er wird weggehen, um zu versuchen, anderswo ein Podium für seine Ideen zu finden. Im Prinzip war er eigentlich schon lange weggegangen, denn er griff mit seiner Sektiererei die Einheit der Gemeinde an und verließ selbst den wahren Boden dieser Einheit. Es braucht von Ausschluss also keine Rede zu sein; höchstens kann die Gemeinde, nachdem der Sektierer weggegangen ist, mitteilen, dass sie sich nicht mehr mit ihm in praktischer Gemeinschaft sieht.

Du weißt, dass ein solcher verkehrt ist und sündigt

Eine solche Handlung von totaler Verwerfung durfte natürlich nur stattfinden, wenn auch in der Tat Sicherheit bestand, dass der Betreffende ein sektiererischer Mensch war. Diese Sicherheit („da du weißt“) wurde durch zwei Ermahnungen und die Ergebnisse daraus erworben. Wenn jemand nach zwei Ermahnungen noch nicht hören wollte, dann konnte Titus sicher wissen, dass so jemand nicht nur verkehrt handelte (bewusst oder unbewusst), sondern auch verkehrt war. Das zeigt sich auch aus dem typisierenden Ausdruck „ein solcher“. Paulus meint: von „einem solchen“ – von einer derartigen Person, die nach mehreren Ermahnungen ihre verkehrten Handlungen fortsetzt –, von so jemandem kannst du dir sicher sein, dass er verkehrt ist. „Ein solcher“ ist eine Betitelung, die der Apostel sehr häufig in solchen Fällen gebraucht (1Kor 5,5.11; 2Kor 2,6; 10,11; Gal 6,1; 1Tim 6,5 in manchen Handschriften).

„Verkehrt“ ist vom Ursprung her ein sehr starker Ausdruck. Er heißt eigentlich „umgekrempelt“ oder umgekehrt. Manche fassen dies in der leidenden Form auf, also dass „ein solcher“ durch Gott „umgekehrt“ wird, also in einen Zustand der Verhärtung gebracht wird. Dies scheint aber wenig wahrscheinlich; aus dem Zusammenhang zeigt sich eher, dass es darum geht, dass der Betreffende aus den abgewiesenen Ermahnungen ein „Verkehrter“ zu sein scheint; jemand, der abgewichen ist („abgekehrt“) vom wahren Fundament, nicht so sehr das Fundament des Glaubens als das Fundament der Gemeinde: Er hat den Boden der Einheit des Leibes verlassen, indem er zielbewusst Zwietracht gesät hat. Es ist nicht einfach so, dass er eine bestimmte Wahrheit so liebt, dass er diese (ohne Argwohn hinsichtlich der Folgen zu haben) seinen Mitgläubigen aufzwingt; nein, sagt Paulus, „er sündigt“. Wenn er die Ermahnungen bewusst in den Wind schlägt, dann zeigt sich, dass er zielbewusst und mutwillig sündigt. Er entzieht sich der Einheit und Autorität der Gemeinde, und das ist Gesetzlosigkeit – und Gesetzlosigkeit ist Sünde (1Joh 3,4). Darum sündigt er ununterbrochen in diesem Zustand.

Wobei er durch sich selbst verurteilt ist

Jemand, der sich auf so eine Weise dessen bewusst ist, was er tut, und der nicht gehorchen will, sondern willentlich und wissend sündigt, ist durch sich selbst verurteilt oder, so wie es wörtlich dort steht, „selbst-verurteilt“. Nicht die Gemeinde muss ein Urteil über ihn aussprechen, nicht einmal Titus, sondern er selbst tut das. Es bedeutet nicht, dass sein Gewissen ihn verurteilt, denn wer weiß, ob sein Gewissen noch funktioniert? Bei solchen Menschen ist das Gewissen oft schon lange „wie mit einem Brenneisen gehärtet“ (1Tim 4,1.2). Nein, nicht das Gewissen verurteilt ihn, sondern er verurteilt sich selbst; bewusst oder unbewusst ist er sein eigener Richter. Da er die Ermahnungen abweist und weiterhin sündigt, spricht er mittels dieser Haltung sein eigenes Urteil aus, ob er sich dessen nun bewusst ist oder nicht. „Verurteilen“ ist ein ganz starkes Wort; es ist dasselbe Wort, das an anderer Stelle durch „verdammen“ wiedergegeben wird. Es hat also große Kraft, wiewohl es hier natürlich nicht die Bedeutung der ewigen Verdammnis hat, jedoch eine zeitliche Bedeutung mit Bezug zur Erde und zur Gemeinde.

Auch David fällte unbewusst ein eigenes Urteil; er verurteilte eine erfundene Person und verurteilte damit sich selbst (2Sam 12,5.6). So verurteilt auch der Sektierer sich selbst. Er nimmt anderen übel, dass sie seine Lehren nicht übernehmen und ihm nicht nachfolgen, sondern sich von ihm abwenden. Doch worin er den anderen richtet, verurteilt er sich selbst; denn richtend tut er dieselben Dinge (Röm 2,1). Er ist selbst derjenige, der Trennung schafft und durch seine Lehren die Gläubigen auseinandertreibt. Er verträgt die reine Atmosphäre der Gemeinde nicht mehr, sondern wählt für seine eigene „Kirche“. Damit verlässt er das Gebiet, auf dem der Heilige Geist in der Mitte der Gläubigen frei wirksam ist und wo sie sich einander und dem Herrn verbunden wissen, was sie am Tisch des Herrn zum Ausdruck bringen. Und wenn er vielleicht soeben eine verdorbene Gemeinde mit seinen Nachfolgern verlassen hat, jedoch nicht das einzig richtige Terrain aufsucht – nämlich dort, wo allein der Herr Autorität hat und zulässt –, sondern im Gegenteil die Gläubigen um sich selbst und um seine (falschen oder nicht falschen) Lehren versammelt und nur die zulässt, die mit seinen (falschen oder nicht falschen) Lehren einer Meinung sind, dann ist er leider ebenfalls ein Sektierer.

(7) Sorge um die Brüder und Grüße (Tit 3,12-15)

(a) Nachrichten über Paulus’ Gefährten (Tit 3,12-14)

Tit 3,12: Wenn ich Artemas oder Tychikus zu dir senden werde, so befleißige dich, zu mir nach Nikopolis zu kommen, denn ich habe beschlossen, dort zu überwintern.

Der siebte und letzte Teil des Briefes handelt von den praktischen Dingen des Lebens. Vielleicht scheint es so, dass solche Abschnitte weniger wichtig sind als lehrmäßige Abschnitte; doch wir müssen immer bedenken, dass wir in jedem Bibelvers mit dem inspirierten Wort Gottes zu tun haben. Und wenn Gott es gefallen hat, uns nach so vielen hundert Jahren noch mitzuteilen, was für gewöhnliche, alltägliche Dinge im Leben seiner Gesandten vorkamen, hat das sicher keine alltägliche Bedeutung. Aus diesen normalen Dingen zeigt sich nämlich, wie der christliche Glaube in unserem Leben funktioniert und was die praktische Auswirkung davon ist. Wenn wir die gewöhnlichen Dinge in Abhängigkeit von und aus Liebe zum Herrn tun, dann werden die höchst alltäglichen Dinge wichtige Dinge, die von Gott nicht vergessen werden. Wir haben hier einen herzerwärmenden Blick hinter die Kulissen von Paulus’ Reisen mit ihren Unannehmlichkeiten sowie seiner Liebe und Sorge für seine Mitarbeiter und die „tägliche Sorge um die Gemeinden“ (2Kor 11,28). Verschiedene Punkte, die in diesen Versen genannt werden, wurden schon in der Einleitung erwähnt, um den Hintergrund, vor dem dieser Brief geschrieben wurde, zu beleuchten.

Die Unterschrift des Briefes

Bevor ich auf die Besonderheiten dieses Schlussverses eingehe, ist es interessant, eine Übersetzung der Unterschrift zu geben, die dem Brief in verschiedenen Handschriften zugefügt wurde. Gerade die menschlichen Elemente in dieser Unterschrift und die Unwahrheiten, die sie enthält, zeigen deutlich den Unterschied zwischen göttlicher Inspiration und menschlichen Hinzufügungen. Wenn wir die Variationen, in der die Unterschrift in den Handschriften vorkommt, kombinieren, dann erhalten wir Folgendes:

  •  „An Titus, der erste gewählte Aufseher [episkopos = „Bischof“] der Gemeinde der Kreter; geschrieben aus Nikopolis von Mazedonien“; einige uralte Übersetzungen fügen noch hinzu: „gesandt durch Artemas“, bzw. andere: „durch Zenas und Apollos“.

Nichts kann besser den Unterschied zwischen sprödem Menschenwerk und dem unfehlbaren Wort Gottes aufzeigen. Die ersten beiden Worte („An Titus“) sind fast die einzigen, die stimmen (Tit 1,4). Und weiter? Wie kann Titus der erste Bischof von Kreta sein? Diese Hinzufügung datiert aus dem 9. Jahrhundert und trägt alle Kennzeichen eines kranken Klerikalismus der damaligen römischen Kirche. Dies ist umso auffälliger, wenn wir sehen, wie einfach die Unwahrheit dieser Zufügung zu entlarven ist:

  1. Zuerst lassen Titus 1,5 und 3,12 erkennen, dass der Aufenthalt des Titus einen zeitlichen Charakter hatte; er sollte seine Arbeit zu Ende führen und zu Paulus zurückkehren. Siehe die Einleitung und Betrachtung von Titus 1,5.
  2. Zweitens sollte Titus gerade in Kreta bleiben, um in jeder Stadt Älteste (das sind: Aufseher) anzustellen (Tit 1,5-7). Wie konnte Titus dann selbst der Aufseher von Kreta sein? Er sollte Aufseher anstellen und weggehen; das ist etwas ganz anderes, als selbst als Aufseher dauerhaft dort zu bleiben.
  3. Der Ausdruck „der Aufseher“ ist eigentlich besonders verräterisch. Wir haben gerade bei Titus 1,5 gesehen, dass es gegen den Gedanken der Schrift ist, dass es an einem Ort oder in einem Gebiet einen einzigen Aufseher geben sollte; es wird immer in der Mehrzahl gesprochen. Hier wird jedoch suggeriert, dass Titus der Bischof von Kreta war.
  4. Viertens steht noch da: der erste Aufseher. Dies suggeriert, dass eine Nachfolge existierte: nach dem ersten Bischof würde ein zweiter Bischof gewählt werden etc. Auch das ist gegen die Schrift; nirgends finden wir, dass auf den einmal angestellten Ältesten und Aufseher andere folgen und ihn ersetzen würden. Das war auch nicht nötig, als das Wort Gottes vollständig war (siehe Tit 1,5).
  5. Was bedeutet „gewählt“? Wer sollte die aufeinander folgenden Bischöfe wählen, während es keine Apostel mehr gab, die allein dazu das Recht hatten? Das suggeriert das Bestehen von anderen Instanzen, die gegen die Schrift sind: seien es die übrigen Bischöfe, die offene Stellen in ihren Reihen auffüllten; seien es die Gemeinden selbst.
  6. Worüber soll Titus Bischof gewesen sein? Über die Gemeinde der Kreter? Die existiert nicht. Die Schrift unterscheidet die eine allgemeine Gemeinde Gottes und daneben die Gemeinde an einem bestimmten Ort (z.B. „die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist“), doch spricht sie nie über die Gemeinde eines bestimmten Gebiets. Paulus schreibt an die Gemeinden von Galatien (Gal 1,2). Dies wird durch Titus 1,5 bestätigt; Titus sollte in jeder einzelnen Stadt auf Kreta mehrere Älteste anstellen. Doch das Institut eines einzelnen, gewählten Bischofs über ein bestimmtes Gebiet ist eine Erfindung von Menschen, also vom Fleisch.

Nikopolis

Und was sagt die Unterschrift des Weiteren? Kann der Brief von Nikopolis aus geschrieben worden sein? Unmöglich, denn Paulus sagt in unserem Vers: „Ich habe beschlossen, dort zu überwintern.“ Wenn er „dort“ (ekei) schreibt, dann bedeutet das, dass er noch nicht dort ist, als er den Brief schreibt. Also wurde der Brief nicht in Nikopolis geschrieben. Darüber hinaus steht in einigen Handschriften dabei: „Nikopolis von Mazedonien“. Nun sind viele Städte im Altertum mit dem Namen Nikopolis bekannt (nach einigen Handschriften sogar neun Städte!), jedoch lag nicht eine davon in Mazedonien. Es ist also stark die Frage, ob je ein Nikopolis in Mazedonien gelegen hat, und wenn dies schon der Fall gewesen wäre, dann kann sie nicht viel Bedeutung gehabt haben. Außerdem: Wenn es so viele Orte mit diesem Namen gab und Paulus dennoch ohne weiteren Hinweis über Nikopolis spricht, dann kann es nicht anders sein, als dass er die Stadt meinte, die mit Abstand die wichtigste mit diesem Namen in der Zeit war. Diese Stadt lag in Epirus, einem Landstrich im Westen von Griechenland, an der Küste des Ionischen Meeres. Sie lag an der Südgrenze von Epirus auf einer ganz kleinen Halbinsel und sah westlich übers Meer und östlich über die Bucht von Anactorium, sah zum Süden hin über den Eingang der Bucht auf die Stadt Actium, die auf dem Vorgebirge des Landstrichs Acarnania lag. Diese Stadt Nikopolis (deren Name bedeutet: Überwindungsstadt, Siegesstadt) wurde durch den Kaiser Augustus erbaut. Heute heißt die Stadt Preveza. Wenn der Titusbrief nicht allzu lange vor dem zweiten Brief an Timotheus geschrieben wurde, ist es interessant, dass wir in 2. Timotheus 4,10 lesen, dass Paulus (der inzwischen wieder in Rom gefangen ist) sagt, dass Titus nach Dalmatien verzogen ist; Dalmatien liegt nämlich nicht so weit von Epirus entfernt, und zwar im heutigen Südslawien (Balkan?), an der Küste des Adriatischen Meeres. Wenn Paulus, als er Titus schreibt, auf dem Weg nach Rom ist, dann scheint es so zu sein, dass er hier Titus bittet, ihm nach Nikopolis entgegenzureisen, wo Paulus dann bleiben will, um in Gesellschaft von Titus das kommende Frühjahr abzuwarten, um dann weiterzureisen. In diesen Tagen war Reisen nicht einfach, und der strenge Winter machte eine Unterbrechung der Reise notwendig (siehe Apg 27,12; 28,11; 1Kor 16,6; 2Tim 4,21).

Artemas

Wie gesagt, fügen wenige alte Übersetzungen (nämlich eine syrische und eine ägyptische) noch hinzu, wer den Brief überbracht hat. Artemas kann dies jedoch kaum gewesen sein. Sollte er der Überbringer gewesen sein, dann würde er in dem Moment bei Titus gewesen sein, als dieser den Brief las; doch wie hätte Paulus dann schreiben können: „Wenn ich Artemas zu dir senden werde“? Denn der wäre ja schon bei Titus. Zenas und Apollos kommen schon eher in Betracht, wiewohl das nicht mit Sicherheit zu sagen ist. Es kann gut sein, dass Artemas gar nicht nach Kreta gekommen ist, sondern Tychikus. Wir wissen es nicht; die Umstände sind nicht mehr zu rekonstruieren. Wir wissen von Artemas und Zenas gar nichts, denn die Schrift schweigt ansonsten über sie. Nach der Tradition sollen sie beide zu „den Siebzig“ gehört haben (Lk 10,1); dies scheint jedoch mehr eine „nette Idee“ zu sein, als dass es irgendeine historische Basis hätte. Ja, wer sollte nach einigen Jahrhunderten noch gewusst haben, wer zu den Siebzig gehörte? Des Weiteren soll Artemas später Bischof von Lystra und Zenas Bischof von Diospolis gewesen sein. Auch scheint ein apokryphes Buch bekannt zu sein, genannt „die Heiligen von Titus“, von Zenas geschrieben. Wir lassen es einfach so stehen.

Aus unserem Vers geht hervor, dass Paulus Titus gerne bei sich haben will, vermutlich um gemeinsam mit ihm den Winter zu verbringen. Das darf jedoch nicht auf Kosten der Gemeinden auf Kreta geschehen. Sie können noch nicht ohne Versorgung sein, weshalb ein anderer Arbeiter Titus ersetzen muss. Erst wenn dieser Ersatz eingetroffen ist, kann Titus verreisen. Paulus weiß noch nicht, wen er senden soll; fähige Arbeiter sind selten, und deshalb müssen sie mit viel Überlegung und in großer Abhängigkeit ausgesandt werden. Er wird seine Wahl zwischen Artemas und Tychikus treffen. Vielleicht hätten wir Tychikus als Ersten genannt, der ja viel wichtiger erscheint, weil er fünfmal im Neuen Testament genannt wird, während Artemas nur hier erwähnt wird. Doch der Heilige Geist gebraucht andere Maßstäbe; Er wählt nicht die Reihenfolge des Fleisches, sondern die des Geistes. Auch in Titus 3,13 wird der unbekannte Zenas vor dem allbekannten Apollos genannt.

Tychikus

Tychikus stammte aus Kleinasien (gemäß mancher Textzeugen aus Ephesus). Er wird als Erstes als Gefährte von Paulus auf seiner Reise nach Jerusalem genannt (Apg 20,4). Er gehörte zum „Opfer der Nationen“, das Paulus Gott widmete (Röm 15,16). Möglicherweise war er durch seine Gemeinde entsandt, um ihren Teil der Almosen, dir für die Christen in Judäa bestimmt waren, zu überbringen (vgl. 1Kor 16,1-4), außer wenn die Sammlung auf Mazedonien und Achaja beschränkt war (Röm 15,26; 2Kor 9,2). In den Briefen kennen wir ihn als einen wertvollen Dienstknecht des Apostels. Dieser redet mit großer Wertschätzung über ihn als „der geliebte Bruder und treue Diener im Herrn“ (Eph 6,21), „der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn“ (Kol 4,7). Er wurde von Paulus nach Ephesus und Kolossä gesandt (und nahm dabei vielleicht die Briefe mit, die die Apostel an die Gemeinden dort geschrieben hat), um die Gläubigen dort auf die Höhe der Umstände zu bringen, in denen Paulus und die Seinen sich befanden, und um ihre Herzen zu trösten (Eph 6,21; Kol 4,7-9). Paulus befand sich nämlich zu dieser Zeit in Gefangenschaft in Rom, und die Gläubigen machten sich zu Recht Sorgen um sie. Darum sandte er aus Rom seinen treuen Diener Tychikus, der von dem entlaufenen, aber bekehrten Sklaven Onesimus begleitet wird (Kol 4,9; Phlm 10). Später sendet Paulus ihn noch einmal aus der Gefangenschaft in Rom nach Ephesus (2Tim 4,12), vielleicht mit dem zweiten Brief an Timotheus bei sich und vielleicht, um Timotheus in Ephesus zu ersetzen, da dieser von dem Apostel nach Rom gerufen wird (2Tim 4,9-13). Dies würde dann eine ähnliche Situation sein wie in unserem Vers, wo er vielleicht möglicherweise gesandt wird, um Titus auf Kreta zu ersetzen.

Tit 3,13: Zenas, dem Gesetzesgelehrten, und Apollos gib mit Sorgfalt das Geleit, damit ihnen nichts mangle.

In diesem Vers bekommen wir es mit einer anderen Sorte Arbeiter zu tun. Titus 3,12 spricht über Arbeiter, die im Dienst des Paulus standen und von ihm ausgesandt wurden. Dieser Vers spricht nun von Dienstknechten des Herrn, die unabhängig von Paulus arbeiteten. Sie hatten ihr eigenes Arbeitsgebiet und waren direkt dem Herrn gegenüber verantwortlich. Jeder hatte seine eigene Aufgabe: Paulus pflanzte vielleicht an einer bestimmten Stelle, und Apollos war vielleicht derjenige, der begoss; doch Gott war der, der schließlich das Wachstum gab. Darum waren weder Paulus noch Apollos wichtig, sondern Gott, der das Wachstum gab. Denn ob man nun pflanzte oder begoss, es war alles das Werk des Herrn; der eine war nicht wichtiger als der andere, denn jeder sollte seinen eigenen Lohn empfangen, nicht aufgrund seiner Fähigkeit, sondern aufgrund seiner Treue (1Kor 3,5-8). Dieses hat Paulus verstanden und ausgelebt, so dass er die anderen Arbeiter nicht als Konkurrenten sah oder mit Neid über sie redete, sondern er hatte sie lieb und trug gern dazu bei, dass es ihnen an nichts fehlte. Als er dann hört, dass Zenas und Apollos Kreta anlaufen würden (möglicherweise haben sie oder einer von ihnen den Brief überbracht), bittet er Titus, ihnen mit Sorge und Hingabe auf ihrer Reise weiterzuhelfen.

Gib mit Sorgfalt das Geleit[7]

„Eifrig“ bedeutet hier in der Tat „mit Sorge und Hingabe“. Es ist derselbe Wortstamm wie „beeifern“ in Titus 3,12. Wir könnten sagen: „Tue dein Bestes, ihnen so gut wie möglich weiterzuhelfen.“ Das Wort kommt auch in 2. Korinther 8,22 vor und ist in Lukas 7,4 mit „dringend, inständig“ übersetzt. Das griechische Wort für „weiterhelfen“ bedeutet wörtlich „fortsenden“, und zwar in zweierlei Hinsichten: erstens jemand Hilfe und das Benötigte geben, damit er seine Reise fortsetzen kann, also „weiterhelfen“ oder „auf den Weg helfen“, so wie die Römer (Röm 15,25) oder die Korinther (1Kor 16,6; 2Kor 1,16) Paulus weiterhalfen und Gajus „den Brüdern“ weiterhalf (3Joh 6); zweitens jemand auf seiner Reise ein Stück weit begleiten, […] also „(aus-)begleiten“, so wie Paulus von der Gemeinde in Antiochien (Apg 15,3), von den Ältesten in Ephesus (Apg 20,38) und von den Gläubigen in Tyrus (Apg 21,5) begleitet wurde sowie Timotheus von den Korinthern (1Kor 16,11); wiewohl hier die erste Bedeutung mir eher passend erscheint. Titus’ Sorge für Zenas und Apollos muss dergestalt sein, dass sie an nichts Mangel haben, was immer sie auch für ihre weitere Reise nötig haben mochten, sei es Reisegeld, Proviant, Kleidung oder andere Reiseutensilien. „Mangle“ ist dasselbe Wort wie in Titus 1,5; weiterhin kommt es in Lukas 18,22 und Jakobus 1,4.5; 2,15 vor.

Zenas, der Gesetzesgelehrte

Die Personen in diesem Vers bitten um unsere Aufmerksamkeit. Zenas kommt im Neuen Testament weiter nicht vor. Er wird der „Gesetzesgelehrte“ genannt, was schon immer Anlass zu der Frage gegeben hat, ob er nun ein ehemaliger jüdischer Rabbi war oder ein römischer Jurist. Das Wort ist nomikos, das einfach ein attributives Nomen des Wortes nomos („Gesetz“) ist und dem wir auch in Titus 3,9 begegnet sind. Der Ausdruck „Gesetzesgelehrte“ kommt in Matthäus und Lukas siebenmal vor und dann immer als Hinweis auf einen jüdischen Rabbiner, nie für römische Juristen, so dass wenig Grund besteht, dass unser Vers hiervon abweichen könnte. Darüber hinaus waren die römischen Rechtsgelehrten angesehene Leute, die als juristische Berater ihren Lebensunterhalt auskömmlich bestreiten konnten; wenn Zenas so einer war, ist nicht klar, warum er Hilfe von Titus nötig haben würde. Hiergegen wurde vorgebracht, dass Zenas einen griechischen Namen trug und deshalb wahrscheinlich kein Jude war, während darüber hinaus Bedenken bestehen, weil jemand nach seiner Bekehrung noch einen Titel trägt, der typischerweise mit seinem unbekehrten Zustand verbunden ist. Doch beide Argumente stechen nicht. Die Juden, die außerhalb von Palästina geboren waren und Griechisch sprachen (vgl. Apg 2,5-11), trugen oft griechische Namen, wie sich aus Apostelgeschichte 6,5 klar herauslesen lässt. Selbst wenn man einwirft, dass der Name von Zenas vom griechischen Gott Zeus abgeleitet ist, kann man dem wiederum gegenüberstellen, dass der Name von Apollos (der in jedem Fall sicher ein Jude war, s. Apg 18,24) ebenso von einem griechischen Götternamen abstammt, nämlich Apollo. Auch das zweite Argument (dass „Gesetzesgelehrter“ kein passender Name für einen bekehrten Juden ist) fällt weg, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel Matthäus nach seiner Bekehrung immer noch den Beinamen „der Zöllner“ trug, was noch ein viel schmählicherer Titel war (Mt 10,3), und Simon hieß immer noch „der Zelot“ (Apg 1,13).

Apollos

Der Name Apollos kommt zehnmal im Neuen Testament vor, davon zweimal in der Apostelgeschichte und siebenmal im ersten Korintherbrief. Er war ein Jude, geboren in Alexandria (in Ägypten), ein beredter Mann, mächtig in den Schriften (Apg 18,24). In der Zeit, in der Paulus gerade seine dritte Missionsreise angefangen hatte, kam dieser Apollos in Ephesus an (Apg 18,22-24). Er war auf eine andere Weise mit den Dingen, die Jesus Christus betreffen, bekanntgeworden (vielleicht schon in Alexandria) und sprach sehr brennend und exakt zu seinen Brüdern in der Synagoge von Ephesus über alles, was er über den Weg des Herrn wusste. Seine Kenntnis über Jesus war jedoch beschränkt (so wusste er nur von der Taufe des Johannes), doch in Ephesus traf er Aquila und Priszilla unter seinen Zuhörern, die ihm den Weg Gottes genauer auslegten (Apg 18,25.26). Von Ephesus aus zog er mit einem Empfehlungsschreiben nach Korinth, wo er den Gläubigen eine große Stütze war, indem er die Juden öffentlich widerlegte und aus den Schriften bewies, dass Jesus der Christus ist (Apg 18,27.28; 19,1). Leider waren verschiedene Gläubige in Korinth so von ihm angetan, dass sich Parteien bildeten, die sich nach Paulus, nach Apollos oder auch nach Kephas und sogar nach Christus nannten (1Kor 1,12). Vielleicht waren die „Nachfolger“ des Apollos von seiner Beredtheit und seinem Feuereifer fasziniert. Paulus geht mit dieser Parteisucht streng ins Gericht und zeigt auf, dass nicht die Sklaven Gottes wichtig sind, sondern Gott selbst alle Ehre zukommt, denn Er führt und segnet das Werk (1Kor 3,3-9). Alles gehörte den Korinthern an, auch Paulus und Apollos (1Kor 3,21-23). Mit Nachdruck verlangt Paulus, dass sie sich nicht aufblasen sollten, der eine für Paulus, der andere für Apollos (1Kor 4,6). Vielleicht war diese Parteisucht der Grund dafür, dass Apollos, als Paulus den ersten Korintherbrief schrieb, absolut nicht nach Korinth zurückkehren wollte (trotz der dringenden Bitte des Apostels), sondern später gehen wollte, wenn die Parteibildung möglicherweise abgeschwächt war (1Kor 16,12).

Tit 3,14: Lass aber auch die Unseren lernen, für die notwendigen Bedürfnisse gute Werke zu betreiben, damit sie nicht fruchtleer seien (Tit 3,14).

Auch die Unseren

Im vorigen Vers wurde Titus angehalten, Zenas und Apollos eifrig weiterzuhelfen, so dass ihnen nichts mangelte. Jetzt breitet der Apostel seinen Ansporn aus und sagt, dass nicht nur Titus, sondern „auch die Unseren“ lernen sollten, Wohltätigkeit zu betreiben. Der Vers beginnt mit „Und“ [im Niederländischen], was eigentlich etwas zu schwach ist. In Titus 1,3.15.16; 2,1; 3,4.9 wird mit „aber“ übersetzt, was hier zu stark wäre; es hat hier mehr die Bedeutung von demselben Wörtchen „und“ in Titus 1,1 [wo in der Elb. Übers. auch „aber“ steht], nämlich ein Klimax, also folgendermaßen: „Hilf du ihnen eifrig weiter, ja, lass (darüber hinaus) auch die Unseren wohltätig sein.“ Das hilft uns gleich, die Bedeutung dieses Verses zu verstehen, denn es sind über die Bedeutung die eigenartigsten Gedanken im Umlauf. So gibt es Ausleger, die meinen, dass das Wörtchen „auch“ sich auf die jüdischen (und heidnischen) Gemeinschaften dieser Tage bezieht, die eine große Gastfreundschaft kannten. Sie sagen dann: So wie die jüdischen Gemeinschaften gute Werke taten, so sollen „auch die Unseren“ (nämlich die Christen) gute Werke tun. Mal abgesehen von der Tatsache, dass diese Auslegung keine einzige Stütze aus dem Kontext hat (sondern er dieser Auslegung klar widerspricht), kann man wirklich sagen, dass die unbekehrten Juden gute Werke taten? Auch wenn man hier darunter einfach Mildtätigkeit und Gastfreiheit versteht, dann ist es immer noch ein prinzipiell verwerflicher Gedanke, zu meinen, dass alle belanglosen Mildtätigkeiten durch die Schrift „gute Werke“ genannt werden. Gute Werke schreibt die Schrift nur den Gläubigen zu, und zwar nur dann, wenn die Werke, die getan werden, in Abhängigkeit vom Herrn und in der Kraft des Heiligen Geistes getan werden. Mildtätigkeit von Ungläubigen gehört immer zu den „toten Werken“, wie nützlich und schön sie auch sein mögen (Heb 9,14).

Die Bedeutung ist also ganz einfach, dass nebst Titus auch alle Gläubigen auf Kreta lernen sollten, gute Werke zu auszuüben. Auf liebliche Weise nennt Paulus sie „die Unseren“; wir würden sagen „unsere Menschen“. Es sind die, die zu uns gehören, die mit uns in gemeinschaftlichem Glauben verbunden sind (vgl. Tit 1,4; 3,15), in dem einen Leib, dem einen Geist und der einen Hoffnung der Berufung (Eph 4,3.4). Die Kommentatoren der Statenvertaling meinen, dass „die Unseren“ die Lehrer auf Kreta waren, sozusagen die „Kollegen“ von Paulus und Titus („von derselben Berufung und Ordnung“). Dies fußte auf dem Gedanken, dass in Titus 3,8 alle Gläubigen unterwiesen worden waren, gute Werke zu betreiben; in unserem Vers sollten dann auch die, die die Gläubigen darin unterweisen sollten, selbst lernen, gute Werke zu betreiben. Nebst der Tatsache, dass auch dieser Gedanke den Zusammenhang mit Vers Titus 3,13 verletzt, verrät er auch die unschriftgemäße Idee einer Art geistlichen Standes („die Unseren“), zu dem Paulus und Titus und auch „die Lehrer“ (was auch immer darunter verstanden wird) auf Kreta gehören sollen.

Lernen, gute Werke zu betreiben

Die Gläubigen auf Kreta mussten lernen, gute Werke zu betreiben. Das geht nicht von selbst. In Titus 3,8 wird gesagt, dass die Gläubigen dafür sorgen sollten, gute Werke zu betreiben (derselbe Ausdruck wie hier), doch hier steht, dass sie es lernen sollten. Freilich, in Vers 8 (und auch in Tit 2,7) stehen die guten Werke mehr in Verbindung mit dem Bewahren der gesunden Lehre, wenngleich es in unserem Vers mehr um Mildtätigkeit geht, wofür Opfer nötig sind. Geistliche Werke, die wir mit dem Mund erledigen können, sind oft einfacher als Werke, für die unser Portemonnaie zum Einsatz kommt. Gemäß Römer 12,6-8 sind Mitteilen und Barmherzigkeit sogar Gnadengaben! Gläubige müssen lernen, zu geben und Abstand zu nehmen von ihren irdischen Besitztümern. So hatte auch Paulus gelernt, mit den bedürftigen Umständen, in denen er sich befand, zufrieden zu sein (Phil 4,11-13). In ähnlichem Sinn mussten die Witwen, die unterstützt werden wollten, erst „lernen“, ihrem eigenen Haus gegenüber fromm zu sein und ihren Eltern Gleiches zu vergelten (indem sie ihren eigenen Nachkommen wohltaten) (1Tim 5,4, vgl. 1Tim 5,5-10). Leider gab es auch Witwen, die „lernten“, in Müßiggang durch die Häuser zu ziehen (1Tim 5,13). So kann man sich an gute, aber auch an verkehrte Werke gewöhnen.

Für die notwendigen Bedürfnisse

Wenn die Gläubigen erst einmal lernen, mit wenig zufrieden zu sein, werden sie auch leichter lernen, mehr abzugeben. Paulus schreibt Timotheus, dass Gottseligkeit mit Zufriedenheit ein großer Gewinn ist und dass wir, wenn wir Nahrung und Kleidung haben, damit zufrieden sein sollen (1Tim 6,7-10). Unser Wandel muss ohne Geldsucht sein, und wir sollen mit dem, was wir haben, zufrieden sein; dann werden das Wohltun und Mitteilen, an deren Opfern Gott Wohlgefallen hat, auch nicht so schnell vergessen (Heb 13,5.16). Wir werden angespornt, an den Bedürfnissen der Heiligen teilzunehmen, und zwar mit Freude und Danksagung (Röm 12,13; 2Kor 8,14; 9,7.11.12). Natürlich haben „gute Werke“ eine größere Reichweite als Mildtätigkeiten, doch hier wird ergänzt: „gute Werke für die notwendigen Bedürfnisse“, was also die guten Werke sind, die für die notwendigen Lebensbedürfnisse sorgen, um am Leben zu bleiben (vgl. „Bedürfnisse“ in Apg 20,34; 28,10; Röm 12,13; Phil 4,16.19). Manche meinen, dass hier das Bestreiten des eigenen Lebensunterhalts gemeint sei, was der Textzusammenhang jedoch nicht unterstützt. Darüber hinaus ist die Frage, ob Paulus die tägliche Arbeit „das Betreiben guter Werke“ genannt haben würde (vgl. 1Thes 4,10-12; 2Thes 3,6-13). In 2. Thessalonicher 3,12.13 sehen wir den Unterschied zwischen „in der Stille arbeitend, das eigene Brot essen“ und „nicht ermatten im Gutestun“. Es geht in unserem Vers nicht um die eigenen Bedürfnisse, sondern um die der anderen.

Damit sie nicht fruchtleer seien

Eine Folge der Mildtätigkeit würde sein, dass die Gläubigen nicht ohne Frucht sein würden. Diese Frucht enthält einen doppelten Segen: Erstens ernten die Gläubigen, denen die Mildtätigkeit erwiesen wird, die Früchte, und zweitens ernten wir selbst die Früchte unserer guten Werke, weil wir den Segen des Herrn dafür empfangen werden und schließlich den Lohn: „Wer segensreich sät, wird auch segensreich ernten. Ein jeder, wie er es sich im Herzen vorgenommen hat … Gott aber vermag jede Gnade gegen euch überströmen zu lassen, damit ihr in allem … überströmend seid zu jedem guten Werk … Der aber … wird eure Saat darreichen und vermehren und die Früchte eurer Gerechtigkeit wachsen lassen, indem ihr in allem reich gemacht werdet zu aller Freigebigkeit, die durch uns Gott Danksagung bewirkt“ (2Kor 9,6-15). Leider gibt es viele, die unfruchtbar sind. Die, die das Wort zwar hören, wo aber die Sorgen des Lebens und der Betrug des Reichtums es ersticken, die werden unfruchtbar (Mt 13,22; Mk 4,19); das ist im Prinzip auch die Begierde, die die Mildtätigkeit verhindert und zur Unfruchtbarkeit führt. Weiterhin lesen wir, dass, wenn wir alle mit dem Geist beten und nicht mit dem Verstand, der Verstand dann unfruchtbar bleibt (1Kor 14,14.15). Der Verstand bleibt außerhalb davon und kann demnach keine Frucht tragen. Paulus sagt auch: „Wandelt als Kinder des Lichts (denn die Frucht des Lichts besteht in aller Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit), indem ihr prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist. Und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, vielmehr aber straft sie auch“ (Eph 5,8-11). Doch auch Gläubige können leider leer und unfruchtbar sein, was die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus betrifft (2Pet 1,8), ganz zu schweigen von den unfruchtbaren, falschen Bekennern (Jud 12).

Welche Früchte sollen wir nun bringen? Früchte, die eine Antwort auf die Bekehrung sind (Mt 3,8; Lk 3,8). Denn an unseren Früchten erkennt man uns; ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen (Mt 7,16-20; 12,33; Lk 6,43-45). Der Herr Jesus nennt uns das Geheimnis des wahren Fruchttragens: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). Jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt Er, damit sie mehr Frucht bringe; und hierin wird sein Vater verherrlicht, dass wir viel Frucht bringen. Er hat uns dazu bestimmt, dass wir hingehen und Frucht tragen und dass unsere Frucht bleibe (Joh 15,2.8.16). Nachdem wir Sklaven Gottes geworden sind, haben wir als Frucht unsere Heiligung, um für Gott Frucht zu tragen (Röm 6,22; 7,4), des Herrn würdig zu wandeln und in allem guten Werk Frucht zu tragen (Kol 1,10). Wenn wir wissen wollen, was diese Frucht beinhaltet, brauchen wir nur nachzulesen, was die Schrift über die Frucht des Geistes sagt (Gal 5,22), die Frucht des Lichts (Eph 5,9) und die Frucht der Gerechtigkeit (Phil 1,11; Heb 12,11).

(b) Abschiedsgrüße (Tit 3,15)

Tit 3,15: Es grüßen dich alle, die bei mir sind. Grüße die, die uns lieben im Glauben. Die Gnade sei mit euch allen!

Es grüßen dich alle, die bei mir sind

Schließlich endet der Brief mit den gebräuchlichen Grüßen. Es ist ein Gruß des Absenders und aller, die bei ihm sind, an Titus, und es ist ein Gruß an alle Gläubigen, die bei Titus sind, sowie zum Abschluss ein Gnadenwunsch. Zunächst überbringt Paulus die Grüße all derer, die bei ihm sind. Er schreibt nicht, wer das alle sind; vielleicht fand er es nicht wichtig, dies mitzuteilen, vielleicht waren sie Titus auch bekannt. Vielleicht würden Zenas und Apollos ihm dies auch berichten. Paulus überbrachte öfter Grüße von Gläubigen, mit denen er verkehrte, nämlich von „den Brüdern, die bei mir sind“ (Phil 4,21), und sogar von „allen Gemeinden“ oder „allen Heiligen“ (Röm 16,16b; 2Kor 13,12; Phil 4,22; Heb 13,24). Auch überbrachte er oft Grüße von namentlich genannten Personen (Röm 16,21-23; 2Tim 4,21; Phlm 23). Oft finden wir auch, dass Paulus, der seine Briefe meist diktierte (Röm 16,22; wichtige Ausnahme: Gal 6,11), am Ende einen eigenhändigen Gruß als Siegel des Briefes hinzufügte (1Kor 16,21; Kol 4,18a; 2Thes 3,17). Das Wörtchen „bei“ (meta) in unserem Vers ist stärker als das Wörtchen „bei“ (sun) in Galater 1,2 und Philipper 4,21 und zeigt dadurch ein innigeres Band mit denen an, die den Apostel umringen. Es ist dasselbe wie „mit“ in „Gott mit uns“ (Mt 1,23). Übrigens ist hier erkennbar, dass Paulus noch nicht allein war, wie es später der Fall war, als er den zweiten Brief an Timotheus schrieb (2Tim 1,15; 4,10).

Grüße die, die uns lieben im Glauben

Zweitens bittet Paulus Titus, alle Gläubigen zu grüßen. Die Gläubigen werden hier auf eine besondere Weise umschrieben: „die, die uns lieben im Glauben“. Das Wort „lieben“ ist hier nicht agapao; das ist die Liebe zu den Brüdern, die aus der Liebe hervorströmt, die Gott zu uns hat und die Er in unsere Herzen ausgegossen hat (1Joh 4,7.19). Es ist phileo, was mehr die praktische Ebene der Zuneigung, Herzlichkeit betrifft, die sie zueinander haben aufgrund dessen, was sie sich gegenseitig bedeuten (siehe die Besprechung bei „Menschenliebe“ in Tit 3,4). Dennoch geht es nicht um die natürliche Zuneigung, sondern um „Zuneigung im Glauben“. Es ist nicht die Zuneigung, die ich für jemanden aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften empfinde, sondern aufgrund der Tatsache, dass er denselben Glauben besitzt wie ich. So wie wenn Paulus sagt: „mein echtes Kind im Glauben“ (1Tim 1,2), oder: „mein echtes Kind nach unserem gemeinschaftlichen Glauben“ (Tit 1,4). Es ist „Glaube“ ohne Artikel, also nicht „das Geglaubte“, sondern „das Glauben“. Wir haben Zuneigung zueinander, weil wir uns in demselben Glaubensvertrauen verbunden fühlen. An diese Gläubigen, mit denen der Apostel sich auf dem formalen Fundament des Glaubens eins fühlt und in dem praktischen Band der Liebe, richtet er seine Grüße.

Manchmal spricht Paulus in seinen Grüßen auch über die, die den Herrn Jesus Christus liebhaben, sei es im positiven (Eph 6,24), sei es im negativen Sinn (1Kor 16,22). Manchmal wünscht er selbst den Gläubigen Liebe, sei es seine eigene Liebe (1Kor 16,24) oder sei es die Liebe Gottes (2Kor 13,13; Eph 6,23). Oft enthalten die Briefe, genau wie hier, Grüße, die sich auf einen weiteren Kreis beziehen als den Kreis des bzw. der Adressaten (Eph 6,23; Phil 4,21a; 1Thes 5,26; Heb 13,24a), und manchmal auch Grüße für namentlich genannte Personen (Röm 16,3-15; 2Tim 4,19).

Die Gnade sei mit euch allen

Der Brief endet damit, dass Paulus Gnade wünscht. Dies finden wir ohne Ausnahme in allen Briefen des Paulus (seien es auch viele Variationen), fehlt jedoch ausnahmslos in allen anderen Briefen des Neuen Testaments. Die Worte in unserem Vers sind dieselben wie die in Hebräer 13,25, unterscheiden sich aber von allen anderen Briefen des Paulus. Manche haben wir es noch kürzer: „Die Gnade sei mit euch“ (Kol 4,18; 1Tim 6,21; 2Tim 4,22), und Epheser 6,24 hat anstelle von „euch alle“: „alle, die unseren Herrn Jesus Christus in Unvergänglichkeit lieben“. In den übrigen Briefen steht immer ausführlicher: „Die Gnade von dem [oder: unserem] Herrn Jesus [Christus]“. Auch in unserem Vers fügen manche Handschriften ein: „von dem Herrn“ oder „von Gott“, doch schon diese ungebräuchliche Formulierung weist darauf hin, dass diese Ergänzungen Menschenwerk sind. Eine Reihe weniger wichtige Handschriften lässt den Brief mit „Amen“ schließen (siehe St. Vert.), offensichtlich analog zu dem Schluss anderer Briefe (Röm 16,27; 1Kor 16,24; Gal 6,18; Phil 4,23; Heb 13,25). In allen Briefen sind die Schlussverse vielen Textvariationen unterworfen, und es ist oft schwierig, auszumachen, was die genauen Worte gewesen sind.

In allen persönlichen Briefen sind diese Gnadenwünsche des Paulus in der Mehrzahl gesetzt (jedenfalls in den wichtigsten Handschriften, was die beiden Briefe an Timotheus betrifft). Dies ist in der Tat etwas Besonderes – Paulus wünscht allen Gläubigen Gnade, nicht nur den Adressaten –, doch es geht wirklich zu weit, wenn Ausleger von kirchlicher Seite dies als einen letzten Strohhalm aufgreifen, um aufzuzeigen, dass der Brief an Titus für alle Gläubigen auf Kreta bestimmt war und dass deswegen auch alle Vorschriften dieses Briefes für die Gemeinden gelten (siehe die Besprechung bei Tit 1,5). Wer per se Älteste anstellen will, kann immer Argumente finden, um seine Begründungen zu bekräftigen. Was schließlich noch auffällt, ist, dass der Ton in diesen Schlussversen weniger intim und weniger persönlich ist als in den Briefen an Timotheus, wie es allgemein für diese Briefe gilt.

Die Gnade, die hier gewünscht wird, ist genauso wenig wie in Titus 1,4 die rettende Gnade Gottes für Sünder, denn das würde bedeuten, dass die Angesprochenen noch nicht errettet wären. Es ist jedoch die Gnade, die wir als Kinder Gottes und als verbunden mit unserem Herrn Jesus Christus täglich empfangen und genießen und in der zu wachsen wir ermahnt werden (2Pet 3,18). Wir können nicht ohne diese praktische Gnade leben, besonders unser Geist (Gal, Phil, Phlm), weshalb der Apostel uns diese Gnade wünscht, damit wir vor Gefahren geschützt sind und daraus Kraft für unseren Wandel schöpfen, für ein Leben, das Gott und dem Herrn Jesus Christus hingegeben ist.


De brief van Paulus aan Titus, 
Winschoten (Uit het Woord der Waarheid) o.J. (ca. 1970)  

Übersetzung: Stephan Winterhoff

Vorheriger Teil

Anmerkungen

[1] Anm. d. Übers.: In der Elb. Übers. steht immer „bereit“.

[2] Anm. d. Übers.: Die Neues-Leben-Übersetzung (NL) hat „leben“ anstelle von „führen“.

[3] Dies lesen wir zwar wörtlich in 1. Timotheus 4,10, jedoch hat soter dort die Bedeutung von „Erhalter“.

[4] Anm. d. Übers.: In der Statenvertaling steht: „Want het is des Vaders welbehagen geweest, dat in Hem al de volheid wonen zou.“ Übersetzt: „Denn es ist des Vaters Wohlgefallen gewesen, dass in Ihm die ganze Fülle wohnen sollte.“

[5] Anm. d. Übers.: WJO benutzt oben immer das Wort „ausschütten“.

[6] Anm. d. Übers.: WJO gebraucht ijdel = „leer, eitel“.

[7] Anm. d. Übers.: Dieser Vers wird in der ndl. Bibel übersetzt mit: „Hilf eifrig weiter.“

Weitere Artikel des Autors Willem Johannes Ouweneel (65)


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen