Der Prophet Hosea (9)
Kapitel 9

Henry Allen Ironside

© SoundWords, online seit: 30.12.2022, aktualisiert: 23.05.2023

Die Tage der Heimsuchung

Vers 1

Selbst ein absoluter Weltmensch ist relativ glücklich im Vergleich zu einem Gläubigen Gottes, der innerlich von der Person entfernt ist, dessen Kind er ist. Das ist es, was der Eröffnungsvers hervorhebt:

Hos 9,1: Freue dich nicht, Israel, bis zum Frohlocken, wie die Völker, denn du hast von deinem Gott weg gehurt, hast Hurenlohn geliebt auf allen Korntennen.

Völker, die den HERRN nie gekannt hatten, mochten in ihrer Unwissenheit und ihrem Aberglauben ein gewisses Maß an Freude erleben. Für Israel hingegen war das nicht möglich. Nachdem sie einmal der Gegenstand der liebevollen Güte Gottes geworden waren, konnten die, denen Er sich als der eine wahre und lebendige Gott offenbart hatte, nie wieder in ihrer Sünde glücklich werden.

Die Erinnerungen an vergangene Freuden, an Stunden und Tage, in denen sich die Seele an Gott erfreute und in seinem Wort kostbare Nahrung fand, machen die ruhelosen, unglücklichen Erfahrungen eines von Herzen Abtrünnigen, der von seinen eigenen Dingen erfüllt ist, umso freudloser. Und welch eine Barmherzigkeit ist das für uns, dass dem so ist! Wie dankbar dürfen wir unserem Gott und Vater doch sein, dass wir keinen wahren Frieden und echtes Glück genießen können, solange wir nicht in Gemeinschaft mit Gott sind, dem wir all das Gute verdanken, das wir haben.

Es ist wohl wahr, dass die Seele, die fern von Gott ist, einen gewissen Reiz und eine genussvolle Begeisterung in den Torheiten der Welt finden kann. Aber das ist lediglich der „zeitliche Genuss der Sünde“ (Heb 11,25) und nicht zu vergleichen mit jenen kostbaren Realitäten, die vor der Seele des Psalmisten stehen, der singt: „Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar“ (Ps 16,11).

Verse 2-4

Hos 9,2-4: 2 Tenne und Kelter werden sie nicht ernähren, und der Most wird sie täuschen. 3 Sie werden nicht im Land des HERRN bleiben, sondern Ephraim wird nach Ägypten zurückkehren, und sie werden Unreines essen in Assyrien. 4 Sie werden dem HERRN keinen Wein spenden, und ihre Schlachtopfer werden ihm nicht angenehm sein: Wie Trauerspeise wird es ihnen sein. Alle, die davon essen, werden sich verunreinigen; denn für ihren Hunger wird ihre Speise sein, in das Haus des HERRN wird sie nicht kommen.

Und deshalb lesen wir von dem gefallenen Israel, dass sie von der Tenne und der Kelter nicht ernährt werden würden und dass der Most ausbleiben sollte. Sie sollten auch nicht im Land des HERRN bleiben, sondern nach Ägypten zurückkehren und sich in Assyrien von Unreinem ernähren. Da sie den Dienst des HERRN verachteten, sollten sie von seinem Tempel abgeschnitten werden und nicht von seinen Opfern essen.

Verse 5.6

Hos 9,5.6: 5 Was werdet ihr tun am Tag der Festzeit und am Tag des Festes des HERRN? 6 Denn siehe, sie sind weggezogen wegen der Zerstörung; Ägypten wird sie sammeln, Moph sie begraben; ihre Kostbarkeiten an Silber werden die Nesseln in Besitz nehmen, Dornen werden in ihren Zelten sein.

Dann bringt er das Ganze auf den Punkt, indem er fragt: „Was werdet ihr tun am Tag der Festzeit und am Tag des Festes des HERRN?“ Wenn sie, verstreut unter den Nationen, an vergangene Zeiten des Segens dachten und sich daran erinnerten, dass wieder einmal ein erhabener Festtag gekommen war, sie jedoch von den Vorrechten Gottes abgeschnitten waren, was würden sie dann tun? Wie würden sie dann ihre Seelen zufriedenstellen können?

Wie selten denkt das Volk Gottes doch über diese Dinge nach, über die es eigentlich nachdenken sollte! Von der Welt angelockt, von unheiligem Ehrgeiz angestachelt und von Stolz angespornt, lassen sich Gläubige oft von der Einfalt gegenüber dem Christus wegziehen! Und es dauert nicht lange, dann sind die, die einst vertrauten Umgang miteinander pflegten, als sie zum Versammlungsort von denen gingen, die ihren Heiland und die Wahrheit Gottes liebten, weit voneinander entfernt. Menschen, die einst von erbaulichen Betrachtungen erfüllt waren, als sie zum Tisch des Herrn gingen und sich an seine Liebe zu uns in seinem Leiden bis zum Tod erinnerten, treiben nun in der Finsternis dahin. Was mögen sie empfinden, wenn sie am Tag des Herrn inmitten von Szenen weltlicher Religiosität oder irreligiöser Weltlichkeit an die geheiligten Zeiten zurückdenken, die sie einst mit heiliger Freude vor dem Herrn verbrachten? Wie mag es für sie sein, sich daran zu erinnern, dass die Gläubigen, die sie einst gut kannten und liebten, gerade in dieser Stunde (in der sie sich mit etwas beschäftigen, was nicht die Zustimmung des Herrn haben kann) beim Mahl untereinander und mit dem Herrn Gemeinschaft haben? Denn schließlich ist dies die Feier, die sein liebendes Herz eingesetzt hat, um uns – in der Zeit, in der Er aus dem Blickfeld der Menschen verschwunden ist – an Ihn zu erinnern. Derart herzliche Erinnerungen werden sich ganz gewiss mit einer Trauer und mit Gewissensbissen vermischen, die nicht leicht zu bezwingen sind!

Und so ähnlich wird es auch bei Israel gewesen sein, wenn die Zeit des Passahfestes, des feierlichen Versöhnungstages oder des freudigen Laubhüttenfestes näher rückte und sie unter Fremden zerstreut waren und nicht mehr an den Vorrechten teilhaben konnten, die sie einst besaßen. Sie waren aus ihrem Land weggezogen und ein Raub für Ägypten geworden – das ein Bild der Welt ist, aus der die Gläubigen einst befreit wurden. Ihre Kostbarkeiten waren den Feinden zum Opfer gefallen (nach ihrem Silber wird verlangt“, siehe Fußnote) und sie selbst waren von Dornen und Nesseln verletzt – von vielen Schmerzen durchbohrt. Was für ein trostloses und zugleich anschauliches Bild dessen, was jede abtrünnige Seele unter Beweis stellen wird!

Vers 7

Denn schließlich ernteten sie lediglich, was sie gesät hatten. Sie hatten gesagt – und daran werden sie in ernster Ironie erinnert –:

Hos 9,7: Gekommen sind die Tage der Heimsuchung, gekommen die Tage der Vergeltung; Israel wird es erfahren. Der Prophet wird närrisch, der Mann des Geistes wahnsinnig, wegen der Größe deiner Ungerechtigkeit und der großen Feindseligkeit.

So hatten sie versucht, ihr Gewissen hinsichtlich der Vielzahl ihrer Missetaten zu beruhigen. Nun, wo sich all diese Dinge erfüllt hatten, sollten sie das Folgende wissen: „Gekommen sind die Tage der Heimsuchung, gekommen die Tage der Vergeltung.“

Verse 8.9

Hos 9,8.9: 8 Ephraim schaut aus neben meinem Gott; der Prophet – eines Vogelfängers Schlinge ist auf allen seinen Wegen, Feindseligkeit ist im Haus seines Gottes. 9 Tief haben sie sich verdorben wie in den Tagen von Gibea. Er wird sich an ihre Ungerechtigkeit erinnern, er wird ihre Sünden heimsuchen.

Der Wächter Ephraims [der Prophet], der sie von ihrem bösen Weg abbringen wollte, hielt sich an Gott. Aber sie sagten – und zwar aufgrund ihrer Feindseligkeit gegen das Haus ihres Gottes: „Der Prophet – eines Vogelfängers Schlinge ist auf allen seinen Wegen“[1].

So leicht ist es, jemand zu verurteilen, der die Sünde in Treue tadelt und danach strebt, den Untergang/Verfall einer Seele zu verhindern. Der Sauerteig der Bosheit von Gibea – von dem wir in den letzten Kapiteln des Buches der Richter lesen – war nach all den Jahrhunderten noch immer unter ihnen am Werk. Die Sünde stirbt nie eines natürlichen Todes, sondern muss radikal gerichtet werden. Wie der Sauerteig wird auch sie durch Feuer – durch „Gericht“, Selbstgericht bzw. Gottes Gericht – aufgehalten. Denn die Sünde wirkt so lange weiter, bis sie gerichtet wird. Ganz gleich, ob eine Einzelperson der Sünde nachgibt oder ob Sünde innerhalb einer Gemeinschaft zugelassen wird: Sünde wirkt immer so lange weiter – wenn auch oft unmerklich –, bis sie gerichtet wird, und zwar entweder durch die betreffende Person, durch Gottes Volk oder durch Gott. Das ist die ernste Lektion, die uns hier deutlich vor Augen geführt wird.

Zweifellos hatten die hier Angesprochenen die Tage von Gibea vollkommen vergessen. Vielleicht hätten sie sich auch darauf berufen, dass das Unglück in Gibea Jahrhunderte vor ihrer Geburt geschehen war und dass es deshalb sinnlos sei, sich damit zu beschäftigen. Aber Gottes heiliges Auge blickte tiefer. Er sah, dass der Eigenwille und die Verderbtheit, die sich in Gibea manifestiert hatten, noch immer unter ihnen wüteten und nach Demütigung und Selbstgericht vor seinem Angesicht verlangten. Doch dies ignorierten sie. Deshalb muss Er ihre Sünden heimsuchen.

All das ist sehr ernst und kann uns in der gegenwärtigen Zeit des tiefen Versagens und tiefer Zerrüttung der Gemeinde durchaus sehr in Anspruch nehmen. Sind wir nicht ein Teil des Hauses Gottes, das auf dieser Erde in Verantwortung errichtet wurde? Haben wir ein Empfinden für die Verunehrung Gottes durch dieses Haus, von dem wir ein Teil sind? Möge Gott sowohl dem Leser als auch dem Schreiber die Gnade schenken, dass diese Wahrheit in das Herz eindringen und das Gewissen erwecken kann. Möge es zu einer gottwohlgefälligen Beurteilung von allem führen, was der dem Haus Gottes geziemenden Heiligkeit entgegensteht, und zu einem Selbstgericht hinsichtlich des Anteils, den wir an der Begünstigung der Dinge haben, die nicht von Gott sind.

Es fällt nicht schwer, andere zu verurteilen. Wir sind jedoch dazu aufgerufen, uns selbst zu richten. Wahres Selbstgericht wird den Einzelnen dazu führen, den Weg des Niedergangs zurückzuverfolgen, den das Volk des Herrn beschritten hat, mit dem er in den Segnungen und in der Verantwortung verbunden ist. Das beinhaltet ein erwecktes Gewissen und ist das Gegenteil von gemeindlicher Heuchelei und geistlichem Hochmut.

Vers 10

Hos 9,10: Ich fand Israel wie Trauben in der Wüste; wie eine Frühfrucht am Feigenbaum, in seinem ersten Trieb, ersah ich eure Väter. Sie aber gingen nach Baal-Peor und weihten sich der Schande, und sie wurden Gräuel wie ihr Liebhaber.

In Vers 10 blickt Gott mit Liebe auf die frühe Geschichte seines Volkes zurück. Zu jener Zeit war Israel für Gott wie Trauben in der Wüste – wie kostbare Früchte in einem trockenen und durstigen Land. Aber ach, wie schnell verschwand diese frühe Frische! Es dauerte nicht lange, bis das Folgende geschah: „Sie aber gingen nach Baal-Peor und weihten sich der Schande.“ Bileam lehrte Balak, einen „Fallstrick“ vor die abgesonderte Nation zu legen. Dieser armselige Rat wurde nur allzu wörtlich befolgt. Die Töchter Moabs bewirkten, was alle Beschwörungen der falschen Propheten nicht vermocht hatten: „Sie wurden Gräuel wie ihr Liebhaber.“ Der Leser möge den ganzen Bericht in 4. Mose 25 und 31,16 sorgfältig studieren und mit Offenbarung 2,14 vergleichen.

Verse 11.12

Hos 9,11.12: 11 Ephraim – wie ein Vogel wird ihre Herrlichkeit wegfliegen. Kein Gebären und keine Schwangerschaft und keine Empfängnis: 12 Ja, wenn sie auch ihre Söhne großziehen, so werde ich sie ihnen doch rauben, so dass kein Mensch mehr bleibt; denn wehe ihnen, wenn ich von ihnen weichen werde! 13 Ephraim, wie ich hinschaute, war ein Tyrus, auf der Weide gepflanzt; aber Ephraim muss seine Söhne zum Würger hinausbringen.

Ephraim hatte sich von Anfang an als unzuverlässig erwiesen. Deshalb sollte ihre Herrlichkeit wie ein Vogel wegfliegen, und sie sollten beraubt werden, bis keiner mehr übriggeblieben sein würde. Gott sagte: „Wehe ihnen, wenn ich von ihnen weichen werde!“

Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass der Geist, der uns zu Kindern Gottes gemacht hat, niemals von den Seinen weichen wird – ganz gleich, wie sehr sie auch versagen mögen. Er ist der innewohnende Geist, mit dem in der gegenwärtigen Haushaltung der Gnade alle wahren Gläubigen versiegelt sind. Aber das ändert nichts daran, dass falsches Verhalten ganz offensichtlich Auswirkungen hat: Wenn wir von Eigenwilligkeit gekennzeichnet sind, dann wird der Heilige Geist betrübt, die Gemeinschaft unterbrochen und dann sind wir für den Herrn kein Zeugnis mehr.

Verse 13.14

Hos 9,13.14: 13 Ephraim, wie ich hinschaute, war ein Tyrus, auf der Weide gepflanzt; aber Ephraim muss seine Söhne zum Würger hinausbringen. 14 Gib ihnen, HERR! Was wirst du ihnen geben? Gib ihnen einen unfruchtbaren Mutterleib und trockene Brüste!

Ephraim, der einst „auf der Weide gepflanzt“ worden war, konnte nicht mehr mit Kindern gesegnet werden. Der Name Ephraim bedeutet „Fruchtbarkeit“. Doch nun sollte es fruchtlos und dürr werden. Und wenn Kinder geboren würden, dann würden sie nur zum Tod bestimmt sein. Beides – Gemeinschaft mit Gott und Frucht für Gott bringen – gehört zusammen. Wo das Erste fehlt, wird auch das gewünschte Ergebnis ausbleiben.

Vers 15

Hos 9,15: All ihre Bosheit ist in Gilgal, denn dort habe ich sie gehasst. Wegen der Bosheit ihrer Handlungen werde ich sie aus meinem Haus vertreiben; ich werde sie nicht mehr lieben; alle ihre Fürsten sind Abtrünnige.

Gilgal war einst der Ort gewesen, an dem die Schmach Ägyptens weggewälzt worden war. Doch das Zeugnis ihrer Heiligung vor dem Heiligen Israels war nun nur noch ein Zeugnis ihrer Bosheit. Deshalb würde Er, den sie so entehrt hatten, sie aus seinem Haus vertreiben. Er würde sie verleugnen, weil sie sich von Ihm abgewandt hatten. Dass Er sagt: „Ich werde sie nicht mehr lieben“, meint nicht, dass sich sein Herz oder seine Absichten geändert hätten. Es meint, dass Er sich nicht mehr offen für sie einsetzen würde. Er würde sie ihren Feinden ausliefern wie einer, der sie – so wie es aussah – nicht mehr liebte.

Verse 16.17

Hos 9,16.17: 16 Ephraim ist geschlagen: Ihre Wurzel ist verdorrt, sie werden keine Frucht bringen; selbst wenn sie gebären, werde ich die Lieblinge ihres Leibes töten. 17 Mein Gott verwirft sie, weil sie nicht auf ihn gehört haben; und sie sollen Flüchtlinge sein unter den Nationen.

Wie bereits erwähnt, sollte Ephraim seinem Namen Lügen strafen. Dass sie von Züchtigung heimgesucht wurden, sollte zur Folge haben, dass sie „keine Frucht bringen“ würden. Und selbst dann, wenn sie Frucht brächten, würde seine Hand gegen sie sein, um sie zu vernichten. Auf diese Weise würde Gott seine Heiligkeit wiederherstellen. Er würde sie von seinem Angesicht wegschaffen, so dass sie zu Flüchtlingen unter den Nationen würden.

Davor hatte Mose sie von Anfang an gewarnt. Aber sie hatten nicht beachtet, was ihnen schon immer hätte vor Augen stehen müssen – wenn sie nur Augen zum Sehen, Ohren zum Hören und ein Herz zum Verstehen gehabt hätten. Nun, weil sie das Wort des HERRN verachtet hatten, mussten sie ihre Lektion mittels Züchtigung lernen. Sind wir, die wir so viel mehr Licht haben, wirklich weiser als sie? Prüfen wir uns vor Ihm, dessen Augen wie eine Feuerflamme sind, und geben wir dem Herrn in seiner heiligen Gegenwart eine Antwort.


Originaltitel: „Notes on the Prophecy of Hosea“
aus Notes on the Minor Prophets, 1909

Übersetzung: Andreas Albracht

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Anmerkungen

[1] Nach meinem Verständnis sollte Hosea 9,8 wie folgt lauten: „Ephraims Wächter hielt sich an Gott. [Aber] der Prophet – eines Vogelfängers Schlinge ist auf allen seinen Wegen, [aufgrund der] Feindseligkeit gegen das Haus seines Gottes.“


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