Bibelstudium (4)
Grundregeln

Willem Johannes Ouweneel

© EPV, online seit: 03.03.2006, aktualisiert: 16.11.2022

Grundregeln

Wir haben zu Anfang schon gesehen, dass es außergewöhnlich wichtig ist, von welchem Ausgangspunkt her wir der Bibel begegnen. Gesundes Bibelstudium ist auf den Glauben gegründet, dass die Bibel von Anfang bis Ende das wörtlich inspirierte Wort Gottes ist und dass wir uns deshalb vor der absoluten Autorität des Wortes Gottes in allen Lebensbereichen zu beugen haben. Manche mögen es für voreingenommen halten, mit diesem Glauben das Studium der Bibel zu beginnen; doch das Bewusstsein, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist, das absolute Autorität hat, ist wiederum auch das Ergebnis des Bibelstudiums und wird in dem Maß immer mehr befestigt, je tiefer wir in das Wort eindringen. Von Voreingenommenheit kann also keine Rede sein. Andererseits hat die positive Haltung gegenüber der Bibel als Wort Gottes eine sehr starke Auswirkung auf die Weise, wie wir die Bibel studieren. (Auch in negativer Hinsicht: Man wird von diesem Ausgangspunkt her zum Beispiel niemals zu der Schlussfolgerung kommen, dass ein bestimmter Bericht ein Mythos oder eine Legende oder dass ein bestimmtes Gebot sinnlos ist, usw.)

Wie schon früher gesagt, wird dieses Studium sich in vieler Hinsicht beträchtlich vom Studium gewöhnlicher Bücher unterscheiden. Das möchte ich in sieben Punkten näher zeigen.

1. Nicht von eigener Auslegung

Wenn die Bibel wirklich ein göttlich vollkommenes Buch ist, dann muss sie auch selbst alle Regeln für eine richtige Schriftauslegung enthalten, und dann darf es nicht so sein, dass wir außerbiblische Quellen nötig haben, um die Bibel studieren zu können. Natürlich müssen wir, wenn wir die Grundsprachen der Bibel nicht kennen, eine gute Übersetzung haben; wir machen auch Gebrauch von der Sprachwissenschaft und der sogenannten Textkritik (dem Handschriftenvergleich), um möglichst genau den richtigen Bibeltext zu ermitteln. Auch kann uns die Kenntnis der Alten Geschichte, der Kirchengeschichte und der Geographie, der Flora und der Fauna des Nahen Ostens zugutekommen. Aber für die eigentliche Auslegung des Bibelwortes haben wir es mit Kriterien zu tun, die die Bibel selbst uns liefern muss, eingedenk des Schriftwortes: „indem ihr dies zuerst wisst, dass keine Weissagung der Schrift [wir können ruhig sagen: keine Schrift] von eigener Auslegung ist. Denn die Weissagung wurde niemals durch den Willen des Menschen hervorgebracht, sondern heilige Männer Gottes redeten, getrieben vom Heiligen Geist“ (2Pet 1,20.21). Das ist eine sehr wichtige Schriftstelle. Im weitesten Sinn können wir daraus ableiten, dass

  • Auslegung nicht „eigenmächtig“ sein darf,
    das heißt derart, dass diese Auslegung uns in unsere Vorstellungen passt. Es ist offensichtlich nicht schwierig, für jede Irrlehre ein paar aus ihrem Zusammenhang gerissene Stellen zusammenzukitten. Die Bibel ist jedoch nicht dazu da, um unsere eigenen Glaubenssätze zu beweisen, sondern um ihr unsere eigenen Glaubenssätze zu unterwerfen und notfalls zu opfern

  • Auslegung nicht „für sich selbst stehen“ darf,
    das heißt, wir müssen auf den Zusammenhang achten, in dem ein Schriftwort steht, und die Verbindung mit anderen Schriftstellen berücksichtigen (siehe Punkt 2)

  • Auslegung auch nicht „nach der ersten Bedeutung“ erfolgen darf;
    wenn wir Ausdrücke wie „das ewige Leben“, der „erstgeborene Sohn“, „entschlafen“ nach der Bedeutung erklären würden, die sich uns primär aus den Worten selbst und in Übereinstimmung mit unserem eigenen Sprachgebrauch aufdrängt (wie es in diesem Fall die Zeugen Jehovas tun), dann kommen wir nämlich zu völlig falschen Schlussfolgerungen. Der Heilige Geist gebraucht bestimmte Worte und Ausdrücke manchmal in einer ganz neuen und besonderen Bedeutung, die wir nur durch gründliches Untersuchen der Schrift kennenlernen können (vgl. 1Kor 2,13).

2. Bestätigung durch andere Schriftstellen

Hieran schließt sich unmittelbar die zweite wichtige Regel an. Wenn die Bibel das Wort Gottes und Gott also der Autor der vielen verschiedenen Bibelbücher ist, dann muss eine göttliche Einheit zwischen all diesen Bibelbüchern bestehen, und zwar so vollkommen, dass nur ein Vergleich Schrift mit Schrift uns die wahre Bedeutung jeder einzelnen Schriftstelle verstehen lassen kann. Diese Regel, Schrift mit Schrift zu vergleichen und Schriftstellen nicht aus ihrem Zusammenhang zu reißen, ist eine der Regeln, gegen die am meisten verstoßen wird. Das eine Mal, als Satan einen Bibeltext anführte, machte er auch sofort (mit Absicht?) diesen „Fehler“ (Mt 4,6). Er zitierte auffallend unvollständig (denn er ließ Psalm 91,11b aus: „… dich zu bewahren auf allen deinen Wegen“) und wandte den Text an auf eine Situation, in der Christus gerade die Wege Gottes hätte verlassen müssen, um Satan zu willfahren.

Das Vergleichen von Schrift mit Schrift muss auch dann sorgfältig geschehen, wenn ein scheinbarer Widerspruch besteht, beispielsweise zwischen Johannes 10,30 („Ich und der Vater sind eins“) und Johannes 14,28 („Mein Vater ist größer als ich“). Solche Stellen können nur gut verstanden werden, wenn die Spannung, die zwischen ihnen besteht, schriftgemäß (d.h. mit Hilfe anderer Schriftstellen) gelöst wird. (Man entdeckt dann, dass in diesem Beispiel die erste Stelle auf die Wesenseinheit von Vater und Sohn und die zweite auf die neue Beziehung, die durch die Menschwerdung Christi zwischen ihnen entstanden ist, hinweist.) Im Allgemeinen bedeutet die Anwendung dieser Regel, dass schwierige Textstellen immer im Licht einfacherer Texte erklärt werden müssen und nicht umgekehrt. Wenn man beispielsweise das, was das Neue Testament über das Leben nach dem Tod offenbart hat, aufgrund bestimmter schwieriger Texte, vor allem aus Prediger, unbekümmert wegargumentiert, dann ist man auf einem verkehrten Weg; dann lebt man lieber nach den Fragezeichen des Alten Testaments als nach den Ausrufezeichen des Neuen Testaments. Der hervorragende Schriftausleger A.J. Pollock hat es so ausgedrückt:

Wenn eine Wahrheit richtig ausgelegt wird, wird jede Schriftstelle, die von derselben Wahrheit handelt, die Wahrheit immer bekräftigen und einen Teil des zusammenhängenden und harmonischen Ganzen ausmachen. Andererseits wird, wenn man die Schrift verkehrt auslegt, jede Schriftstelle, die von derselben Wahrheit handelt, nur mehr und mehr Verwirrung zustande bringen, da Schriftstellen verdreht oder sogar negiert werden müssen, damit sie mit einer unschriftgemäßen Theorie übereinstimmen.

3. Die Verschiedenheit beachten

Ebenso sehr wie man die Einheit der Schriften im Auge behalten muss, so muss das auch im Blick auf die Verschiedenheit der Schriften geschehen. Der göttliche Autor der Bibel ist wie ein Dirigent mit vielen verschiedenen Instrumenten in seinem Orchester; und um das Konzert völlig zu begreifen und zu genießen, tut man gut daran, die unterschiedlichen Möglichkeiten, Klangfarben und Funktionen der einzelnen Instrumente auseinanderzuhalten (vgl. 1Kor 14,7). Nicht dass sie miteinander in Widerstreit sind, denn ein Dirigent verschmilzt sie zu einem harmonischen Musikwerk, aber diese Harmonie wird gerade umso schöner, wenn wir auf die erwähnte Verschiedenheit achten. So ist es auch in der Schrift. Paulus gibt einen anderen „Klang“ als Johannes, und dieser wieder einen anderen „Klang“ als Petrus und Jakobus. Paulus meint mit „ewiges Leben“ nicht genau dasselbe wie Johannes, und Jakobus meint mit „Rechtfertigung“ wieder etwas anderes als Paulus und doch ist da kein Widerspruch. Da ist Verschiedenheit und doch eine wunderschöne Harmonie. Wir haben die Bücher Samuel und Könige genauso nötig wie die Chronika; selbst wenn wir meinen, manchmal „falsche Noten“ wahrzunehmen, ergibt die Unterschiedlichkeit eine wunderschöne Ergänzung. Wir können nicht auf Markus verzichten, weil wir Matthäus und Lukas bereits haben; das wäre eine traurige Verkennung von Markus vollkommen eigenem „Klang“. Wir haben die Verschiedenheit der vier Evangelisten absolut nötig, um einen vollständigen Eindruck von dem Leben und Werk Christi zu bekommen. Das ist nun einmal ein typisches Merkmal gesunden Bibelstudiums! Die ungesunde Art ist die, bei allen Unterschieden immer nur nach einer menschlichen Erklärung zu suchen (so tun es die „modernen“ Neutestamentler), während das gesunde Vorgehen sich immer durch diese primäre Frage verrät: „Was hat der Heilige Geist (der diese Unterschiede bewusst in die Bibel aufgenommen hat; abgesehen von Unterschieden, die durch einen unzulänglichen Grundtext, durch falsche Übersetzung oder durch ein verkehrtes Textverständnis entstehen) uns mit diesen Unterschieden zu sagen?“ Es gibt natürlich auch Unterschiede, die durch einen unzulänglichen Grundtext, durch falsche Übersetzung oder durch ein verkehrtes Textverständnis entstehen.

Sogar in der orthodoxen Auslegung hat diese Frage leider viel zu wenig im Vordergrund gestanden – zum großen Schaden für die Orthodoxie. (Ein trauriges Beispiel ist die große Anzahl der „Harmonisierungsversuche“ der vier [oder der drei synoptischen] Evangelien; wir finden das sogar bei Männern wie Calvin.)

4. Schlussfolgerungen können gefährlich sein

Eine andere Folge des ständigen Bewusstseins, dass die Bibel Gottes Wort ist, wird sein, dass wir äußerst vorsichtig sind mit Schlussfolgerungen, die auf menschliche Logik gegründet sind. An sich ist diese Logik durchaus nicht falsch; ein klarer Denker wie Paulus appelliert in seinen Ausführungen sehr oft an die menschliche Logik und sogar an den gesunden Verstand (siehe z.B. 1Kor 11,14.15; 2Kor 11,13-15). Aber wir können das nicht so einfach nachahmen; auch unsere Denkgesetze und Schlussfolgerungen müssen wir der Schrift unterwerfen. Die Logik einer bestimmten, auf ein gewisses Schriftwort gegründeten Schlussfolgerung ist unzureichend; wir können die Schlussfolgerung erst völlig annehmen, wenn sie durch die Schrift gedeckt wird. So bejahen wir zum Beispiel nicht die sogenannte Lehre von der „ewigen Verwerfung“ (d.h. die Lehre, Gott hätte von Ewigkeit her bestimmte Menschen in seiner Allmacht für die Hölle bestimmt), weil diese Lehre vielleicht zwar logisch aus der (vollkommen biblischen) Lehre von der „ewigen Auserwählung“ zu folgern ist, aber selbst nicht durch die Schrift gedeckt wird – im Gegenteil. So akzeptieren wir auch nicht, dass man logische, aber unbiblische Schlussfolgerungen aus der (für uns unergründlichen) Gottheit und Menschheit Christi zieht; der Ausdruck „Mutter Gottes“ mag vielleicht logisch sein („Maria ist die Mutter Jesu, und Jesus ist Gott, also ist Maria die Mutter Gottes“), aber sie ist vollständig unbiblisch, weil die Mutterschaft Marias nichts mit der Gottheit, sondern nur mit der Menschheit des Herrn Jesus zu tun hat.

Das ist übrigens eine allgemeine Gefahr in der Dogmatik, auch in der orthodoxen Dogmatik. Theologische Fachausdrücke werden erfunden, um bestimmte (richtige oder vermeintliche) Wahrheiten zu umschreiben, und manchmal ist das sehr gut gelungen; denken wir nur an Ausdrücke wie: Dreieinheit Gottes, die zwei Naturen Christi [und auch des neuen Menschen], Stellvertretung usw. Andererseits haben solche Ausdrücke gar zu häufig ein Eigenleben geführt und bekamen dann allmählich (Neben-)Bedeutungen, die kaum noch oder überhaupt nicht mehr biblisch waren. Die protestantische Dogmatik ist übervoll von solchen Ausdrücken (wie: allgemeine Gnade, die Ämter Christi, Sakrament, Erbschuld, die zwei Reiche, Gnadenbund, die Kirche von Adam an, Mutterverheißung, König der Kirche). Solche Ausdrücke erweisen sich oft als unbiblisch, oder sie besitzen einen biblischen Kern, aber unbiblische Nebenbedeutungen. Gesundes Bibelstudium ist sicheres Bibelstudium, und es ist sicher, wenn es der Schrift so nahe wie möglich bleibt und nur die „Fachausdrücke“ der Schrift verwendet (und so richtig wie möglich benutzt). Anders ausgedrückt: Wahre Dogmatik darf niemals unabhängig von der Auslegung der Schrift werden.

5. Es kommt auf das einzelne Wort an

Die Bibel ist das wörtlich inspirierte Wort Gottes. Das bedeutet, dass sogar die einzelnen Wörter der Bibel sehr wichtig sind, ja sogar das Jota und das Strichlein (Mt 5,18). Es geht nicht nur um die Botschaft, sondern ebenso sehr um die Worte, die die Botschaft enthalten, „welche wir euch verkündigen, nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist, mitteilend geistliche Dinge durch geistliche Mittel“ (1Kor 2,13). Deshalb ist es immer wichtig, sich beim Bibelstudium zu fragen, weshalb der Heilige Geist ein bestimmtes Wort in einem bestimmten Zusammenhang gebraucht hat, und dabei auf die kleinsten Einzelheiten zu achten. So ist es zum Beispiel sehr schön, dass die besten Handschriften in Lukas 10,39 und in Hebräer 11,11 das einfache Wörtchen „auch“ einfügen, denn das zeigt uns diese Verse in einem ganz anderen Licht. So muss man auch eine gute, wörtliche Übersetzung haben, am besten mit erklärenden Fußnoten oder Randbemerkungen, um die feinen Schattierungen wahrzunehmen. Es ist sehr aufschlussreich, ob ein Substantiv im Griechischen einen Artikel hat oder nicht (siehe z.B. zweimal „Glaube“ in 1Tim 1,19), ob ein und demselben Verb zum Beispiel der zweite oder der vierte Fall folgt (vgl. „hören“ in Apostelgeschichte 9,7 und 22,9 – das griechische Wort für „hören“ mit dem vierten Fall, wie in Apostelgeschichte 9,4; 22,9; 26,14, bedeutet, dass derjenige, der die Stimme hört, auch die Worte versteht; mit dem zweiten Fall, wie in Apostelgeschichte 9,7, dass derjenige, der hört, die Stimme nur als Geräusch hört, ohne die Worte zu verstehen) oder ob ein bestimmtes Wort im Deutschen möglicherweise verschiedene griechische Grundworte hat (siehe z.B. zweimal „lieben“ bzw. „lieb haben“ in Johannes 21,15.16). Auch ist es äußerst nützlich und wichtig, mit Hilfe einer Konkordanz oder eines erklärenden biblischen Wörterbuches die Bedeutung bestimmter biblischer Grundbegriffe ausführlich zu studieren, vor allem indem man überall im Alten und/oder Neuen Testament untersucht, wo und wie diese Begriffe gebraucht werden. Kaum etwas ist für den, der beginnt, die Bibel gründlich zu lesen, nützlicher, als auf diese Weise Begriffe wie „Bekehrung“, „Gerechtigkeit“, „Rechtfertigung“, „Errettung“, „Versammlung“, „Liebe“ usw. durch die ganze Schrift hin sorgfältig zu verfolgen.

6. Kein Hineinlesen eigener Meinungen

Wenn die Bibel das Wort Gottes ist, geziemt sich für uns eine Haltung großer Ehrerbietung und Unterwerfung, so dass wir uns in fortwährender Selbstdisziplin fragen, ob wir nicht vielleicht irgendwo unsere eigenen Gedanken in die Schrift hineinlesen und sie vielleicht missbrauchen, um unseren eigenen Meinungen Nachdruck zu verleihen. Die meisten Christen befinden sich in der Kirche oder Glaubensgemeinschaft, in der sie von Jugend an aufgewachsen sind, und das bringt die große Gefahr des Traditionalismus mit sich: die Gefahr, dass sie bestimmte Auslegungen und Dogmen angenommen haben, möglicherweise nicht einmal oberflächlich, sondern wirklich in der aufrichtigen Überzeugung, dass sie schriftgemäß sind, aber ohne sie jemals selbst gründlich untersucht zu haben. Der Protestantismus hat von jeher mit Recht darauf gedrungen, dass die Gläubigen so viel wie möglich selbst die Bibel studieren. Natürlich gibt es biblische Wahrheiten, die von Anfang an von allen orthodoxen Christen anerkannt worden sind und die allen Angriffen von Irrlehrern standgehalten haben; und doch haben sie für den Gläubigen heutzutage nur wirklich moralischen Wert, wenn er selbst diese Wahrheiten aufs Neue schriftgemäß „durchdacht“ hat. Es hat ja gerade andererseits genauso Lehrsätze gegeben, denen Millionen angehangen haben und die sie für schriftgemäß gehalten haben (wie z.B. die Transsubstantiationslehre [diese Lehre besagt, dass Brot und Wein beim Abendmahl in Leib und Blut Christi verwandelt werden]), während wir sie aufgrund der Schrift verwerfen müssen. Die Gefahr des „Hineinlesens“ ist besonders groß, und wir müssen uns sehr davor hüten. Der Versuch der katholischen Kirche, zum Beispiel die Lehre vom Fegefeuer in 1. Korinther 3,15 „hineinzulesen“, ist ein abschreckendes Beispiel dafür, ebenso wie der islamische Versuch (wie ich selbst gehört habe), die Lehre, Christus sei nicht wirklich gestorben, sondern hätte scheintot im Grab gelegen, in Hebräer 5,7 „hineinzulesen“. Doch wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Wir dürfen nicht

  • eine Aufeinanderfolge von Ältesten, die von der Versammlung angestellt werden, in 1. Timotheus 3 „hineinlesen“;
  • den Gedanken, als gehörten wir zu dem Bündnis Abrahams in Galater 3, „hineinlesen“;
  • eine Unterscheidung in drei Arten des Zusammenkommens in Apostelgeschichte 2,42 „hineinlesen“;
  • die Vorstellung, dass jemand durch die Taufe wiedergeboren wird, in Johannes 3 „hineinlesen“ usw.

Immer muss die Frage sein: Steht da wirklich, ist da wirklich gemeint, was ich denke? Oder muss ich anerkennen, dass ich (aus Traditionalismus, aus Ehrsucht oder dergleichen) tatsächlich gerne will, dass dies oder das dort steht oder gemeint ist? Niemand findet es schön, erkennen zu müssen, dass er auf dem Holzweg ist – und doch muss mein Gebet fortwährend sein: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Weg!“ (Ps 139,23.24).

7. Nichts aus dem Zusammenhang reißen

Ehrerbietung vor der Bibel als dem unfehlbaren Wort Gottes wird uns, wenn es gut um uns steht, immer dahin bringen, genau und sorgfältig zu lesen. Wir kennen viele Beispiele, wie in bestimmten Kreisen bestimmte Bibelstellen vollständig aus dem Zusammenhang gerissen und auf höchst sonderbare Situationen angewendet werden. Nun ist das nicht immer völlig verkehrt zu nennen; Paulus’ Anführung in Römer 10,18 ist für unser Gefühl auch mehr eine Anwendung als eine Auslegung von Psalm 19,4. Aber es ist einfach unstatthaft, wenn man einen Text tatsächlich das Umgekehrte von dem sagen lässt, was er bezweckt. So habe ich eine Sammlung alter Predigten von einem Prediger aus einem früheren Jahrhundert in einer Neuauflage. Darin steht vorne gedruckt: „Und niemand will, wenn er alten Wein getrunken hat, alsbald neuen, denn er spricht: Der alte ist besser“ (Lk 5,39). Der Zweck dieses Mottos war klar: Es gibt heute so viel phrasenhaftes Gerede von der Kanzel herunter, dass jemand, der an den alten Predigten Geschmack bekommen hat, nicht viel Interesse an all den neuen Redeweisen haben wird. Aber in Lukas 5 meint der Herr Jesus mit diesem Wort genau das Gegenteil! Er sagt es nicht lobend, sondern gerade missbilligend! Die Schriftgelehrten und Pharisäer nahmen die Lehre Christi nicht an, weil sie lieber bei dem alten Wein blieben und nichts haben wollten von diesem neuen, das nicht in ihr System passte. Das Zitieren dieses Verses ist also ein Beispiel für flüchtiges und also nicht genügend ehrerbietiges Lesen, und darüber müssen wir wachen.

Zusammenfassung

Zusammenfassend können wir sagen, dass wir, weil die Schrift Gottes Wort ist, ihr mit der größten Ehrerbietung und Bescheidenheit entgegentreten müssen, alle außerbiblischen Kriterien zu ihrer Auslegung und alle „logischen“ Argumente, die dazu führen, dass man den Boden der Schrift verlässt, abweisen müssen, aber uns gleichzeitig Rechenschaft geben von ihrer göttlichen Einheit und ihrer harmonischen Mannigfaltigkeit und der Inspiration (also auch Bedeutung) jedes einzelnen Wortes.

Vorheriger Teil Nächster Teil


Originaltitel: „Gesundes Bibelstudium“ 
aus Hilfe und Nahrung, Ernst-Paulus-Verlag, 1977, S. 329–338.
Zwischenüberschriften teilweise von SoundWords

Weitere Artikel des Autors Willem Johannes Ouweneel (65)


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen