Das Buch Hiob (5)
Die Abschlussprüfung: Gott selbst spricht

Willem Johannes Ouweneel

© SoundWords, online seit: 04.11.2008, aktualisiert: 13.01.2021

Leitverse: Hiob 38–42

Einleitung

Liebe Freunde, liebe Geschwister, bei diesen Kapiteln angekommen, befinden wir uns am Höhepunkt des Buches. Ich hätte stattdessen auch „Entknotung“ sagen können. Denn dies ist der größte Moment, dass Gott selbst spricht. Wir würden erwarten, dass Gott jetzt Antworten auf die großen Fragen gibt, die in diesem Buch thematisiert wurden. In gewissem Sinn ist das auch so, denn Gott gibt Antwort, jedoch auf eine für Hiob – und ich denke auch für dich und mich – sehr unerwartete Weise. Wir hätten erwartet, dass Gott sich in die Diskussion einschaltet, in die Diskussion, die von Kapitel 3 an lang und breit zwischen den Freunden Hiobs und Hiob selbst stattfindet. Und am Ende – wir haben das ab Kapitel 32 gesehen – hat sich auch der vierte Freund, Elihu, in die Diskussion eingeschaltet und dem Austausch der Gedanken wieder ganz neue Aspekte und Argumente hinzugefügt.

Es ist, als ob Schüler in einer Klasse über ein Thema diskutieren und der Lehrer lächelnd zuhört, weil er alles weiß und die Antworten kennt. Aber er lässt sie gern miteinander debattieren. Und schließlich, wenn alle ausdiskutiert haben, sagt der Lehrer, wie es wirklich ist. So etwas könnte man hier erwarten. Man könnte denken: Jetzt wird Gott endlich sagen, wer recht hat, denn so würde das in der diskutierenden Klasse durch den Lehrer geschehen. Wer hat schlussendlich recht? Oft stellt man fest, dass sie alle unrecht hatten, dass sie alle die Dinge einseitig vorgestellt haben. Der Lehrer bringt dann alle Gedanken genau in die richtige Position.

Nun, einerseits sehen wir das hier auch. Das Buch macht klar, dass die drei Freunde Hiobs unrecht hatten und dass auch Hiob unrecht hatte. Das ist aber nicht das, was Gott selbst hervorhebt. Dazu hat Er seinen Botschafter Elihu gesandt. Elihu ist derjenige, der, wie wir das bei den letzten Malen gesehen haben, sehr klar ans Licht gebracht hat, dass sowohl die Freunde Hiobs als auch Hiob selbst vollständig danebenlagen. Elihu ist deswegen derjenige, der sozusagen den Weg zu Gott bereitet, den Weg für Gott, so dass Er reden kann. Und der Herr knüpft in gewissem Sinn, wie wir sehen werden, an die Worte Elihus an.

Die drei Theorien

Lasst uns noch einmal kurz sehen, wie die Diskussion aussah. Es gab drei Theorien – wenn ich das Wort so gebrauchen darf: die Theorie der drei Freunde, die von Hiob und die von Elihu. Ich habe von vornherein schon gesagt, wer recht hat. Es ist Elihu.

Was war die Theorie der drei Freunde Hiobs? Ganz einfach: Gott straft das Böse und belohnt das Gute. Wenn du, Hiob, also so schrecklich viel zu leiden hast, wenn Gott dich so schwer straft, dann nur, weil du schrecklich gesündigt hast. Du kannst das ablehnen oder nicht, aber es kann nicht anders sein, als dass viele unbekannte schwere Sünden dein Gewissen belasten, die du nicht zugeben willst. Gott kennt sie, und deswegen straft Gott dich so schrecklich.

Die Fehler in dieser Theorie haben wir gesehen:

  1. Erstens sind nicht alle Leiden des Gläubigen eine Strafe. Und zweitens leben wir unter einer indirekten Regierung Gottes, in der Gott das Böse nicht unmittelbar straft und das Gute nicht unmittelbar belohnt. Für eine ganze Zeit kann es so aussehen, als ob die Rollen total vertauscht wären. Die drei Freunde hatten eine sehr simple Theorie über Gott. Daher haben wir in Kapitel 42 gelesen, dass die drei Freunde, wie Gott selbst bezeugt, nicht recht über Ihn geredet haben. Sie hatten nicht nur nicht recht über Hiob geredet. Das hatten sie auch getan. Sie hatten ihn für Dinge, die er nicht getan hatte, schwer beschuldigt. Das ist sehr gemein. Das ist eine schwere Sünde, wenn wir das einander antun und einander mit falschen Vorwürfen schwer beschuldigen, obwohl der andere unschuldig ist. Sie hatten damit aber nicht nur böse über Hiob geredet, sondern auch über den Herrn, weil sie eine Theorie über Gott eingeführt hatten, in der sie Gott vor ihren eigenen Karren, vor ihre simple Theorie gespannt hatten. So wie die Menschen von heute auch oft genau zu sagen wissen, wie und auf welche Weise Gottes Hand in den Dingen zu sehen ist: Gott, der dort straft, wo Leid gefunden wird, und Gott, der das Gute belohnt. Das sind Menschen, die Gott sozusagen in die Tasche stecken und die genau ausmachen können, wie sich der Rat Gottes zusammensetzt.

  2. Nun die zweite Theorie, die Theorie Hiobs. Das Überraschende ist, dass die Theorie Hiobs eigentlich dieselbe ist wie die seiner Freunde, jedoch mit einer anderen Schlussfolgerung. Hiob ging auch davon aus, dass der Herr seinen Knecht, wenn er gut lebt, segnet und nur dann Leid bringen darf, wenn Sünde da ist. Und angesichts der Tatsache, dass Hiob so leiden musste und dass er selbst genau wusste, was seine Freunde nicht anerkennen wollten, nämlich dass keine schweren Sünden sein Gewissen belasteten, fing Hiob an, es Gott übel zu nehmen, dass Er ihn so strafte, obwohl er nichts gemacht hat. Er hatte eigentlich dieselbe einfache Theorie. Weil er aber wusste, dass er unschuldig war, fing er von sich aus an, Gott zu beschuldigen und Ihm Vorwürfe zu machen, dass Er ihm trotz seiner Unschuld so viel Leid antat.

  3. Dann kommt die dritte Theorie, die von Elihu. Ich muss das kurz zusammenfassen, weil wir sonst nicht verstehen, auf welche Weise der Herr daran anknüpft. Der Herr wiederholt nicht, was Elihu schon gesagt hat. Darum kann man gut sagen, dass der Herr eigentlich schon in Kapitel 32 anfängt zu reden, nämlich durch den Mund Elihus. Elihu verfällt nicht in den Fehler der Freunde Hiobs. Er beschuldigt Hiob nicht wegen allerlei verborgener Sünden. Er tut das nicht ein einziges Mal. Das war ja der große Fehler der anderen drei Freunde. Was Elihu sehr wohl tut, ist, Hiob ernsthafte Vorwürfe über das zu machen, was er gesagt hatte, was nicht zu leugnen war; das ist in diesem Buch nachzulesen. Die heftigen Vorwürfe, die Hiob in Gottes Richtung geschleudert hatte – diese wirft Elihu ihm vor die Füße. Er macht ihm klar, dass der Mensch so nicht über Gott reden darf. Indem er diese falsche Theorie ansticht, zeigt er, dass Leiden nicht automatisch Strafe für schreckliche Sünden bedeuten, sondern dass Gottes Wege viel tiefer gehen als diese vereinfachte Theorie.

Es kann allerlei Gründe für Leiden geben, Gründe vonseiten Gottes, die wir manchmal überhaupt nicht ergründen können, die jedoch – das macht Elihu klar – dieses Ziel haben, dass sie den Gläubigen dadurch erziehen. Gott spricht zu den Menschen durch Leiden – das sahen wir vor allen Dingen in Kapitel 33, auch sehr ausführlich in Kapitel 36. Jedes Leid läutert den Gläubigen. selbst wenn keine schweren Sünden da sind, hat der Gläubige dennoch immer die Läuterung nötig, um immer näher zum Herrn gebracht zu werden.

Wir werden das auch am Ende des Buches sehen, dass Hiob, obwohl er keine schweren Sünden auf seinem Gewissen hatte, dennoch weit vom Herrn entfernt war. Nicht im Sinne eines abgewichenen Gläubigen, sondern im Sinne eines Gläubigen, der den Herrn niemals wirklich tiefgründig kennengelernt hat. Leiden sind also nicht Strafe für schwere Sünden, sondern als ein Weg der Läuterung und Erprobung, um Hiob so nah zum Herrn zu bringen, wie es sonst nie passiert wäre. Das ist, was Elihu klarmacht. Gott kann Leid benutzen, um einen Menschen näher zu Ihm zu bringen, wie es sonst nicht geschehen wäre.

Es gibt andere Punkte in der Abhandlung Elihus, die wir gesehen haben, zum Beispiel Kapitel 34: Die Beschuldigung Hiobs, dass Gott ungerecht wäre, wird hier von Elihu widerlegt. Ich will aber nicht auf all diese Dinge wieder neu eingehen. Ich denke, dass ich hiermit die Kernpunkte dessen, was Elihu gesagt hat, aufgezeigt habe. Ich sage noch einmal, dass dadurch der Herr eigentlich schon zu Wort gekommen ist.

Gott stellt sich Hiob

Das Größte ist jedoch, dass Gott in Kapitel 38 selbst redet. Er knüpft bei Elihu an, und dadurch zeigt sich, dass Er ganz auf der Linie Elihus spricht. Es geht sozusagen eins ins andere über. Elihus Rede war schon die Rede Gottes. In Kapitel 37 sahen wir, dass ein Gewitter aufzuziehen scheint, an das Elihu anknüpft, um damit an das Herz und Gewissen Hiobs zu appellieren, so dass Hiob unter den Eindruck des Redens Gottes kommt, dem man in der Natur, durch Donner, zuhören kann. Direkt daran anschließend, finden wir dann in Kapitel 38,1: „Und der HERR antwortete Hiob aus dem Sturm.“ Diesen Sturm fanden wir schon in Kapitel 37, und er bringt den Herrn dazu, nun selbst das Wort zu ergreifen, im direkten Anschluss an das, was noch durch Elihu gesprochen worden war.

Der Herr tut damit das, was Hiob mehr als einmal gewollt hatte: Er hat den Mut gehabt, Gott zur Verantwortung zu rufen. Nun, hier ist der Herr, um das Wort an ihn zu richten. Einige Beispiele: In Hiob 10,2 sagte Hiob: „Ich will zu Gott sagen: Verdamme mich nicht! Lass mich wissen, worüber du mit mir rechtest.“ Er ruft Gott zur Verantwortung: Erkläre mir, warum du es auf mich abgesehen hast! Und in Hiob 23,4.5: „Ich würde meine Rechtssache vor ihm darlegen und meinen Mund mit Beweisgründen füllen. Ich würde die Worte wissen, die er mir antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde.“ Das heißt: Ich werde alle meine Argumente auf den Tisch legen und – wenn ich es mit meinen Worten sagen darf – dann will ich mal sehen, was der Herr mir darauf zu antworten hat! – Hiob ist so von seinem eigenen Recht überzeugt und von der Tauglichkeit seiner eigenen Argumente, dass er meint, wenn er sie einmal angebracht hat, Gott würde dadurch zum Schweigen gebracht. Was für eine hochmütige Sprache spricht daraus! Es ist wichtig, das zu verstehen, um sehen zu können, auf welche Weise der Herr direkt zu Hiob spricht. Ich nenne euch noch eine dritte Stelle aus Hiob 31,35: „O dass ich einen hätte, der auf mich hörte: Hier ist meine Unterschrift – der Allmächtige antworte mir! – und die Schrift, die mein Gegner geschrieben hat!“ Nun, hier antwortet der Allmächtige: „Und der Herr antwortete Hiob aus dem Sturm“ (Hiob 38,1).

Gott spricht im Sturm

Es ist nicht einfach nur so ein Sturm. Der Herr spricht zu jedem von uns auf seine eigene spezielle Weise. So wichtig, wie es hier war, dass der Herr aus dem Sturm zu ihm sprach, so wichtig war, dass, als Elia auf dem Horeb stand, Gott damals nicht im Sturm sprach. Im Sturmwind war der Herr dort nicht, im großen Feuer war Er nicht und im Erdbeben war Er auch nicht, sondern im leisen Säuseln. Warum? Weil Elia dort stand, nicht um Gott anzuklagen, sondern um das Volk anzuklagen. Wer das Volk Gottes anklagt, begeht eine ebenso ernste Übertretung. Er hätte gern gewollt, dass der Sturm, das Feuer und das Erdbeben sich gegen das Volk richteten. Der Herr kommt aber nicht im Sturm und Erdbeben, sondern im leisen Säuseln seiner Gnade und Barmherzigkeit. Das war genau das, was Elia nötig hatte.

Hier ist es eine ganz andere Situation. Hier ist ein Mensch, der sich erdreistet hat, den Herrn selbst anzuklagen. Auch das ist eine ernste Sünde. Dieser Mensch muss hier zu den kleinstmöglichen Proportionen zurückgebracht werden, damit er begreift, wer er diesem großen Gott gegenüber ist, gegen den er gewagt hatte, sozusagen die geballte Faust zu erheben. Gott spricht hier im Sturm, in dem Sturm, den Elia über das Volk herabrufen wollte, der aber nicht kam. Doch Hiob hat den Sturm über sich selbst herabgerufen und in diesem Sturmwind spricht der Herr zu ihm. Vielleicht verwundert es, was der Herr jetzt sagt. Aber alles, was der Herr sagt, lässt sich im Prinzip so zusammenfassen: Sieh, wie groß ich bin, Hiob, und wie klein du bist. Wer bist du, der du dich traust, mir gegenüber die Hand zu erheben?

Wie gesagt, man muss beachten, dass der Herr eigentlich durch den Mund Elihus schon länger redet. Der Herr hat etwas von seinem Handeln mit dem Menschen erläutert. Das ist ganz wichtig!

Warum redet Gott noch selbst?

Man könnte jetzt fragen: Warum muss der Herr dann doch noch selbst zu Wort kommen? Das ist genau die wichtige Frage, die in diesen Kapiteln beantwortet wird.

Ich habe soeben ganz bewusst über Theorien gesprochen, die Theorie der drei Freunde, die Theorie von Hiob und schließlich die von Elihu. Elihu gibt eine Erklärung, die wir nötig haben, die Erklärung über Gottes Weise zu handeln. Er verteidigt Gott vor den Argumenten von Hiob und seinen Freunden. Elihu setzt seine Argumente dagegen. Das ist gut, nützlich und wichtig. Damit ist aber noch nicht Schluss, denn Menschen werden nur wenig durch Argumente und Beweisführungen gewonnen.

In den letzten Kapiteln mischt Gott sich gerade nicht in die Debatte ein. Er widerlegt keine Argumente und gibt keine neuen. Er richtet sich nicht an den logischen Intellekt von Hiob, sondern an sein Herz und Gewissen. Das hat Elihu auch schon getan – ich will hier keinen Gegensatz bringen –, jedoch kommt dieser Akzent hier ganz besonders zum Vorschein. Hiob, weißt du wirklich, wer ich bin? sagt der Herr. Gleich werden wir die Reaktionen von Hiob darauf auch sehen. Er hat sehr gut verstanden, was der Herr in diesen Kapiteln zu ihm sagen will.

Kapitel 38

„Hiob, das Duell kann beginnen“

Es fängt so an: „Wer ist es, der den Rat verdunkelt mit Worten ohne Erkenntnis?“ (Hiob 38,2). Der Rat oder Ratschluss Gottes ist die tiefe Absicht Gottes mit dem Menschen und die Wege, die Gott geht, um seine Pläne auszuführen. Diese Wege sind für Gott alle hell und klar. Wir Menschen sind es, die darüber mit unseren Beweisführungen und Argumenten viel Dunkelheit verbreiten und alles eintrüben. Das hatten die Freunde Hiobs auch getan. Darüber spricht Gott jetzt aber nicht. Das kommt später, am Ende. Mit den drei Freunden hat der Herr noch „ein Hühnchen zu rupfen“. Hier ist es zunächst Hiob. Er hatte mit seinen Argumenten auch den Rat Gottes verdunkelt, falsch geredet über das, was Gott tut, was Gottes Absichten mit dem Menschen sind, auch im Leiden, denn Er hat auch noch Absichten mit dem Gläubigen.

Hiob hat Worte ohne Verstand geredet. Er hat wie ein Törichter geredet, wie ein Mann ohne Einsicht. „Gürte doch wie ein Mann deine Lenden“ (Hiob 38,3a) – sei ein Kerl, Hiob, mache dich fertig für den Kampf, gürte deine Lenden. Wir müssen gut verstehen, dass der Herr hier im Zorn redet und – wie wir manchmal sehen werden – mit beißendem Spott, um dieses kleine, kleine Menschenkind, das kleiner ist als ein Staubkorn auf der Waage oder wie ein Tropfen am Eimer (wie Jesaja sagt), an seinen Platz zu bringen. Sei ein Kerl, Hiob, stehe im Kampf gegen mich auf, „so will ich dich fragen, und du belehre mich“! (Hiob 38,3b). Hört ihr den Spott? Jetzt werde ich mal Fragen stellen, Hiob, und dann darfst du antworten. Du darfst es mir erklären, du darfst mich aufklären. Lass mich die Fragen stellen und erzähl mir dann mal, was du weißt.

Gottes Fragen über die leblose Natur

„Wo warst du, als ich die Erde gründete? Tu es kund, wenn du Einsicht besitzt!“ (Hiob 38,4). Das, was wir jetzt in all diesen Kapiteln finden, ist die Größe Gottes in der Schöpfung, damit das Geschöpf Hiob hier in Konfrontation mit seinem Schöpfer tritt. Wir können zu Gott und über Gott nie sprechen, als wäre Er ein Mitmensch, den wir zur Verantwortung rufen könnten. Das ist auch für uns immer noch wahr. selbst wenn wir durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus Kinder des Vaters geworden sind, bleibt Gott der Schöpfer und wir kleine Geschöpfe. Gott bleibt der Unendliche, wir bleiben endliche, beschränkte Geschöpfe. Das bleibt bis in Ewigkeit so. Die Kluft zwischen Ihm, dem Schöpfer, und uns, den Geschöpfen, wird nie überbrückt. Gläubige sind niemals familiär mit Gott. Der unendliche Abstand zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf bleibt bestehen. Hier steht der Schöpfer in der Kreide gegenüber dem nichtigen Geschöpf. Wo waren wir, als Gott die Grundfesten der Erde feststellte? Gott wird hier über sein ganzes Schöpfungswerk reden; in Kapitel 38 über die leblose Natur und in Kapitel 39 über die Tierwelt.

Wir können natürlich nur auf wenige Details eingehen und müssen uns auf die großen Linien beschränken. Man findet hier alle Teile der Schöpfung in den verschiedenen Aufteilungen beschrieben.

In Hiob 38,4-7 geht es um die Erde, um ihre Entstehung und ihr Fundament. Gott selbst hat die Erde ins Dasein gerufen, wie wir das aus 1. Mose 1 wissen. Er selbst hat das Fundament gelegt (Hiob 38,6), und Vers 7 fügt merkwürdigerweise hinzu: „… als die Morgensterne miteinander jubelten und alle Söhne Gottes jauchzten“ (Hiob 38,7). Aus Kapitel 1 und 2 wissen wir bereits, dass das die Engel sind, und parallel dazu können wir auch sagen, dass die Morgensterne hier ein Hinweis auf Engel, vielleicht auf Erzengel sein müssen. Wir haben in Jesaja 14 so einen Hinweis auf einen großen Morgenstern, und obwohl es dort um den König von Babel geht, übersteigt die Beschreibung die des Königs von Babel und wir sehen darin die Figur Satans selbst. Er war ein blinkender Morgenstern. Wir können unterstellen, dass er so ein Erzengel war, einer der vornehmsten Engel, eine große Engelmacht, die zu Fall gekommen ist, als er Gott gegenüber in Aufstand kam. Das jedoch nur am Rande.

In Vers 8-11 lesen wir über das zweite Gebiet der Schöpfung Gottes, über das Meer. Vers 8 und 9 beschreiben uns in herrlicher symbolischer Sprache die Geburt des Meeres aus dem Mutterschoß und – in Vers 9 – wie das Meer wie ein Kind in Windeln gewickelt und in Tücher gelegt wurde; Vers 10 und 11 beschreiben, wie Gott dem Meer Riegel und Schranken angelegt hat, so dass es seine Grenze nicht durchbricht und übertritt

Es gibt hier viele Wunder, bei denen wir Menschen oft nur wenig stillstehen:

  • Vers 12-15: Zum Beispiel das Wunder, dass es jeden Morgen wieder hell wird, dass Gott jeden Morgen – um ein Wort aus der Bergpredigt zu gebrauchen – seine Sonne wieder aufgehen lässt über Böse und Gute, das Wunder des Tagesanbruchs: „Hast du, seitdem du lebst, einem Morgen geboten? Hast du die Morgenröte ihre Stätte wissen lassen, dass sie erfasse die Säume der Erde und die Gottlosen von ihr verscheucht werden“ – so wie jemand nach dem Tischtuch greift, um es auszuschütteln, so dass die Krümel abfallen – so wie die Gottlosen, die nachts zum Vorschein kommen und sich am Morgen von ihren Untaten wieder zurückziehen. „Sie [die Erde] verwandelt sich wie Siegelton [Ton, in das ein Siegel gedrückt wird].“ Lehm, der erst formlos ist wie Erde, an der man im Dunkel keine Form unterscheiden kann. Aber dann, wenn der Morgen dämmert, erkennt man Formen, Linien und Schablonen, wie wenn man einen Stempel, einen Siegel in den Lehm drückt. Linien werden dann im Lehm sichtbar. „Alles steht da wie in einem Gewand; und den Gottlosen wird ihr Licht entzogen, und der erhobene Arm wird zerbrochen.“ Die Gottlosen ziehen sich sozusagen in ihre Höhlen zurück.

  • In Vers 16-18: Die Abgründe, die Brunnen der Tiefe, die Wassertiefe, ja sogar die Pforten des Todes, die Pforten der tiefen Finsternis – was weiß Hiob von alledem? Ist er dort hindurchgedrungen? Hat er Einsicht darin? Kennt er ihre Tiefen? Ist er wie Gott, der über allem steht und alle Tiefen kennt, die Er sogar selbst geschaffen hat?

  • Vers 19-21: Das Licht und die Finsternis. Beachte den beißenden Spott in Vers 21: „Du weißt es ja; denn damals wurdest du geboren, und die Zahl deiner Tage ist groß!“ Sarkastischer geht es nicht. Hier sagt Gott nicht: Du warst ja noch gar nicht geboren, sondern: Du warst doch schon geboren. Du bist doch so ein gewaltiger Kerl, Hiob! Du meinst dich doch mit mir messen zu können! Nun, dann kann ich wohl davon ausgehen, dass du damals auch schon da warst und das alles beobachtet hast; dass du so alt bist, dass du aus der Zeit vor Grundlegung der Erde, des Meeres und der Wasserquellen stammst.

Man sieht Hiob vor sich, wie er sich unter diesen Worten des allmächtigen Gottes, inmitten des Donnerns und Blitzens des Gewitters wegduckt; wie alle Worte, die er in all den Kapiteln mit erhobener Hand geredet hat, zu ihm zurückkehren, um sie wieder zu verschlucken, als ob er sie nie gesprochen hätte.

Gott ist mit ihm aber noch nicht fertig. In Vers 22-38 finden wir die vielen vielen Naturereignisse, die mit dem Wetter zu tun haben, mit Niederschlag, dem Regen, den Winden, dem Eis, dem Tau, den Reif, dem Hagel, der Sturmflut, dem Blitz, dem Ostwind. Wir lesen sogar in Vers 31 über das Siebengestirn und den Orion, wahrscheinlich, weil das Erscheinen des Siebengestirns und des Orion den Beginn und das Ende der Regenzeit markierten. selbst die Gestirne haben mit den Wetterphänomenen zu tun, dem Wechsel der Jahreszeiten. Hat Hiob das in der Hand? Ist es nicht ein Wunder, wenn wir im Frühjahr leben und wieder sehen, dass die Knospen treiben? Ist es nicht ein Wunder, dass Gott das alles in seiner Hand hat? Sind wir nicht kleine und nichtige Menschen innerhalb dieser gewaltigen Natur? Wer von uns hat noch nie die Größe der Natur empfunden?

Ich habe das sehr stark empfunden, als ich in Amerika im Gebiet des Grand Canyon war. Ein Gebiet von vielen Kilometern, in denen der Mensch als nichtiges Wesen inmitten der Größe der Natur steht, die ihn vollkommen überwältigt. Und dann sagt Gott: Das alles ist nur meine Schöpfung. Wenn du schon so in atemberaubender Bewunderung vor der Größe der Schöpfung steht, Menschenskind, wer bin ich dann wohl als Schöpfer dieser Schöpfung? Wenn du selbst schon so gering bist, verglichen mit meinen Wunderwerken, wer bin ich dann als dein Schöpfer?

Es geht hier in diesem Kapitel nicht einfach nur um die Größe der Schöpfung, sondern es geht um die Größe des Schöpfers. Wenn der Mensch angesichts all dieser Werke schon zu nichts wird, wenn der Mensch auf den Regen und die Sonne keinen Einfluss hat, auf Kälte und Wärme, auf den Wechsel der Jahreszeiten – wenn das alles ohne seinen Einfluss geschieht … Im Großen und Ganzen nehmen wir Menschen mit moderner Technik darauf ebenso wenig Einfluss. Wie wenig Macht haben wir doch, um auch nur etwas von diesen Dingen zu uns hinzuziehen. Wir sind immer noch genauso nichtig und klein dieser gewaltigen Schöpfung gegenüber. Hinter der Schöpfung, unendlich viel höher, thront die Größe und Majestät des Schöpfers.

Seht ihr, was Hiob meint, als er später sagt: „Mit dem Gehör des Ohres [= aus der Ferne] hatte ich von dir gehört“ (Hiob 42,5). Wenn ich gewusst hätte, wer Du wirklich bist, hätte ich die Hand auf meinen Mund gelegt, um zu verhindern, dass Worte hervorgekommen wären, wie ich sie ausgesprochen habe.

Kapitel 39 – Gottes Fragen über große Tiere

In Kapitel 39 spricht Gott über die Tierwelt. Zunächst über die Löwin (Hiob 38,39), dann über den Raben, den Steinbock, die Hirschkuh, den Wildesel, den Wildochsen, die Straußhenne, das Pferd, den Habicht und den Adler. Das sind die Tiere, die hier genannt werden. Und wenn man gut aufpasst, sieht man, dass es, abgesehen von dem Pferd, alles wilde Tiere sind und keine Tiere, die der Mensch gezähmt und gefügig gemacht hat. Die Ausnahme ist das Pferd. Das Pferd wird hier allerdings als Kriegsross vorgestellt. In diesem Sinn ist auch das Pferd wieder eine Bedrohung für den Menschen. Es sind alles wilde Tiere, die dem Menschen gar nicht nützlich sind. Zwar abgesehen von dem Pferd, aber selbst das ist eine Bedrohung für den Menschen. Zum großen Teil sind es Tiere, die schädlich sind und auf die der Mensch keinen Zugriff hat. Es sind Tiere, die eine Bedrohung darstellen und damit auch von den Größe der Schöpfung und der Größe des Schöpfers selbst zeugen. Das ist alles dazu da, um Hiob dieses eine klarzumachen: Hiob, wenn die Schöpfung so groß ist, wer muss ich dann wohl sein?

Ich war schon mal darüber erstaunt, dass Gott so ausführlich über die Schöpfung spricht. Warum hat Gott nicht über sich selbst gesprochen? Warum hat Gott nicht eine Übersicht, eine ausgebreitete Beschreibung all seiner Ihm eigenen großen Eigenschaften gegeben? Ich denke, dass ich die Antwort kenne. Was wissen wir von all diesen Eigenschaften Gottes – außer aus der Schrift, die Hiob jedoch noch nicht hatte? Wir kennen sie aus den Werken der Natur, die für Hiob sichtbar waren. Woher kennen wir Gottes Wesen und Eigenschaften, wenn nicht aus diesen beiden Quellen? Nur aus der Natur und der Schrift. Die Schrift hatte Hiob nicht, jedoch die Natur, von der wir in Psalm 19 („Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, und die Ausdehnung verkündet seiner Hände Werk“) und auch in Römer 1 lesen. Und speziell in Römer 1 redet sie von der ewigen Kraft und Göttlichkeit. Wie hätte Gott Hiob sonst deutlich machen sollen, wer Er ist, als gerade durch die Werke der Natur, in denen man Gottes Fußstapfen und seinen Fingerabdruck erkennt? Die Größe der Natur verweist auf die noch unendlich viel größere Herrlichkeit des Schöpfers selbst. Deswegen liegt es auf der Hand, dass Gott nicht über das redet, was Hiob nicht sehen konnte – er konnte Gott ja nicht direkt sehen – sondern über das, was Hiob doch sehen konnte und von dem er täglich umringt war als Mensch, der noch viel näher an der Natur lebte als wir heute. Gott konfrontiert Hiob geradewegs mit dem, was er sehen konnte. Und wenn das, was er sehen konnte, schon so unendlich viel größer war, als er selbst, Dinge, über die er keinerlei Macht ausüben konnte, die ihn weit überstiegen – sollte Hiob dann nicht verstehen, dass sich dahinter der verbarg, der selbst viel größer ist als all die Werke seiner Hände?

Kapitel 40

Hiobs erste Reaktion

Beachte nun den Beginn von Kapitel 40. Es ist wichtig, dass wir hier zweierlei Reaktion von Hiob haben. Zunächst zu Beginn von Kapitel 40 und dann zu Beginn von Kapitel 40. Es ist ganz wichtig, diese beiden miteinander zu vergleichen. Oberflächlich gesehen, könnte man denken: Wieso hört es hier nicht auf? Hiob zeigt hier doch eine Erkenntnis und kommt mit einem Bekenntnis. War das nicht ausreichend? Wieso macht der Herr in Kapitel 40 unverdrossen weiter? Nun, wenn man sich das Bekenntnis richtig ansieht und vor allen Dingen mit dem aus Kapitel 42 vergleicht, sieht man, dass Hiob in diesen Versen noch lange nicht da ist, wo er sein soll. Deswegen macht der Herr weiter. Natürlich war bei Hiob etwas geschehen, etwas ganz Wichtiges. Aber es war noch nicht das, was es sein sollte.

Gott sagt in Vers 2: „Will der Tadler [der Besserwisser, der Naseweis, der eigensinnige Hiob] mit dem Allmächtigen rechten? Der da Gott zurechtweist, antworte darauf!“ Nun, das war, was Hiob wollte. Er wollte mit Gott streiten – mehr oder weniger als gleichwertiger Gegner. In Hiob 13,22 sagt er: „So rufe denn, und ich will antworten, oder ich will reden, und erwidere mir!“ So kann man mit Gott aber nicht reden. Als ob man Ihn zur Verantwortung ziehen könnte und Ihn verpflichten könnte, auf seine Anklagen einzugehen und Rechenschaft abzulegen, warum Er so und nicht so handelt. Der Ankläger und Beschuldiger Gottes soll antworten.

Und dann antwortet Hiob: „Siehe, zu gering bin ich, was soll ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, und ich will nicht mehr antworten, und zweimal, und ich will es nicht mehr tun“ (Hiob 40,4.5). Ist das nicht schön, was Hiob sagt? Ja, das ist sehr schön. Aber es ist noch lange nicht genug. Warum nicht? Hiob spricht hier über seine eigene Kleinheit. Ich bin zu gering und deswegen kann ich besser nichts sagen. Jedoch spricht er später in Kapitel 42 über Gottes Größe. Das ist der Schritt nach vorn – hier Hiobs Kleinheit, später aber Gottes Größe. Das geht einen Schritt weiter.

Es gibt noch einen weiteren Unterschied. Hiob sagt hier: Ich habe falsche Dinge getan und mache damit jetzt nicht weiter. – Das ist nicht genug. Wenn ein Vater seinem Sohn bestimmte Dinge vorhält, dann ist es nicht genug, wenn der Junge sagt: Ich werde es nicht wieder tun. – Das ist zwar schön, dass er das sagt und vor allen Dingen, wenn er es auch tut, jedoch ist das nicht ausreichend. Es reicht nicht aus, zu sagen: Ich werde es nicht wieder tun. Was nötig ist, ist das, was du getan hast, auch zu verurteilen. Wenn du sagst: Ich werde es nicht wieder tun, dann hebt es das, was du getan hast, noch nicht auf. Das muss verurteilt werden. Und das tut Hiob in Kapitel 42, wenn er sagt: Ich widerrufe das, was ich gesagt habe. Nicht nur: Ich habe geredet und will es nicht wieder tun, sondern: Ich widerrufe „und bereue in Staub und Asche“ (Hiob 42,6).

Und das ist der dritte Unterschied. Dort spricht Hiob über Buße. Ob man das im Sinne der „Statenvertaling“ sieht: Ich verabscheue mich selbst, oder im Sinne der neuen Übersetzung: Ich tue Buße, das heißt, ich bereue das, was ich getan habe zutiefst: So oder so, man sieht, dass Hiob endlich da ist, wo er sein muss.

Hier in Kapitel 40 ist Hiob noch nicht wirklich zerbrochen. Wir kennen das von Menschen, die einen sündigen Weg gegangen sind. Sie werden darauf angesprochen und erkennen das. Erkenntnis ist jedoch noch keine Reue. Man kann erkennen, dass man etwas falsch gemacht hat, so wie zahllose Menschen in dieser Welt bereit sind, zu erkennen, dass sie Sünder sind oder zumindest erkennen, dass sie manchmal sündige Dinge tun. Das ist aber noch keine Reue. Kein Mensch kommt in den Himmel, weil er erkannt hat, dass er sündige Dinge getan hat. Denn dann würde fast jeder in den Himmel kommen. Reue ist etwas anderes: sich selbst für das zu verabscheuen, was man getan hat. Reue ist das, was David in Psalm 51 sagt, als der Herr ihn durch Nathan auf seine ernste Sünde mit Bathseba angesprochen hat: „Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.“ Oder wie der Herr es selbst in Jesaja sagt, dass Er bei einem zerbrochenen und gebeugten Geist wohnt. Darum geht es. Hier ist Hiob noch nicht zerbrochen. Er erkennt seine Fehltritte, jedoch gibt es noch keine Reue, keine Selbstverurteilung und keine Zerbrochenheit. Deswegen macht der Herr weiter. Es sieht so aus, als denke der Herr, dass alles nichts gebracht hat und Er daher von vorn anfangen muss.

Hiob oder Gott: Wer hat recht?

So fängt Kapitel 40 ja an: „Und der HERR antwortete Hiob und sprach …“ (Hiob 40,1). Kapitel 38 fängt genauso an. Es ist, als ob der Herr sagt: Ich muss noch einmal von vorn anfangen. Deswegen bringt der Herr auch keine neuen Argumente. Es ist eine Vertiefung und Verstärkung der vorigen Argumente. Es fängt noch einmal genauso an: „Gürte doch wie ein Mann deine Lenden; ich will dich fragen, und du belehre mich!“ (Hiob 38,3; 40,7).

Beachte dann vor allen Dingen den wichtigen achten Vers, der ausgezeichnet wiedergibt, was der Kern des ganzen Vorwurfs ist, den der Herr Hiob gegenüber ausspricht: „Willst du etwa mein Recht zunichtemachen, mich verurteilen, damit du gerecht seiest?“ (Hiob 40,8). Gott ist im Recht, Gott ist gerecht. Der Gläubige weiß und erkennt, dass Gott recht handelt und gerecht ist in all seinen Worten und all seinen Taten. Wer ist der Mensch, dass er zu Gott sagt: Du handelst ungerecht?, und dass er Gottes Recht Gewalt antut und sein Recht zu Unrecht zu erklären? Wer ist der Mensch, der zu Gott zu sagen wagt: Du hast unrecht und ich habe recht? Das war das, was Hiob getan hat. Seht ihr, hier gebraucht Gott stärkere Ausdrücke. Er sagt sozusagen: Du hast mich zu einem Angeklagten, zu einem Beklagten gemacht und hast dich selbst auf den Thron gesetzt, Hiob, um mich zu beschuldigen und sogar zu verurteilen. Nun, wenn du also meinst, so ein Richter sein zu können, dass du dich sogar getraust, dich über mich zu erheben, zeig dann, was du als Richter vorzuweisen hast. – Seht, wie dies in Vers 9 umschrieben wird: „Oder hast du einen Arm wie Gott, und kannst du donnern mit einer Stimme wie er?“ (Hiob 40,9). Hiob, hast du dieselbe Macht wie Gott, dass du nicht nur Recht sprechen kannst, sondern auch die Macht hast, um das Recht zu erzwingen?

Wenn ein Richter in unserem Land Recht spricht, dann geht es in der Tat um Recht gegenüber Unrecht. Er fällt ein gerechtes Urteil. Wenn das Recht jedoch nicht mit Macht gepaart wäre, hätte die Rechtsprechung überhaupt keinen Sinn. Wenn hinter dem Richter nicht die Macht stünde, die Macht der Polizei, die Macht des Militärs und die Macht der Regierung, könnte zwar Recht gesprochen werden, der Missetäter würde jedoch immer noch frei ausgehen, weil keine Macht da wäre, die das Recht auch geltend machen würde. Er kann zwar sagen: Ich verurteile dich zum Tod. Wenn jedoch keine Macht da ist, diese Person zu Tode zu bringen, hat das Recht seine Bedeutung verloren.

Wenn Hiob sich nun als Richter über Gott erhebt, dann soll Hiob auch die Macht zeigen, die er hat, um das Recht zur Geltung zu bringen. Wenn Hiob meint, feststellen zu können, ob Gott gerecht handelt oder nicht, wo ist dann die Macht Hiobs? Er hat nicht einmal die Macht, um die Gottlosen niederzustrecken. „Schmücke dich doch mit Erhabenheit und Hoheit, und kleide dich in Pracht und Majestät! Gieße die Ausbrüche deines Zorns aus, und sieh alles Stolze an und erniedrige es! Sieh alles Stolze an, beuge es, und reiße die Gottlosen nieder auf ihrer Stelle!“ (Hiob 40,10-12). Sprich Recht, Hiob! Zeige die Macht, die du hast, um die Gottlosen niederzureißen. Hier steht der Gedanke dahinter: Hiob, diese Macht hast du überhaupt nicht. Du hast nicht einmal die Macht, um Recht über Gottlose zu sprechen und sie niederzureißen. Was maßt du dich an, Recht über mich zu sprechen und über mich das Urteil zu fällen, als wäre ich ungerecht?

Gott spricht hier in Vers 14 auch wieder mit demselben harten Spott: Wenn du das alles kannst, Hiob, werde auch ich dich loben, weil deine rechte Hand dir den Segen, den Sieg, den Triumph bringt. Es gibt aber nichts zu loben, weil Hiob diesen Triumph nicht hat. Er hat weder das Recht noch die Macht, dies zu tun.

Gottes Fragen über zwei Ungeheuer

In der Beschreibung, die jetzt folgt, finden wir wieder dasselbe Argument, nämlich die Größe der Schöpfungswerke Gottes. Die allgemeine Beschreibung hat noch nicht genug geholfen, deshalb beschränkt sich Gott in seiner weiteren Abhandlung auf lediglich zwei Schöpfungswerke, die auch nicht die erstbesten sind. Und um das zu verstehen, muss man vergessen, dass in Vers 15 in der [niederländischen] NBG-Übersetzung das Nilpferd und in Vers 25 das Krokodil steht. Im Hebräischen steht das nämlich gar nicht da. Die Worte, die dort stehen, sind kaum zu übersetzen. Deswegen steht in der [niederländischen] „Statenvertaling“ einfach das hebräische Wort Behemot und in Vers 25 das Wort Leviatan. Aus der Beschreibung wird auch schnell klar, dass es hier nicht um das Nilpferd gehen kann. Die Beschreibung in Vers 17, dass er seinen Schwanz wie eine Zeder biegt – der große Schwanz, der hier mit der Macht und Größe einer Zeder verglichen wird –, macht schon klar, dass hier unmöglich über ein Nilpferd gesprochen werden kann. Genauso sieht es mit der Beschreibung des Krokodils aus. Hier geht es um viel, viel beeindruckendere Geschöpfe Gottes, vor allem, wenn man bedenkt, dass in Vers 19 vom Behemot steht, dass er das erste der Geschöpfe Gottes ist. Nicht das erste in zeitlicher Folge, sondern in der Rangfolge, also das vornehmste, mächtigste und beeindruckendste der Werke Gottes.

Woran müssen wir hier nun denken? Man hat zum einen an Tiere gedacht, die wir heute noch kennen, zum anderen an mythologische Tiere – allerdings können Tiere aus alten Zeiten kaum Eindruck auf Hiob gemacht haben –, oder man kann an Tiere denken, die in unserer Zeit nicht mehr leben, die aber zur Zeit Hiobs sehr wohl gelebt haben oder an die sich die Menschen seiner Zeit noch erinnern konnten. Dabei denke ich an die Tatsache, dass in vielen Überlieferungen der Menschen zum Beispiel von Drachen gesprochen wird, die wir – um mit dem wissenschaftlichen Ausdruck zu sprechen – als Dinosaurier kennen. An anderen Stellen habe ich versucht, klarzumachen – deshalb will ich das hier nicht ausweiten –, dass es sehr gut möglich ist, dass diese Tiere in der Zeit Hiobs gelebt haben, in dieser Zeit unmittelbar nach der Sintflut, weshalb sie ausgestorben sind und warum sie gerade in diesen Landstrichen noch vorkommen konnten, speziell im Jordantal (Hiob 40,23).

Der Grund, warum ich das hier erwähne, ist lediglich, dass nur so die Darlegung erst richtig verständlich wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand vom Nilpferd oder Krokodil so beeindruckt sein kann, dass sie ihn, wie Hiob, zu diesem Bekenntnis bringen. Es geht hier um die allergrößten, die höchst beeindruckendsten Geschöpfe, die Gott auf diesem Erdboden je geschaffen hat, Tiere, vor denen Elefant und Nilpferd vollständig verblassen. Ich nenne den Elefanten, weil die Anmerkungen der [niederländischen] Statenvertaling vermuten, dass der Behemot der Elefant sein könnte. Die größten Dinosaurier, die je auf der Erde gelebt haben, waren Tiere von einer Länge bis zu 30 Metern und hoch wie ein Haus. Manche, wie der Behemot, waren unschuldige Pflanzenfresser, andere waren grausige Fleischfresser. Manche waren Landtiere und manche, wie der Leviatan, waren große Meereseidechsen, Meeresschlangen oder Meeresdinosaurier – gigantische Monster. Die Erde hat nie mehr furchteinflößendere Tiere gekannt als diese großen Tiere. Es ist, als ob Gott hier sagen will: Hiob, versuche dich hineinzudenken (wir wissen natürlich nicht, ob die Tiere damals noch gelebt haben; sie waren jedoch damals in der Erinnerung der Menschen noch so gut bekannt, dass Gott über diese Tiere reden konnte), Auge in Auge mit so einem gigantischen Monster zu stehen: Monster, die 12 Meter hoch sind; Monster mit einem Kiefer von bis zu anderthalb Metern; Monster, denen gegenüber der Mensch vollständig im Nichts verschwindet; Monster, die einen Menschen zu einem kleinen, nichtigen Beutetierchen werden lassen gegenüber ihrer gewaltigen Größe.

Hier sehen wir, wie Gott sozusagen die kräftigsten Argumente, die die Natur je gezeigt hat, für Hiob gebraucht. Noch einmal sage ich zur Verdeutlichung: Es sind nicht die Argumente, die Gott heute für dich oder mich gebrauchen würde. Wenn Gott uns heute von seiner Größe beeindrucken möchte, weist Er nicht auf die Tiere in der Natur hin. Er hat ein viel kräftigeres Mittel, nämlich das Wort Gottes von Anfang bis Ende. Es gibt uns ein viel deutlicheres und sogar beeindruckenderes Bild der Größe Gottes in der Geschichte als die Natur. In den Tagen Hiobs standen jedoch keine anderen Mittel zur Verfügung. Doch sogar die Schilderung der Natur ist beeindruckend genug, um den Menschen zur Erkenntnis der Größe Gottes zu bringen. Angesichts dieser gigantischen Monster, dieser Drachen des Altertums, die in den Propheten noch genannt werden – ich denke dabei an das Monster Rahab und den Leviatan, der vor allen Dingen auch noch in Jesaja genannt wird –, wird der Mensch zu nichts. Der Mensch würde nie erwägen, auf solch ein Tier einzuschlagen, mit solch einem Tier zu diskutieren, dieses Tier zur Verantwortung zu rufen; der Mensch würde nur wegrennen, sich verstecken, um außerhalb des Bereichs dieser Tiere zu kommen.

Das sind die Argumente, die einschlagen. Man kann wunderbar theoretische Geschichten über die Größe Gottes erzählen. Und es kann gut sein, dass ein Mensch davon nichts versteht und ihn davon nichts erreicht. Es sind dann nur verschwommene Geräusche, weil wir Gott auch niemals mit unseren Augen gesehen haben. Aber jeder von uns weiß sofort, was es bedeutet, und kann es sich lebendig vorstellen, Auge in Auge mit so einem Monster zu stehen (wenngleich wir diese Tiere noch nie gesehen haben).

Seht ihr, wie Gott die Argumente, die Ihm Hiob gegenüber zur Verfügung standen (während die Schrift noch nicht oder kaum existierte), in höchstem Maße ausnutzt, um schlussendlich damit auf seine eigene Größe hinzuweisen? Dabei möchte ich vor allen Dingen auf die ersten Verse aus Kapitel 41 hinweisen, wo man ganz deutlich sehen kann, wie Gott die Beschreibung dieser Tiere gebraucht: „Niemand ist so kühn, dass er ihn [den Leviatan] aufreize“ (Hiob 41,2a). Ich denke hier gern an Mosasaurus, einen großen Dinosaurier von 15 bis 18 Metern Länge, in den Meeren schwimmend, ein großer Fleischfresser, ein Monster. Niemand traut sich, so ein Tier zu reizen. „Und wer ist es, der sich vor mein Angesicht stellen dürfte?“ (Hiob 41,2b). Wer würde mir entgegentreten, den ich unbekümmert lassen würde? Gott stellt das ganz plastisch vor Augen. Stell dir vor: Auge in Auge mit so einem Monster. Du würdest dir das nie einfallen lassen. Wenn das Monster reden und zuhören könnte, und du würdest die Worte aussprechen, die du mir gegenüber ausgesprochen hast, Hiob! Wie hast du es dir einfallen lassen können, Hiob, solche Worte zu dem allmächtigen Schöpfer zu reden, der unendlich viel erhabener ist als diese Tiere?

Du fragst vielleicht: Ist Gott denn ein Monster? Hiob hat es auf sich selbst bezogen: Bin ich ein Monster, Gott, dass du es so auf mich abgesehen hast?

Gott ist kein Monster. Er hat nicht reagiert, wie diese Tiere es getan hätten. Gott hat in Hiob nicht ein Beutetier gesehen, an dem Er seine Wut stillen konnte, den Er mit dem Hauch seines Mundes hätte verzehren können und den Er in einem Schlag von dem Erdboden hätte verschwinden lassen können. Gott ist groß, unendlich viel größer als diese Tiere. Gott ist aber auch ein Gott der Liebe und gerade sein Reden, seine Argumentation, seine Darlegungen Hiob gegenüber, sind ein Beweis seiner Liebe. Er weist auf seine Größe hin, um Hiob auf seine Kleinheit hinzuweisen. Allerdings ist der Hinweis Gottes auf sich selbst ein Beweis seiner grenzenlosen Liebe und Barmherzigkeit gegenüber seinem geliebten Knecht Hiob.

Kapitel 42

Hiob: zerbrochen und zerschlagen

Das bringt Hiob dazu, schließlich in Kapitel 42 die Worte zu sprechen, auf die ich schon eingegangen bin, die erst da wirklich auf den zerbrochenen Geist hinweisen, bei dem Gott wohnen will, wie Jesaja sagt. Gott wohnt bei dem zerbrochenen und gebeugten Geist.

In 1. Korinther 1,29 lesen wir: „… damit sich vor Gott kein Fleisch rühme.“ Wenn ein Mensch tatsächlich einmal in die Gegenwart Gottes gekommen ist, Auge in Auge mit Gott steht, wie es von Hiob hier geschildert wird („… nun hat mein Auge dich gesehen“; Hiob 42,5), dann hat der Mensch nichts mehr zu bringen als seine eigene Geringheit und Sündigkeit. Vor Gottes Angesicht wird sich kein Fleisch rühmen können. Vor Gottes Angesicht wurde David vollständig durch die Worte Nathans zerbrochen. Vor Gottes Angesicht wurde Hiob vollständig zerbrochen. Vor dem Angesicht von Jesus Christus wurde Saulus von Tarsus vollständig zerbrochen. Sie hatten von Gott gehört. Als sie jedoch Auge in Auge mit Ihm standen, waren sie nirgends mehr.

Hier spricht Hiob: „Ich weiß, dass du alles vermagst und kein Vorhaben dir verwehrt werden kann“ (Hiob 42,2). Gott hatte ihm vorgeworfen, dass er den Rat Gottes verdunkelt und eingetrübt hatte. Nun weiß Hiob, dass Gottes Rat erfüllt wird, ungeachtet all seiner Vorwürfe und Proteste. Er zitiert Gott, knüpft direkt an das Wort Gottes an: „Wer ist es, der den Rat verhüllt ohne Erkenntnis?“ (Hiob 42,3), hatte der Herr gefragt (Hiob 38,2). Nun, Hiob wiederholt die Frage und gibt Antwort: Ich war es! – Das ist ein Bekenntnis. Ich habe gesündigt, sagt David. Ich war es, der den Rat verdunkelte, sagt Hiob. „So habe ich denn beurteilt, was ich nicht verstand, Dinge, zu wunderbar für mich, die ich nicht kannte“ (Hiob 42,3).

Danach zitiert er das zweite Wort des Herrn, das der Herr in Hiob 38 und 41 wiederholt ausgesprochen hat: „Höre doch, und ich will reden; ich will dich fragen, und du belehre mich!“ (Hiob 42,4; vgl. Hiob 38,2b; 40,7b). Gott hatte zu ihm gesagt: Jetzt werde ich dir Fragen stellen und dann kläre du mich auf, wenn du dazu in der Lage bist. Diese Fragen haben Hiob jetzt auf die Knie gebracht. Er hat nichts mehr zu sagen. Er hatte in Kapitel 39 schon gesagt: Ich lege die Hand auf meinen Mund.

Jetzt macht er weiter: „Mit dem Gehör des Ohres [vom Hörensagen] hatte ich von dir gehört“ (Hiob 42,5). Wie viele Christen gibt es – ich rede nicht von Ungläubigen –, die einer christlichen Familie groß geworden sind, die viele Male den Klang des Wortes Gottes gehört haben und die kaum wissen, was es heißt, eine persönliche Beziehung mit dem Allmächtigen und mit dem Herrn Jesus Christus zu haben. Sie sind seine Knechte, sie leben in vieler Hinsicht nach seinem Wohlgefallen, wie Gott es im Anfang des Buches über Hiob gesagt hat: fromm, gottesfürchtig, vom Bösen weichend – und doch muss derselbe Hiob sagen: Ich kannte Gott nicht wirklich. Elihu hat gesagt, dass das der Grund für das Leiden des Menschen ist: Der Mensch lernt im Leiden Gott auf eine Weise kennen, wie er Ihn sonst nie kennengelernt hätte.

„Mit dem Gehör des Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen.“ In Kapitel 29 hatte er davon geredet, wie die Augen des Menschen ihn ansahen. Dort spricht Hiob noch von seiner früheren Größe. Nun spricht Hiob in seiner Kleinheit über die Größe Gottes. Mein Auge hat dich gesehen. Das ist möglich. Klar, in gewissem Sinn kann ein Mensch Gott niemals sehen und am Leben bleiben, sagt die Schrift. Die Tiefe des Wesens Gottes werden wir nie ergründen können, denn dann müssten wir selbst Gott werden. Aber im anderen, im moralischen Sinn darf der Gläubige hier auf der Erde Gott kennenlernen – nicht erst später im Himmel, wie es in den Seligpreisungen in der Bergpredigt steht: Sie werden Gott sehen. Wir dürfen, wie es 2. Korinther 4 so schön neutestamentlich ausdrückt, den Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit Gottes anschauen, dort, wo er nur anzuschauen ist, nämlich im Angesicht von Jesus Christus. Gläubige, die den Herrn wirklich kennen, haben nicht nur von Ihm gehört, sondern haben die Herrlichkeit Gottes im Angesicht von Jesus Christus angeschaut. Das bedeutet, Ihn, seine Herrlichkeit mit dem Auge gesehen zu haben; nicht länger nur in der Natur: Gott kann uns gegenüber durch die Schrift viel stärkere Argumente gebrauchen. Und drittens, möchte ich hinzufügen, wird die Herrlichkeit Gottes jetzt in dem Angesicht von Christus gesehen.

Was ist der Mensch, der diesen Lichtglanz von Gottes Herrlichkeit ansieht? Was ist der Mensch in sich selbst? Das, was Saulus von Tarsus drei Tage war, nämlich total zerbrochen in Finsternis, in einem Zimmer in Damaskus. Das, was David war, als Nathan zu ihm sagte: Du bist der Mann, und David dann seine Kleider zerriss und ein total zerbrochener Mensch angesichts der Größe, der Majestät und der Heiligkeit Gottes war.

„Nun hat mein Auge dich gesehen.“ Daher widerrufe ich. Ich bekenne meine Sünden. Ich bereue sie in Staub und Asche. Hiob saß schon lange in Staub und Asche; von Beginn dieses Buches an, seit seinem Elend. Darüber spricht er hier aber nicht. In diesem Staub und in dieser Asche hatte er noch nie gesessen: im Staub und der Asche des Selbstgerichts. Dahin muss ein Mensch kommen, um Demut zu lernen. Eine der aller allergrößten christlichen Tugenden ist Demut. Und Demut lernt man nur auf dem Weg der Demütigung. Der Herr Jesus brauchte Demut über diesen Weg nicht zu lernen. Er war vollkommen demütig. Er war sanftmütig und von Herzen demütig. Er brauchte sich nie zu demütigen, wie wir das müssen. Er kannte die Sünde nicht. Wir lernen Demut über den Weg der Demütigung. Und wenn du diesen Weg Hiobs gegangen bist, kommst du vielleicht dann auch noch da an, wo Abraham in 1. Mose 18 schon lange war, wenn er dort nicht nur sagt: Ich bereue in Staub und Asche, sondern: Ich bin Staub und Asche. Wenn Hiob zu Gott kommt – jedoch nicht, um Vorwürfe zu machen, sondern um zu beten –, dann sagt er: Ich habe mich erkühnt, zu dem Herrn zu reden, und ich bin Staub und Asche. Wenn man das wirklich ernst meint und das echt empfunden hat, wenn man Auge in Auge mit der Größe Gottes gestanden hat, entlang des Weges der Demütigung, dann kommt man zu dieser Demut. Demütigung ist: Ich verabscheue mich in Staub und Asche. Und die Demut Abrahams, die darauf folgt ist: Ich bin Staub und Asche. Das lernt man nicht durch Bibellesen – das klingt vielleicht eigenartig. Hiob war ein Gläubiger, jedoch waren 42 Kapitel nötig, um ihn dies zu lehren. Das lernt man nur in der Praxis. Deswegen sagt der Herr Jesus: Lernt von mir. Nehmt mein Joch auf und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Man muss es lernen.

Wir haben nicht alle dieselbe Erfahrung wie Hiob nötig. Wir haben nicht alle einen Weg mit vielen schweren Prüfungen nötig, um das zu lernen. Dennoch müssen wir es alle lernen, jeder auf seine Weise, weil Gott mit jedem von uns seinen eigenen Weg geht. Und ich wiederhole: Eine der größten und schwierigsten Tugenden für einen Christen ist Demut. Deswegen beginnen die Seligpreisungen damit: Selig sind die Armen im Geist. Damit sind nicht Schwachsinnige gemeint. Die Armen im Geist sind Leute mit einem zerbrochenen und zerschlagenen Geist: die Demütigen. Ihnen gehört das Reich der Himmel. Die Gedemütigten lernen Demut in der Nachfolge des Herrn Jesus Christus.

Die Vergebung Gottes

Nun ist Folgendes schön: Wenn Hiob diesen Punkt erreicht hat, wird das, was Jahrhunderte später in 1. Johannes 1,9 aufgeschrieben wurde, sofort bewiesen: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt.“ Dann wird ein Strich unter all den Unglauben und die Sündigkeit Hiobs gezogen, die in diesem Buch zum Vorschein kam; alles ist weggetan. Das zeigt sich in den folgenden Versen. Wenn der Herr mit Hiob fertig ist, steht da: „Mein Zorn ist entbrannt gegen dich und gegen deine beiden Freunde; denn nicht geziemend habt ihr von mir geredet wie mein Knecht Hiob“ (Hiob 42,7). Nun, Hiob hatte doch auch nicht geziemend über den Herrn gesprochen? Nein, das ist wahr. Aber wenn du das erwähnst, bist du im Irrtum, denn an diesem Punkt kannst du das nicht mehr erwähnen. Ab Vers 6 ist das vergeben und vergessen. Du darfst es nicht einmal mehr erwähnen. Der Herr erwähnt das nicht mehr. Für den Herrn bleibt nach dem Sündenbekenntnis und der tiefen Reue von Hiob und der Vergebung, die darauf gefolgt ist, nur noch das Gute übrig, das Hiob von dem Herrn geredet hat. Und das gab es. Er hatte ja zu Beginn gesagt: Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen. Er hatte große Dinge von Gott geredet. Das bleibt übrig. Nicht die verkehrten Dinge. Die waren durchgestrichen. Ist das nicht schön? Wir treten noch so gern nach, auch wenn wir schon vergeben haben. Gott weiß wirklich, was vergeben und vergessen ist.

Vergebung für die drei Freunde

Wenn Gott hier mit Hiob fertig ist, kommen noch die Freunde an die Reihe. Er sagt zu den Freunden: Ihr habt nicht geziemend von mir geredet. Sie hatten mit ihren komischen Theorien über Gottes Regierungswege sehr befremdliche Gedanken über Gott selbst. Diese Gedanken müssen bekannt und ausgerottet werden. Und Hiob ist nun wieder so ganz sein Knecht – wie es hier viermal steht (Hiob 42,7.8) –, dass Gott nur bereit ist, den drei Freunden zu vergeben, wenn Hiob Fürbitte tut. Vielleicht sagen wir wieder – wir sind ja so hartnäckige Beurteiler anderer –, dass Hiob überhaupt nicht besser von Gott geredet hat als die drei Freunde. Und ich hab ja auch gesagt, dass sie im Wesentlichen dieselben Theorien über Gott hatten. Dennoch gab es einen großen Unterschied: Hiob litt; Hiob war in den schrecklichsten Prüfungen. Was ein Mensch in solch einer Situation durch die Unruhe seines Herzens sagt, kann man nicht einfach auf dieselbe Schiene bringen wie das, was die drei Freunde erzählt haben, die selbst gar nicht litten, die (nachdem was wir wissen) nichts von diesem Leiden aus eigener Erfahrung kannten, die dann allerdings als Tröster kommen und so über Gott reden und darüber hinaus seinen Knecht Hiob schwer beschuldigen. Das macht einen großen Unterschied. Die Äußerungen des einen sind nicht dieselben wie die des anderen. Die Äußerungen des einen sind abhängig von der Verantwortung und den Umständen, in denen er sich befindet. Deswegen waren die drei Freunde deutlich schlechter dran. Sie konnten nur Vergebung aufgrund der Fürbitte Hiobs empfangen: sieben Rinder und sieben Widder, eigentlich ein gewaltiges Opfer. Es musste als Brandopfer gebracht werden, um für die Sünde zu büßen. Von Sündopfern ist hier noch nicht die Rede, vermutlich weil sich dies alles noch vor der Gesetzgebung auf dem Sinai abspielte. Vor dem Sinai finden wir im ersten Buch Mose auch nur Brandopfer erwähnt. Von Sündopfern ist noch nicht die Rede. Hiob hat dieses Brandopfer gebracht und Gott hat Hiob angenommen (Hiob 42,9b). Aufgrund dessen haben dann die Freunde Vergebung empfangen.

Gott segnet souverän

Schließlich endet das Buch mit sehr glücklichen Worten über Hiob: „Und der HERR wendete die Gefangenschaft Hiobs, als er für seine Freunde betete; und der HERR mehrte alles, was Hiob gehabt hatte, um das Doppelte. Und alle seine Brüder und alle seine Schwestern und alle seine früheren Bekannten kamen zu ihm; und sie aßen mit ihm in seinem Haus“ (Hiob 42,10.11). Man ist fast geneigt zu denken: Hättet ihr das mal eher getan. In Kapitel 3 und 4 wäre das nötiger gewesen.

Nun ja, andere Menschen handeln auch nicht anders als wir. Wir sind schlechte Tröster. Wenn jemand schwer leidet, haben wir Angst, zu ihm zu gehen, weil wir nicht wissen, was wir sagen sollen. Menschen, die sich in so einem Leid befanden, besonders auch solche, die mit Todesfällen zu tun hatten, haben oft darüber geklagt, dass sie gemieden werden. Die Menschen wissen nicht, was sie sagen sollen. Und wenn das Leid zu Ende ist, strömen sie alle herbei und sagen, wie schlimm das doch war und dass sie froh sind, dass alles wieder vorbei ist. Dann ist es nicht mehr schwierig. Hier sind sie auf einmal alle da, seine Verwandten und die früheren Bekannten. „Sie bezeugten ihm ihr Beileid und trösteten ihn wegen all des Unglücks, das der HERR über ihn gebracht hatte; und sie gaben ihm jeder eine Kesita und jeder einen goldenen Ring. Und der HERR segnete das Ende Hiobs mehr als seinen Anfang; und er bekam 14000 Stück Kleinvieh und 6000 Kamele und 1000 Joch Rinder und 1000 Eselinnen“ (Hiob 42,11.12).

Wenn man das mit dem Anfang des Buches vergleicht, sieht man, dass er das Doppelte von dem erhielt, was er zu Anfang besessen hatte. Das ist ein gewaltiger Segen. Oberflächlich betrachtet, könnte man denken: Was ist das für ein billiges Ende. Es sieht so nach „Ende gut, alles gut“ aus und nach „… und sie lebten noch lange und glücklich“. Warum bekam Hiob das alles zurück? Ist das so selbstverständlich? Es sieht fast so aus, als ob die Theorien doch noch bestätigt würden: Als Hiob seine Sünden bekannt hatte, ging es ihm wieder richtig gut und er erhielt wieder gewaltige Segnungen. Das ist allerdings wirklich oberflächlich gedacht. Es ist ganz sicher nicht so, dass jemand automatisch reich gesegnet wird, wenn er seine Sünden vor Gott aufrichtig bekennt. Damit würden wir doch wieder in die verkehrte Theorie verfallen. Man darf die Segnungen nicht als eine notwendige, automatische Folge von Hiobs Buße betrachten. Sie sind und bleiben Gottes souveräne Gnade. Es obliegt seiner freien Macht, dies den Menschenkindern zu schenken, wenn Ihm das gefällt. Hiob hätte auch sehr glücklich sein können, wenn Gott ihm das alles nicht geschenkt hätte. Und er wäre sicher auch schon glücklich gewesen, wenn er all seine frühere Wohlfahrt gegen diese vertiefte Erkenntnis des Herrn hätte tauschen können. Aber der Herr schenkt ihm nicht nur diese vertiefte Erkenntnis, diesen vertieften und verinnerlichten Umgang mit Ihm selbst, sondern auch noch all diese Segnungen. Doppelt so viel wie früher. Das ist nicht die automatische Folge des Sündenbekenntnisses, sondern es ist Gottes Güte, die ihm das schenkte.

Er bekam auch wieder zehn Kinder. Nicht doppelt so viele. Kinder sind kein Vieh, das man verlieren kann, wofür man nichts zurückbekommt. David wusste auch schon, dass er bei seinem Tod zu dem Kind kommen würde, das er verloren hatte (2Sam 12,23). Kinder verliert man nie. Man kann sie hier auf der Erde verlieren, sie sind dann jedoch nicht verschwunden. Hiob bekam auch doppelt so viele Kinder, denn er hatte schon zehn, wenngleich sie schon gestorben waren. Er bekam noch zehn dazu. Es ist also genauso wie bei den anderen Segnungen: Auch die Kinder wurden insgesamt verdoppelt, denn auch die Kinder, die gestorben waren, waren noch immer seine Kinder, und er würde sie in der Ewigkeit wiedersehen.

Von den zehn Kindern werden hier drei Töchter mit Namen genannt. „Und so schöne Frauen wie die Töchter Hiobs wurden im ganzen Land nicht gefunden. Und ihr Vater gab ihnen ein Erbteil inmitten ihrer Brüder“ (Hiob 42,15). Sie waren Teilhaber der Segnungen, dieser gewaltigen Reichtümer, die Hiob von dem Herrn erhalten und seinen Kindern nachgelassen hat.

Ein gesättigtes Leben

Hiob hat noch 140 Jahre gelebt. Sogar das hat sich verdoppelt. Wenn wir stark sind, werden wir 70 Jahre, sagt Psalm 90. Der Herr hat ihm das verdoppelt. „Und Hiob lebte nach diesen Dingen 140 Jahre; und er sah seine Kinder und seine Kindeskinder, vier Geschlechter“ (Hiob 42,16). Schließlich ist aber auch er gestorben. Wie lang das Leben auch gewesen sein mag – wer will in diesem Körper für immer auf der Erde leben? Am Ende war er vom Leben gesättigt. Wenn man schließlich vom Leben gesättigt ist, geht in Erfüllung, was Hiob selbst in Kapitel 19 gesagt hatte: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Und einmal werde ich Ihn mit meinen Augen sehen (Hiob 19,25-27). In gewisser Hinsicht hatte er Gott am Ende seines Leidensweges angeschaut. Aber er wird Gott auf herrlichere und größere Weise angeschaut haben, als er von dieser Erde weggenommen wurde und er seinem Löser in die Augen sehen musste. Da war die Sünde, das Fleisch und das Leiden vollständig vorbei.

Und so sagt der Herr am Ende der Bibel zu uns – vielleicht ist das Buch Hiob chronologisch gesehen der Anfang der Bibel, sozusagen das erste biblische Buch, das niedergeschrieben wurde –, dass die Zeit kommen wird, in der es keine Tränen, keine Schmerzen, keine Mühen, kein Leiden, keine Traurigkeit mehr geben wird. Das wird alles vorbei sein. Das Alte ist vergangen, siehe alles ist neu geworden.

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Übersetzung: Stephan Winterhoff

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