Wozu Einschränkungen und Behinderungen gut sind
2. Korinther 12,9

Harold St. John

© SoundWords, online seit: 01.09.2023, aktualisiert: 17.12.2023

Leitvers: 2. Korinther 12,9

2Kor 12,9: Er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht. Daher will ich mich am allerliebsten viel mehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus über mir wohne.

Untauglich zum Dienst

In den Tagen Davids wurde in Israel ein sonderbares Gebot als Richtschnur für künftige Generationen aufgestellt: „Ein Blinder und ein Lahmer darf nicht ins Haus kommen“ (2Sam 5,8). Es blieb über tausend Jahre in Kraft, denn in der Apostelgeschichte sehen wir einen Lahmen „an der Pforte des Tempels sitzen, die die Schöne genannt wird“ (Apg 3,2). Dieses Gebot bedeutet: Gebrechen und Schwächen machen uns für die Gegenwart und den Dienst Gottes untauglich.

Der Evangelist Matthäus zeigt mit Freude, wie das Wort Christi alles übertrifft, was „zu den Alten gesagt ist“ (Mt 5,21): Er betont, dass nach dem triumphalen Einzug unseres Herrn in Jerusalem Blinde und Lahme zu Ihm in den Tempel kamen und Er sie heilte (Mt 21,14). Offensichtlich will er uns deutlich machen, dass Gott durchaus bereit ist, zerbrochene Werkzeuge zu reparieren und geheilte Krüppel in seinen Dienst zu nehmen.

Das Thema ist so wichtig, dass ich es für angebracht halte, weitere Beispiele für dieses Gesetz anzuführen, bevor ich wage, irgendwelche Schlüsse zu ziehen.

Mose

Gehen wir zunächst zum Dornbusch, wo der HERR dem Mose begegnete und ihm sein Wohlwollen zeigte. Mose wird gesandt, um Israel aus der Hand des Pharaos zu befreien (2Mo 3,10), aber Mose widerspricht und sagt: „Ach, Herr, ich bin kein Mann der Rede …; denn ich bin schwer von Mund und schwer von Zunge“ (2Mo 4,10). Achten wir auf die Antwort Gottes: „Wer hat dem Menschen den Mund gemacht? Oder wer macht stumm oder taub oder sehend oder blind? Nicht ich, der HERR?“ (2Mo 4,11).

Mit diesen Worten sagt der HERR, dass Er der Schöpfer des Menschen ist und ihm in seiner Allmacht all seine Gaben und Gebrechen gegeben hat. Gott selbst bestimmt Art, Umfang und Anzahl unserer Gaben und übernimmt die Verantwortung für ihre Unvollkommenheiten. Auch deutet Er nicht an, dass unsere Gebrechen, unsere Mängel weniger würden.

Der Blinde

Weiter lesen wir in Johannes 9, wie unser Herr den Tempel verlässt und einen Mann sieht, der von Geburt an blind ist. Sofort fordern seine Jünger ihren Meister mit einer Frage heraus: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ (Joh 9,2). Der Herr lehnt es ab, über das finstere Geheimnis des Ursprungs der Sünde zu diskutieren, sondern lenkt ihren Blick auf den Zweck seiner Behinderung: „Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbart würden“ (Joh 9,3). Die Absicht war ganz einfach, dass der Zustand dieses Mannes Gott zur Ehre gereichen sollte, und zwar sowohl bei den Zuschauern als auch bei dem Blinden selbst, das heißt bei dem Leidenden, „denn wen der Herr liebt, den züchtigt er“ (Spr 3,12; Heb 12,6). Niemand verschwendet seine Zeit damit, Eisen im Schmelztiegel zu läutern; aber es ist keine Zeitverschwendung, Gold zu läutern.

Paulus

Ein drittes Beispiel soll genügen, und das Beispiel des Paulus gibt uns alles, was wir brauchen, um dies zu verstehen. Wir erfahren, dass Paulus, so wie auch Mose, ein schlechter Redner war (2Kor 10,10). Außerdem wird ihm „ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans“ (2Kor 12,7), um ihn zu plagen. In seiner Not fleht er den Herrn dreimal an, diese Fessel zu lösen. Paulus wird daran erinnert, dass der Fortschritt des Reiches Gottes nicht darin besteht, die Vollkommenheiten des Menschen zur Schau zu stellen, sondern darin, die Macht und die Weisheit Gottes zu offenbaren. Dem wird man am besten gerecht, wenn man den Schatz in ein irdenes Gefäß legt.

Wir stellen fest, dass bei dem Blinden und bei dem Lahmen das Handicap vollständig beseitigt wird, aber bei Mose und Paulus finden wir nichts davon; ihr Handicap bleibt.

Was beeinträchtigt uns?

Beeinträchtigungen und Behinderungen können unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden: Zum einen können sie angeboren oder von Geburt an vorhanden sein; viele von uns leiden allerdings unter erworbenen und unter sozialen Behinderungen oder Beeinträchtigungen:

  • Physische Krankheiten: Sie reduzieren unsere Arbeitszeit und schränken unsere Kräfte ein.
  • Jemand schreibt ein großartiges Buch oder Gedicht, hat aber weder Geld noch Einfluss, um es zu veröffentlichen.
  • Für viele kann die Ehe ein Handicap sein oder auch die Ehelosigkeit.
  • Und nicht zuletzt warnt uns der Lauf der Jahre vor der Endlichkeit des Lebens.

Ich denke, wir sollten ehrlich, offen und entschlossen mit unseren Grenzen umgehen. Wir alle leiden unter ihnen, und gelegentliche scheinbare Ausnahmen sind nur äußerlich. Jeder von uns hat sein Inneres, seine verborgenen Siege und Niederlagen, seine vermeintlichen Einschränkungen und seine persönlichen Handicaps und Erniedrigungen.

Wie gehen wir mit unseren Einschränkungen um?

1. Wir müssen die Art der Behinderung, unter der wir leiden, bewerten: Manche Handicaps sind unabänderlich, andere können gelindert oder sogar ganz beseitigt werden.

Als unser Herr Sorgen und Vertrauen einander gegenüberstellte – zwei Haltungen, die unser Leben prägen können –, fragte Er: „Wer aber unter euch vermag mit Sorgen seiner Größe {Lebenslänge} eine Elle zuzufügen?“ (Mt 6,27; Lk 12,25). Mit anderen Worten: Der Herr erinnert uns daran, dass wir sind, was wir sind, und dass unsere Weisheit darin besteht, einfach zu akzeptieren, dass die Basis unseres Lebensdreiecks in gewissen Bahnen festgelegt ist.

Andererseits können Beharrlichkeit und Gebet, harte Arbeit und Vertrauen auf Gott oft die Grenzen unserer Umstände verändern. Ich stelle mir vor, dass Mose, der am Dornbusch langsam und zögerlich sprach, zu einem Redner ganz anderen Kalibers wurde, als er die fünf gewaltigen Reden hielt, die das fünfte Buch Mose bilden.

2. Wir sollten unser Handicap in unseren Lebensteppich einweben.

Kurz bevor George Matheson (1842–1906) heiraten und in seinem Beruf Fuß fassen wollte, erblindete er plötzlich, woraufhin seine Verlobte ihn verließ. Später schrieb er sein bekanntes Loblied „O Love, that wilt not let me go“:

O Liebe, Du lässt mich nicht los,
die müde Seele ruht in Dir.
[1]

Auch wenn menschliche Liebe ihn im Stich lassen, irdische Lichter erlöschen und Schatten des Leids ihn überwältigen mochten – die ewige Liebe, das Licht des Himmels und die Freude Gottes blieben. So wurde die Hand eines Blinden zu seiner Kerze, die ihm durch dunkle Täler leuchtete.[2]

Ein noch erhabeneres Beispiel ist Dr. [William] Moon (1818–1894) […], der ebenfalls als junger Mann erblindete. Als seine Mutter einige Wochen nach seiner Erblindung an seiner Schlafzimmertür vorbeikam, hörte sie ihn beten: „O Herr, hilf mir, meine Gabe der Blindheit Dir zu weihen.“ Wie wunderbar Gott sein Gebet erhörte, sehen wir im sogenannten Moon-Alphabet[3]. Tausende von blinden Männern und Frauen können nun die Kostbarkeiten der göttlichen und menschlichen Literatur genießen.

3. Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Wir können durch unsere Gebrechen Siege erringen, und statt dass unsere Gebrechen Stolpersteine sind, können wir sie zu Trittsteinen machen.

Das Beispiel des Paulus und seines „Dorns für das Fleisch“ (2Kor 12,7) hilft uns dabei. Der Apostel wurde an die größte Demütigung seines Lebens erinnert: an den Tag, als er in Damaskus „durch ein Fenster in einem Korb an der Mauer hinabgelassen wurde“ (2Kor 11,33; Apg 9,25). Später erinnert er uns daran, wie ihm ein „Dorn für das Fleisch“ geschickt wurde, ein Bote des Satans (2Kor 11,14: „ein Engel Satans“; die personifizierte Heimsuchung), um ihn zu schlagen oder, wie es wörtlich heißt, um ihn „mit Fäusten zu schlagen“ (2Kor 12,7). Seine Geschichte mit Christus begann damit, dass ihn ein Stachel traf (Apg 26,14), und endete damit, dass ihn ein Dorn stach (2Kor 12,7)!

Dreimal flehte der Knecht zum Herrn, Er möge den Dorn herausziehen [d.h., dass Satan von ihm abstehen möge, 2Kor 12,8], aber „er hat zu mir gesagt [in der Zeitform des Perfekts, wie ein letztes Wort]: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht“ (2Kor 12,8.9), das heißt, in dem Maße, wie die Schwachheit wächst, nimmt die Kraft zu.

„Meine Gnade genügt dir“

Wenn wir dies annehmen, verschwindet die quälende Furcht vor dem Bankrott; unsere geistliche Zahlungsfähigkeit ist gesichert. Hätte der Herr gesagt: „Meine Gnade wird genügen[4]“, dann wäre das eine Hoffnung gewesen, die trägt. Doch der Herr sagte: „Meine Gnade genügt[5] dir“, und Paulus nahm diese Zusage mit Gelassenheit und innerer Ruhe an. Sein Herr hatte es gesagt und das genügte Paulus.


Engl. Originaltitel: „Disabilities and Their Value“
Quelle: www.brethrenarchive.org

Übersetzung: Gabriele Naujoks

Anmerkungen

[1] Anm. d. Üb.: Übersetzt aus dem Lied „O Love, that wilt not let me go“ (1882) von George Matheson (1842–1906): O Love that will not let me go, | I rest my weary soul in thee.

[2] Anm. d. Üb.: Möglicherweise ist damit gemeint, dass der ebenfalls blinde William Moon im Jahr 1845 eine Blindenschrift entwickelte. Die Brailleschrift war zwar bereits zwanzig Jahre früher entwickelt worden, wurde in England aber erst später bekannt.

[3] Anm. d. Üb.: Moon-Alphabet: eine Blindenschrift in Form eines Reliefalphabets. Im Gegensatz zur Brailleblindenschrift orientiert sich die Moonschrift an den Formen der lateinischen Buchstaben und war daher vor allem für Menschen geeignet, die bereits lesen gelernt hatten und erst später im Leben erblindet waren. In England verbreitete sie sich anfangs sehr schnell und wird dort auch heute noch teilweise verwendet. Durch Missionare wurde das Moon-Alphabet über Indien, China, Ägypten, Australien bis nach Westafrika verbreitet und ist heute in Lateinamerika teilweise die Standardblindenschrift.

[4] Zukunft.

[5] Gegenwart.


Hinweis der Redaktion:

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