Die Offenbarungen und das verborgene Leben
Johannes 20–21

Henri Louis Rossier

© SoundWords, online seit: 19.07.2011, aktualisiert: 18.11.2022

Leitverse: Johannes 20–21

Es gibt für mich in diesen zwei letzten Kapiteln des Johannesevangeliums etwas unendlich Ermutigendes: Gott zieht unsere Unzulänglichkeit, unsere geistliche Armut und unseren Mangel an Eigenschaften, um der göttlichen Offenbarungen würdig zu sein, nicht in Betracht. Sehen wir die Jünger: Sie haben Angst vor den Juden und schließen die Tür, um sie am Eintreten zu hindern; Thomas ist ungläubig; Petrus, wiewohl reuig, ist noch nicht wieder aufgerichtet; alle kehren zu ihren seit langem verlassenen Fischernetzen zurück, obwohl sie sehr viele Offenbarungen erhalten haben! Um ihnen eine Fülle von neuen Segnungen zukommen zu lassen, scheint Gott ihrem mangelhaften Zustand nicht Rechnung zu tragen; sie bekommen als Folge des Todes und der Auferstehung Jesu wunderbare Offenbarungen in Bezug auf ihre Stellung im Himmel, ihre Verbindung mit dem Vater und dem Sohn, die Vollkommenheit des Werkes Christi, das ihnen den Frieden bringt, sowie über die Prophetie des Überrestes Israels. Trotz ihrer Schwachheit sind sie berufen, diese Offenbarungen anderen weiterzugeben.

Können wir nicht dasselbe von uns sagen, uns, die der Herr dazu beruft, besondere Zeugen in dieser letzten Zeit der Weltgeschichte zu sein? Wie ist unsere moralische Verfassung, um vertrauenswürdige Mitwisser zu sein? Sicherlich nicht neuer Offenbarungen, aber vieler verborgener Wahrheiten, die unter den Ruinen der bekennenden Christenheit vergraben sind. Dieser Zustand ist leider so jämmerlich, dass die Welt unser Zeugnis verachtet, und zwar aufgrund des Verhaltens derer, zumindest einiger, denen dies anvertraut worden war.

Denken wir nicht, dass der Herr unsere Bemühungen, unseren Wandel mit unserem Auftrag in Einklang zu bringen, nicht bemerkt. Der Herr bemerkt es bei den Seinen, wenn sie es sich etwas kosten lassen, ihren Zustand der Seele dem Vorrecht anzupassen, als Mitwisser der biblischen Wahrheit auserwählt zu sein – dies ist das verborgene Leben in Christus.

Der Apostel Johannes gibt uns in Kapitel 21 ein Beispiel. Dieser Jünger ist so wenig mit sich selbst beschäftigt, dass man manchmal den Eindruck hat, er habe selbst seinen Namen vergessen. Er denkt weder an seine Unwürdigkeit oder Mangelhaftigkeit noch an irgendetwas anderes als an die Liebe Jesu zu ihm. Ein Bruder betete einmal: „Gib, dass wir nicht an uns denken. Weder für Gutes noch wegen Schlechtem.“ Johannes tat dies. Die Liebe Christi umhüllte ihn; er hatte diese Liebe schon bei dem ersten wunderbaren Fischfang erfahren (Lk 5,9). Die Wiederholung des Wunders, bei dem Petrus sich bekehrte, hatte diesem nicht die Augen geöffnet, während Johannes, der ganz von Jesus ergriffen war, Ihn sofort erkannte und sogleich sagte: „Es ist der Herr!“ (Joh 21,7). Für ihn konnte dieses Wunder nur die Frucht kraftvoller Liebe sein, und wo sonst konnte man diese finden, wenn nicht in Christus?

In seiner Liebe zu leben, öffnet uns die Augen und das Gedächtnis viel mehr als die Kenntnis der Wahrheit, und sie macht uns fähig, diese weiterzugeben. Petrus, der es von Johannes gehört hatte, warf sich leidenschaftlich ins Meer, um möglichst schnell Jesus zu erreichen, jedoch erfahren hatte er es von Johannes. Bei dem wunderbaren Fischzug rollte bei diesem Jünger alles ganz neu vor seinem inneren Auge ab, was Jesus seit dem Anfang seines Auftretens war. Zu Petrus spricht Jesus viel, um ihn wieder zurechtzubringen; zu Johannes sagt Er nicht mehr als zu den andern versammelten Jüngern; aber mit Gewissheit können wir sagen, dass die Gegenwart Jesu dem Herzen des geliebten Jüngers vollkommen genügte und dass er Ihn nie aus den Augen verlor. Den Beweis dazu haben wir, denn sobald Jesus weitergeht, folgt Ihm Johannes nach. Er sagte nicht wie Petrus wenige Tage zuvor: „Ich werde Dir nachfolgen, ich bin bereit, mein Leben für Dich zu lassen“ (vgl. Joh 13,37). Nein, er sagt kein Wort, er folgt Ihm einfach nach. Den Lohn dafür erhält er, denn ihm wird gegeben, einen Blick zu werfen in die Zeit, die uns von der Wiederkunft unseres Herrn in seiner Herrlichkeit noch trennt. Er selbst hat solch eine klare Offenbarung davon, dass er sie uns durch Inspiration in ebendiesem Buch wiedergeben konnte. Petrus hat Fragen, Johannes hat ein Ziel, und dieses Ziel ist für ihn der Ausgangspunkt der Ausbreitung alles Geoffenbarten geworden.

Es genügt also nicht, Offenbarungen erhalten zu haben. Die enge Bindung an die Person Jesu Christi und damit uns selbst in den Hintergrund zu stellen, macht uns fähig, anderen die Wahrheit wirksam weiterzugeben. Die Armseligkeit der Resultate hängt weder vom Wert der Offenbarung noch von der Ungenügsamkeit des Gefäßes ab, das sie beinhaltet, sondern vom Grad der Stärke unseres verborgenen Lebens mit Jesus.


Originaltitel: „Les révélations et la vie secrète. – Jean 20–21“ 
aus Le Messager Évangélique, Jg. 64, 1923, S. 41–43

Übersetzung: Heidy Seitzinger


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