Der Prophet Hosea (12)
Kapitel 12

Henry Allen Ironside

© SoundWords, online seit: 30.12.2022, aktualisiert: 23.05.2023

Die Waage des Betrugs

Vers 1

Hos 12,1: Mit Lüge hat Ephraim mich umringt, und das Haus Israel mit Trug; und Juda ist immer noch zügellos gegen Gott und gegen den Heiligen, der treu ist.

Hier am Anfang von Kapitel 12 endet ein weiterer deutlich erkennbarer Teil der Prophezeiung, der sich von dem Ruf des Volkes aus Ägypten bis hin zu ihrer Wiederherstellung – in Bezug auf ihr Land und auf Gott – in der Zeit des Tausendjährigen Reiches erstreckt.

Vers 1 ist die Einleitung zu Kapitel 12 und führt ein neues Thema ein, das mit dem Ende von Kapitel 13 abgeschlossen wird. Zu der Zeit, als Hosea prophezeite, war – wie bereits mehrfach erwähnt – die Schuld Judas noch nicht so offensichtlich wie die des Zehn-Stämme-Reichs. Letzteres war von Anfang an durch Jerobeam in die Irre geführt worden – hatte er doch die goldenen Kälber zur Anbetung aufgestellt und sie auf diese Weise von dem HERRN abgewendet. Sie waren von Anfang an Götzendiener, und alle ihre Könige waren den Fußstapfen Jerobeams, des Sohnes Nebats, „der Israel zu sündigen veranlasste“, gefolgt. Daher wurde das Urteil Gottes schon früh über sie ausgesprochen. Gott musste sagen: „Mit Lüge hat Ephraim mich umringt, und das Haus Israel mit Trug.“ Auf die vielen Warnungen und die Bitten, die der Herr an sie gerichtet hatte, war nie eine Gott wohlgefällige Reaktion erfolgt.

Aber bei Juda war das ganz anders. Bei ihnen ging der Niedergang nur langsam vonstatten und wurde manchmal sogar ausgebremst. Daher lesen wir: „Aber Juda wandelt noch mit Gott und ist treu mit dem Hochheiligen“ (engl. KJV). Bis zu der Zeit, als Hosea prophezeite, herrschte in Juda noch ein gewisses Maß an Hingabe an den HERRN. Außerdem folgte auf die inbrünstigen Rufe zur Umkehr der Propheten eine Erweckung nach der anderen. Aber es ist zu beobachten, dass auch sie im Laufe der Jahre immer weniger auf die Stimme Gottes reagierten, bis sie schließlich jegliches Interesse an Gottes Heiligkeit verloren hatten.[1]

Vers 2

Hos 12,2: Ephraim weidet sich an Wind und jagt dem Ostwind nach; den ganzen Tag mehrt es Lüge und Gewalttat; und sie schließen einen Bund mit Assyrien, und Öl wird nach Ägypten gebracht.

In diesem Abschnitt deckt Gott die verborgene Verderbtheit Ephraims auf das Gründlichste auf. Er legt die moralischen Triebfedern ihres Wesens frei, die zu einer derart offenen Auflehnung gegen ihren Gott geführt haben.

Wie König Salomo, der Autor des Buches Prediger, hatte auch Ephraim vergeblich versucht, ohne Gott Herzenserfüllung zu finden. Doch es hatte sich letztlich an Wind geweidet und war dem verderbenden Ostwind nachgejagt. Auf diese Weise hatte es bewiesen, dass alles „Eitelkeit und Kummer des Geistes“ ist, wenn das Herz von der einen wahren Quelle alles Guten entfremdet ist. Ephraim versuchte, den Tag des Unglücks abzuwenden, indem es danach strebte, ein Bündnis mit dem mächtigen Assyrer einzugehen, den sie fürchteten. Und außerdem brachten sie Öl nach Ägypten – offensichtlich als Bestechung –, um sich so die Hilfe ihres alten Feindes zu erkaufen. Aber auf diese Weise mehrten sie lediglich Lüge und Gewalttat. Kein menschlicher Einfallsreichtum konnte den Tag abwenden, an dem der Herr aufgrund ihrer Sünden an ihnen handeln würde.

Vers 3

Hos 12,3: Auch mit Juda hat der HERR einen Rechtsstreit; und er wird Jakob heimsuchen nach seinen Wegen, nach seinen Handlungen ihm vergelten.

Und auch mit Juda hatte der HERR einen Rechtsstreit. Denn das mutmachende Wort in Hosea 11,11 bedeutete nicht unbedingt, dass Gott mit ihnen völlig zufrieden war. Die Nachkommen Jakobs ahmten nämlich als Ganzes die Betrügerei der Person nach, von der sie abstammten. Deshalb mussten sie nach ihren Wegen heimgesucht werden. Und deshalb musste ihnen nach ihren Handlungen vergolten werden.

Verse 4-7

Hos 12,4-7: 4 Im Mutterleib hielt er die Ferse seines Bruders, und in seiner Manneskraft kämpfte er mit Gott: 5 Er kämpfte mit dem Engel und überwand, er weinte und flehte zu ihm; in Bethel fand er ihn, und dort redete er mit uns. 6 Und der HERR, der Gott der Heerscharen – HERR ist sein Gedenkname. 7 Du denn, kehre um zu deinem Gott; bewahre Güte und Recht, und hoffe beständig auf deinen Gott.

In den Versen 4 bis 7 steht Jakob vor uns, der in jeder Hinsicht ein Bild des Volkes ist, das von ihm abstammt. Von Geburt an ein Überlister, zeigte er schon im Mutterleib seine andere übervorteilende Art, indem er – wie uns in 1. Mose 25,26 berichtet wird – seinen Bruder an der Ferse festhielt. Doch es war bei ihm Gnade eingekehrt. In seiner Not hielt er sich an Gott fest oder, wie es auch übersetzt werden kann, „er verhielt sich wie ein Fürst Gottes“. Damit machte er seinem neuen Namen, Israel, alle Ehre – denn Israel bedeutet: Fürst Gottes.

Als er nicht mehr kämpfen konnte, klammerte er sich an den, gegen den er gekämpft hatte. Auf diese Art und Weise errang er den Sieg – als er weinte und Gott anflehte. Es war das, was einmal jemand als „die unwiderstehliche Kraft der Schwachheit“ bezeichnet hat – ein Sichfesthalten an dem, der mächtig ist. Der Apostel Paulus formuliert das wie folgt: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2Kor 12,10). Das war das Geheimnis, warum Jakob die Oberhand bei Gott behielt, der ihn in Bethel gefunden hatte, als er wegen seiner Sünde ein Flüchtling und Wanderer war. Die Worte „Dort redete er mit uns“ machen – so wie ich es verstehe – deutlich, dass sich das Wort des Herrn an Jakob in jener Nacht, als er nur einen Stein als Kopfkissen hatte, auch auf sein ganzes Haus bis ans Ende der Zeit bezieht. Was auch immer ihre Verfehlungen sein mögen, sein Auge wird immer auf sie gerichtet sein: „Der HERR, der Gott der Heerscharen – HERR [Jahwe – der Ewige, der Unveränderliche] ist sein Gedenkname.“

Oh, dass Israel aus all diesen Dingen lernen, zu ihrem Gott umkehren, Güte und Recht bewahren und beständig auf Ihn hoffen würde!

Vers 8

Hos 12,8: Ein Händler ist er; in seiner Hand ist eine Waage des Betrugs, er liebt zu übervorteilen.

Stattdessen waren sie nur den ursprünglichen Verhaltensweisen ihres Vaters Jakob gefolgt. Aus diesem Grund vergleicht Gott Ephraim mit einem Kaufmann bzw. Händler, in dessen Hand eine Waage des Betrugs ist. Es ist in Wirklichkeit ein Kanaan bzw. Kanaaniter – denn so lautet das Wort, das mit Händler übersetzt wurde. Könnte man den Hebräer, wie man ihn seit jeher kennt, treffender beschreiben? Gewissenlos, wenn geschäftliche Interessen auf dem Spiel stehen: Der Antisemitismus Europas ist zweifelsfrei in hohem Maß ein Gereicht über Jakobs Betrügereien.[2]

Vers 9

Hos 12,9: Und Ephraim spricht: Ich bin doch reich geworden, habe mir Vermögen erworben; in all meinem Erwerb wird man mir keine Ungerechtigkeit nachweisen, die Sünde wäre.

Dabei ist er – wenn er Vorteile aus der Not oder Habgier seiner Opfer zu schlagen sucht – sich seines Unrechts überhaupt nicht bewusst. Und so beglückwünscht er sich selbst zu seinem anwachsenden Reichtum, während sich sein Geschäft aufgrund von unrechtmäßig erworbenem Gewinn von Tag zu Tag vergrößert. Ja, er sagt sogar: „In all meinem Erwerb wird man mir keine Ungerechtigkeit nachweisen, die Sünde wäre.“

Vers 10

Hos 12,10: Ich aber bin der HERR, dein Gott, vom Land Ägypten her; ich werde dich wieder in Zelten wohnen lassen wie in den Tagen der Festzeit.

Aber wie düster das Bild in der Gegenwart auch sein mag – und diese Gegenwart reicht von den Tagen Hoseas bis auf den heutigen Tag –, der HERR hat die Nation, deren Gott Er „vom Land Ägypten her“ war, niemals völlig verworfen. Aus reiner Gnade wird Er sie in ihr früheres Land zurückbringen, alle seine Verheißungen erfüllen und sie in den vollen Genuss des wahren Laubhüttenfestes bringen. Wenn ihre Mühsal beendet, ihre Lektion gelernt und ihr Kampf zu Ende sein wird, dann wird ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum wohnen. Dann wird ihnen niemand mehr Angst machen.

Vers 11

Hos 12,11: Und ich habe zu den Propheten geredet, ja, ich habe Gesichte vermehrt und durch die Propheten in Gleichnissen geredet.

Mit diesem Ziel hatte Gott zu ihnen durch seine Propheten geredet, indem Er Visionen vermehrte und Gleichnisse verwendete. Auf diese Weise legte Er den unglücklichen Zustand auf die Gewissen des Volkes und ermutigte es durch die Verheißung von Segnungen, die von ihrer Umkehr abhängig waren. Bei der Beschäftigung mit dem Dienst dieser Propheten ist es wichtig, an die Belehrung des Neuen Testaments zu denken, dass keine Prophezeiung der Heiligen Schrift von eigener Auslegung ist. Jede Prophezeiung muss im Hinblick auf die Wege Gottes verstanden werden, die sowohl Hosea als auch Daniel so ausführlich dargelegt haben. Das Ziel aller Aussprüche dieser Männer Gottes ist das Erreichen des Tages des Herrn und die Errichtung des Reiches Gottes in Herrlichkeit auf der Erde. Dann wird Israel von Herzen zu dem HERRN zurückgekehrt sein und ihren einst verworfenen Messias als den Sohn Davids anerkennen, auf den es so lange Zeit gewartet hat.

Vers 12

Hos 12,12: Wenn Gilead Frevel ist, so werden sie nur Nichtiges werden. In Gilgal opferten sie Stiere; so werden auch ihre Altäre wie Steinhaufen sein auf den Furchen des Feldes.

Das Wirken der Propheten diente dazu, den wahren Zustand bloßzulegen. Sie deckten die Ungerechtigkeit von Gilead auf. Überall war Nichtigkeit zu lesen. In Gilgal, wo einst die Schmach Ägyptens weggewälzt worden war, brachten sie Opfer, aber nicht dem HERRN. Überall standen Altäre wie Steinhaufen auf den Furchen des Feldes aufgeschichtet, doch nicht zur Ehre Gottes.

Vers 13

Hos 12,13: Und Jakob floh in das Gebiet von Aram, und Israel diente um eine Frau und hütete um eine Frau.

So sind sie erneut ein Abbild von Jakob, der wegen seines Betrugs in das Gebiet Aram/Syrien floh. Dort hütete er Labans Schafe, um sich durch harte Arbeit seine Frau zu erwerben.

Vers 14

Hos 12,14: Und der HERR führte Israel durch einen Propheten aus Ägypten herauf, und durch einen Propheten wurde es gehütet.

Als der Herr in der Vergangenheit die Zeit gekommen sah, Israel aus Ägypten heraufzuführen, tat Er das durch einen Propheten. Auch in der Wüste hütete und bewahrte Er sein Volk in allen ihren Prüfungen durch einen Propheten. Diese Art prophetischer Dienst muss erneut ausgeführt werden, bevor sie aus der Knechtschaft ihrer Sünden befreit und in den Genuss des verheißenen Erbes gebracht werden können.

Vers 15

Aber anstatt davon zu lesen, dass sie auf das Wort des Herrn hörten und sich vor Ihm demütigten, als Er seine Diener zu ihnen sandte, heißt es:

Hos 12,15: Ephraim erzürnte ihn bitterlich, und sein Herr wird seine Blutschuld auf ihm lassen und ihm seine Schmähung vergelten.

Ein von Gott gesandter Dienst, der beachtet und befolgt wird, führt zu Ausbreitung und Segen. Aber wenn das Zeugnis des Geistes Gottes zurückgewiesen wird, vergrößert sich die Schuld dessen, der sich dagegen verhärtet, und macht dessen Zustand nur noch schlimmer. Ein Grundsatz besagt: Verweigertes Licht macht die Finsternis nur umso größer. Daher ist ein zartes Gewissen so unentbehrlich, ein Gewissen, das schnell auf jedes einzelne Wort Gottes reagiert.


Originaltitel: „Notes on the Prophecy of Hosea“
aus Notes on the Minor Prophets, 1909

Übersetzung: Andreas Albracht

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Anmerkungen

[1] Daher entwickelte sich besonders in Juda Heuchelei: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir“ (Mk 7,6; Jes 29,13). Diese Gefahr besteht immer dort, wo sowohl die Lehre als auch die äußere Form stimmen, das Herz jedoch von Gott entfernt ist. Davor sollte sich jedes Kind Gottes hüten. Siehe Lukas 12,1. – [Hrsg.]

[2] Anm. d. Red.: Diese Aussage von Ironside kann leicht missverstanden werden, und zwar als eine Entschuldigung für den Antisemitismus; was der Autor mit Sicherheit nicht so beabsichtigt hat.


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