Der Brief des Paulus an die Kolosser (0)
Einleitung

Stanley Bruce Anstey

© SoundWords, online seit: 10.06.2022, aktualisiert: 09.03.2024

Einleitung

Der Anlass für den Brief

Der Anlass für den Brief an die Kolosser war, dass eine Reihe von Irrlehren aufgekommen waren. Sie stammten aus der griechischen Philosophie, dem heterodoxen Judentum und dem Mystizismus. Diese Irrtümer waren der Anfang dessen, was später als Gnostizismus bekannt werden sollte. Gnostizismus bedeutet „höheres Wissen“ und beschreibt treffend, was bestimmte Lehrer fälschlicherweise zu besitzen behaupteten. Diese falschen Lehren machten der frühen Kirche in verschiedenen Gegenden zu schaffen. Einer dieser Orte war Kolossä.

Diese Lehren versuchten, die Existenz Gottes, die Schöpfung, den Ursprung des Bösen usw. unabhängig von der göttlichen Offenbarung der Heiligen Schrift zu erklären. Sie behaupteten, eine höhere Offenbarung zu haben als die, die die Apostel der Kirche überliefert hatten (Jud 3 „Geliebte, während ich allen Fleiß anwandte, euch über unser gemeinsames Heil zu schreiben, war ich genötigt, euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen.“). Der schlimmste Irrtum: Sie leugneten die Gottheit und die wahre Menschheit Christi. Diese Lästerung barg die Gefahr, dass die Gläubigen von der Wahrheit der Person und des Werkes Christi abgezogen wurden, und musste widerlegt werden.

Wie im Philipperbrief, so bemühte sich Paulus auch in diesem Brief eher darum, vorausschauend zu handeln, als nur zu reagieren, so wie er es in den Briefen an die Korinther und die Galater getan hatte. Er wollte also eher vorbeugen als korrigieren. Die Kolosser hatten diese Lehre noch nicht übernommen, standen aber in der Gefahr, ihr zu erliegen. Deshalb warnt Paulus sie vor dem Charakter dieses Übels und bekämpft es, indem er auf der Wahrheit der Person Christi und des Werkes Christi besteht.

Die heutige Anwendung des Briefes

Auch wenn der Gnostizismus heute keine so große Bedrohung für die Kirche darstellt wie in den ersten Jahrhunderten, so hat dieser Brief dennoch einen wichtigen Platz im Kanon der Heiligen Schrift. Wenn wir ihn heutzutage auf uns anwenden, dann weist er unsere Neigung zurück, bei der Auslegung der Heiligen Schrift unsere eigene Phantasie zu benutzen. Jemand, der einmal auf diese Weise versucht worden war, sagte: „Man kann zwischen den Zeilen der Schrift oft mehr finden als auf den Zeilen der Schrift!“

Es erübrigt sich, zu sagen, dass es gefährlich ist, über Gottes inspiriertes Wort zu spekulieren. Wenn wir unsere Vorstellungskraft in göttlichen Dingen auf diese Weise gebrauchen, dann ist das so, als hätte ein Israelit über den Altar Gottes den „Meißel geschwungen“, um etwas einzumeißeln, was er sich selbst ausgedacht hatte (2Mo 20,25 „Und wenn du mir einen Altar aus Steinen machst, sollst du ihn nicht aus behauenen Steinen bauen; denn hast du deinen Meißel darüber geschwungen, so hast du ihn entweiht.“). Das war streng verboten. Da die Auslegungsgrundsätze nicht klar festgelegt sind, wenn wir unsere Phantasie auf diese Weise auf die Heilige Schrift anwenden, ist es nicht schwierig, Gottes Wort fast alles sagen zu lassen, was wir wollen! Die große Gefahr dabei ist, über das hinauszugehen, was Gott offenbart hat, und in Irrtum zu geraten. Jede derartige Manipulation des Wortes Gottes kann als mystische Lehre eingestuft werden.

Der Hauptunterschied zwischen dem Mystizismus der Gnosis und dem versteckten Mystizismus von heute: Die Gnostiker machten ihre falschen Aussagen und Lehren unabhängig von der göttlichen Offenbarung der Heiligen Schrift; die Mystik, mit der wir heute konfrontiert sind, beruft sich dagegen auf das Wort Gottes, um ihre phantasievollen Vorstellungen und Auslegungen zu stützen.

Leider liegt mystischer Lehre meist geistlicher Stolz zugrunde, wie Paulus in diesem Brief sagt: „aufgebläht von dem Sinn seines Fleisches“ (Kol 2,18). Jemand lässt sich auf diese Art von Gedanken ein, weil es ihn auszeichnet: Denn was göttliche Erkenntnis betrifft,  so hat er etwas, was andere nicht haben. Er kann seine Freunde mit seinen hochtrabenden Worten beeindrucken, was zu seinem Stolz beiträgt. Mit der Zeit nimmt seine Vorliebe seinen Verstand in Beschlag – nämlich nach Hinweisen auf die seiner Meinung nach verborgenen Bedeutungen der Heiligen Schrift zu suchen; und bald wird diese Neigung zu seinem einzigen Ziel. Er reißt einen Satz der Heiligen Schrift aus dem Zusammenhang und legt ihn so aus, dass er etwas bedeutet, worauf normalerweise niemand jemals käme – es sei denn, der Mystiker enthüllt es. Wenn diese Gedanken mit einer hochtrabenden, geistlichen Sprache vorgestellt werden und der Mystiker nach außen hin ein heiliges Leben führt, können unbefestigte Gläubige davon eingenommen werden und glauben, dass es sich wirklich um etwas Besonderes handelt. Daraus entsteht bei manchen Eingeweihten die Meinung, sie hätten einen „Insiderweg zur höheren Wahrheit“. Zweifellos ist das vorherrschende Merkmal der mystischen Lehre die ungenaue und schwammige Ausdrucksweise, wie die Gedanken präsentiert werden. Wer von so einer Ausdrucksweise beeindruckt ist, gibt diese unklaren, verschwommenen Vorstellungen als tiefe Wahrheit aus.

Zwei große Gefahren in der Christenheit

Der Mystizismus ist eine von zwei großen Gefahren im christlichen Bekenntnis: „zurückzuweichen“ (Heb 10,39) von dem, was offenbart worden ist, und „weiterzugehen“ (2Joh 9) oder über das hinauszugehen, was offenbart worden ist. Das eine ist Abfall und das andere ist Mystizismus. Der Hebräerbrief befasst sich mit dem Abfall und der Kolosserbrief mit dem Mystizismus. Das Heilmittel des Apostels gegen diese mystischen Verirrungen bestand darin, den Blick der Kolosser auf Christus im Himmel zu richten. Das sollte ihnen dabei helfen, dass ihnen wieder bewusst wurde, dass sie dort mit Ihm vereint sind. Dieses Empfinden hatten sie in gewissem Maße verloren, oder sie standen in der Gefahr, es zu verlieren, weil in die Gemeinde Vorstellungen über göttliche Themen eingedrungen waren, die nur auf Vermutungen beruhten.

Das Geheimnis

Zweifellos tadelt der Kolosserbrief Christen, die sich auf mystische und philosophische Lehren einlassen. Aber es gibt noch einen wichtigeren Zweck, warum dieser Brief in unseren Bibeln steht: Er ist einer von nur zwei Briefen, die die Wahrheit des „Geheimnisses“ enthüllen – die höchste aller Wahrheiten. Das Geheimnis wird in Römer 16,25 „Dem aber, der euch zu befestigen vermag nach meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, nach der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war,“; 1. Korinther 2,7; 4,1 (2:7) sondern wir reden Gottes Weisheit in einem Geheimnis, die verborgene, die Gott vor den Zeitaltern zu unserer Herrlichkeit zuvor bestimmt hat;“ „(4:1) Dafür halte man uns: für Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes.“ und 1. Timotheus 3,9 „die das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren.“ erwähnt, aber erst im Epheserbrief und im Kolosserbrief wird es entfaltet.

Man könnte annehmen, dass Paulus mit dem Wort Geheimnis hier etwas Mysteriöses und Schwerverständliches meint. Aber das ist nicht so. Er spricht von einem „Geheimnis“, das „in Gott verborgen“ war und den Heiligen „von den Zeitaltern her“ verborgen war (Kol 1,26 „das Geheimnis, das von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen offenbart worden ist,“); jetzt aber wurde es durch besondere Offenbarungen bekanntgemacht, die den Aposteln – und insbesondere dem Apostel Paulus – gegeben wurden (Röm 16,25 „Dem aber, der euch zu befestigen vermag nach meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, nach der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war,“; Eph 3,4.5.9 (4) woran ihr beim Lesen mein Verständnis in dem Geheimnis des Christus wahrnehmen könnt –, (5) das in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden ist, wie es jetzt offenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geist:“ „und alle zu erleuchten, welches die Verwaltung des Geheimnisses sei, das von den Zeitaltern her verborgen war in Gott, der alle Dinge geschaffen hat;“; Kol 1,26 „das Geheimnis, das von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen offenbart worden ist,“). W. Kelly sagt:

[Das Geheimnis] bedeutet nicht etwas, was man nicht verstehen kann, sondern etwas, was man erst wissen konnte, nachdem Gott es mitgeteilt hatte.

Das Geheimnis [mystery] bedeutet das, was geheim gehalten wurde, nicht das, was man nicht verstehen konnte (das stellen sich Menschen unter einem Geheimnis [mystery] vor). Ein Geheimnis ist vielmehr ein nicht enthülltes Geheimnis [secret] – ein Geheimnis, das im Alten Testament noch nicht enthüllt war, aber im Neuen Testament vollständig offenbart wird.[1]

Das Geheimnis ist Gottes krönendes Juwel, das die göttliche Offenbarung der Wahrheit vollendet (Kol 1,25 „deren Diener ich geworden bin nach der Verwaltung Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, um das Wort Gottes zu vollenden:“). Da „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ im Geheimnis enthalten sind, gibt es nichts mehr zu offenbaren (Kol 2,2.3 (2) damit ihre Herzen getröstet werden, vereinigt in Liebe und zu allem Reichtum der vollen Gewissheit des Verständnisses, zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes, (3) in dem verborgen sind alle Schätze der Weisheit und [der] Erkenntnis.“)! Paulus betont diese Tatsache, um den Kolossern zu zeigen, dass ihnen die gesamte Wahrheit offenbart worden war. Daher brauchten sie über das, was Gott im Geheimnis offenbart hatte, nicht hinauszugehen, um nach mehr Wahrheit zu suchen. Doch genau dazu forderten die Mystiker die Gläubigen auf.

Das Geheimnis offenbart Gottes großen Vorsatz, seinen Sohn in der zukünftigen Welt (dem Tausendjährigen Reich) in zwei Sphären zu verherrlichen: im Himmel und auf der Erde. Und zwar tut Er dies durch ein besonders geformtes Gefäß des Zeugnisses: durch die Kirche [die Versammlung], die der Leib und die Braut Christi ist (Eph 1,8-10 (8) die er uns gegenüber hat überströmen lassen in aller Weisheit und Einsicht, (9) indem er uns kundgetan hat das Geheimnis seines Willens, nach seinem Wohlgefallen, das er sich vorgesetzt hat in sich selbst (10) für die Verwaltung der Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist, in ihm,“). Die Wahrheit, die im Geheimnis offenbart wird, ist weder die heilige und herrliche Person Christi noch sein Leben als Mensch, als Er vollkommen gehorsam in dieser Welt wandelte; auch nicht sein Tod und seine Auferstehung und seine Wiederkunft, um sein Reich aufzurichten, in dem Er über die Welt herrschen wird. Darüber hatte bereits das Alte Testament gesprochen, und daher waren diese Dinge denen, die mit diesen Schriften vertraut waren, bekannt. Das Alte Testament sagt eindeutig einen jüdischen Messias voraus, der über die ganze Erde herrschen wird und unter dem Israel und die heidnischen Völker sich freuen werden.

Aber das Geheimnis offenbart noch mehr: Wenn Christus regieren wird, wird Er eine himmlische Ergänzung an seiner Seite haben: die Kirche, seinen Leib, seine Braut. Gott wird sich dieses besonderen Gefäßes bedienen, um an diesem kommenden Tag der Offenbarung die Herrlichkeit Christi zu mehren (Off 21,9–22,5). Darüber hinaus offenbart das Geheimnis, dass Christus nicht nur über die Erde herrschen wird, sondern über das ganze Universum (Himmel und Erde); alles wird unter der Verwaltung Christi und der Kirche stehen.

Das Verhältnis des Kolosserbriefs zum Epheserbrief

Die Briefe an die Epheser und die Kolosser ähneln sich in ihren Eigentümlichkeiten und könnten daher als „zusammengehörige“ Briefe bezeichnet werden. Jemand hat darauf hingewiesen, dass von den 155 Versen im Epheserbrief nicht weniger als 54 Verse denen im Kolosserbrief ähneln! Der Apostel schrieb beide Briefe von Rom aus, während er dort gefangen gehalten wurde, und schickte beide Briefe bei derselben Gelegenheit (zusammen mit dem Brief an Philemon) durch denselben Boten, Tychikus (Eph 6,21.22 (21) Damit aber auch ihr um meine Umstände wisst, wie es mir geht, so wird Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener im Herrn, euch alles kundtun, (22) den ich ebendeshalb zu euch gesandt habe, damit ihr unsere Umstände erfahrt und er eure Herzen tröstet.“). Bei der Übergabe des Kolosserbriefs wird noch Onesimus erwähnt (Kol 4,7-9 (7) Alles, was mich angeht, wird euch Tychikus kundtun, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn, (8) den ich ebendeshalb zu euch gesandt habe, damit er eure Umstände erfahre und eure Herzen tröste, (9) mit Onesimus, dem treuen und geliebten Bruder, der von euch ist; sie werden euch alles kundtun, was hier geschieht.“).

Diese beiden Briefe stehen zusammen mit dem Philipperbrief als die sogenannten „Gefängnisbriefe“ in unseren Bibeln nebeneinander und ergänzen einander, was die Offenbarung der Wahrheit betrifft. Der Epheser- und der Kolosserbrief entfalten die Wahrheit des Geheimnisses unter zwei verschiedenen Aspekten, und im Philipperbrief sehen wir einen Mann (Paulus) im Einklang mit der Wahrheit des Geheimnisses wandeln. Auf diese Weise vermittelt er uns ein Bild von dem Seelenzustand, der jemand kennzeichnen sollte, der diese große Wahrheit erkannt hat. Der Brief an Philemon (ein Gläubiger aus Kolossä) wurde zur gleichen Zeit geschrieben wie der Kolosserbrief und wurde ihm von Onesimus überbracht.

Der Kolosserbrief ist das Gegenstück zum Epheserbrief. Obwohl die beiden Briefe eine bemerkenswerte Ähnlichkeit aufweisen, stehen sie in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zueinander und vermitteln die entgegengesetzte (aber ergänzende) Seite der Wahrheit des Geheimnisses. Zum Beispiel:

  • Der Epheserbrief entwickelt die zukünftige Seite des Geheimnisses, das heißt was sichtbar wird, wenn Christus und die Kirche nach Gottes ewigem Vorsatz über das Universum herrschen (Eph 1,8-10 (8) die er uns gegenüber hat überströmen lassen in aller Weisheit und Einsicht, (9) indem er uns kundgetan hat das Geheimnis seines Willens, nach seinem Wohlgefallen, das er sich vorgesetzt hat in sich selbst (10) für die Verwaltung der Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist, in ihm,“). Der Kolosserbrief hingegen betont, dass diese große Wahrheit in der Welt gegenwärtig von den Gläubigen dargestellt wird (Kol 1,27 „denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses ist unter den Nationen, das ist: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit;“).

  • Im Epheserbrief wird der Gläubige als in den himmlischen Örtern sitzend gesehen, mit der Schöpfung unter ihm (Eph 2,6 „und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus,“). Im Kolosserbrief dagegen wird der Gläubige auf der Erde gesehen, mit der Hoffnung, einmal im Himmel zu sein (Kol 1,5 „wegen der Hoffnung, die für euch aufgehoben ist in den Himmeln, von der ihr zuvor gehört habt in dem Wort der Wahrheit des Evangeliums,“).

  • Der Epheserbrief betrachtet die Gläubigen „in Christus“ (Eph 1,3 usw.), während der Kolosserbrief betont, dass Christus in den Gläubigen ist (Kol 1,27: „Christus in euch“).

  • Was die Einheit von Christus und der Gemeinde betrifft, so behandelt der Epheserbrief die Vorrechte des „Leibes“; den Leib Christi finden wir in der Mitte des Briefes (Eph 4,12 „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus,“). Der Kolosserbrief hingegen offenbart die Fülle, die dem „Haupt“ innewohnt; das Haupt finden wir wiederum in der Mitte des Briefes (Kol 2,19 „und nicht festhaltend das Haupt, aus dem der ganze Leib, durch die Gelenke und Bänder unterstützt und zusammengefügt, das Wachstum Gottes wächst.“).

  • Im Epheserbrief wird die Gemeinde als die „Fülle“ dessen betrachtet, „der alles in allem erfüllt“ (Eph 1,23), während im Kolosserbrief Christus die „Fülle“ der Gottheit ist und unsere Vollendung in Ihm liegt (Kol 2,9 „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig;“).

  • „Der Heilige Geist“ nimmt im Epheserbrief eine herausragende Stellung ein, wenn es darum geht, dass die Wahrheit in Bezug auf den Gläubigen entfaltet wird; dagegen wird „der Geist“ im Kolosserbrief nur ein Mal erwähnt (Kol 1,8 „der uns auch eure Liebe im Geist kundgetan hat.“).

  • Das „Erbteil“ wird im Epheserbrief als die materielle Schöpfung betrachtet (Eph 1,11.14.18 „in dem wir auch ein Erbteil erlangt haben, die wir zuvor bestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Rat seines Willens,“ „der das Unterpfand unseres Erbes ist, zur Erlösung des erworbenen Besitzes, zum Preise seiner Herrlichkeit.“ „damit ihr, erleuchtet an den Augen eures Herzens, wisst, welches die Hoffnung seiner Berufung ist, welches der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen“), während das Erbteil im Kolosserbrief unser geistlicher „Anteil“ an den Segnungen in Christus in der Höhe ist (Kol 1,12 „danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht,“).

  • Die beiden charakteristischen Eigenschaften Gottes, mit denen der Mensch ursprünglich geschaffen wurde („Bild“ und „Gleichnis“; s. 1Mo 1,26 „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserem Bild, nach unserem Gleichnis; und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das sich auf der Erde regt!“) und die durch den Sündenfall verlorengingen, werden in diesen Briefen als wiederhergestellt in dem neuen Schöpfungsgeschlecht betrachtet. Im Epheserbrief geht es darum, dass der Mensch das Gleichnis Gottes[2] wiedererlangt (Eph 4,21-32); der Kolosserbrief spricht dagegen davon, dass das Bild wiederhergestellt wird (Kol 3,5-14).

  • Im Epheserbrief gibt es keine „Wenn“-Bedingungen, im Kolosserbrief dagegen schon (Kol 1,23 „sofern ihr in dem Glauben gegründet und fest bleibt und nicht abbewegt werdet von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt, das gepredigt worden ist in der ganzen Schöpfung, die unter dem Himmel ist, dessen Diener ich, Paulus, geworden bin.“ usw.).

  • In Anlehnung an die Typologie der Eroberung Kanaans durch Israel sieht der Epheserbrief den Gläubigen im Besitz des Landes, während der Kolosserbrief den Gläubigen kurz hinter dem Jordan sieht, wie er sich in Gilgal selbst richtet. Er ist also noch nicht im Besitz des Landes.

Die Entwicklung der Wahrheit in den Paulusbriefen

Es ist oft gesagt worden, dass die höchste Wahrheit in der Bibel in den Briefen an die Epheser und Kolosser zu finden ist. In den Paulusbriefen finden wir ein deutliches Fortschreiten der Wahrheit im Zusammenhang mit unserer Einsmachung mit Christus. Sie kann wie folgt dargestellt werden:

 


tot
gekreuzigt
Galater
begraben
tot
gekreuzigt
Römer
auferweckt
lebendig gemacht
begraben
tot
––––––
Kolosser
sitzend
auferweckt
lebendig gemacht
––––––
––––––
––––––
Epheser


Der Kolosserbrief stellt Christus nicht als „gekreuzigt“ dar so wie die Briefe an die Römer und die Galater. Er beginnt damit, die Wahrheit über unsere Einsmachung mit Christus zu entwickeln: „tot“, „begraben“, „lebendig“ und „auferweckt“ mit Ihm. Er erreicht jedoch nicht die Höhe des Epheserbriefes, wo der Gläubige in Ihm in den himmlischen Örtern „mitsitzt“ (Eph 2,6). Im Kolosserbrief wird der Gläubige auf der Erde gesehen mit einer Hoffnung, die für ihn im Himmel aufbewahrt ist (Kol 1,5 „wegen der Hoffnung, die für euch aufgehoben ist in den Himmeln, von der ihr zuvor gehört habt in dem Wort der Wahrheit des Evangeliums,“). Die Stellung des Gläubigen im Kolosserbrief gleicht der des Herrn selbst, nachdem Er von den Toten auferstanden, aber noch nicht zu seinem Vater in der Höhe aufgefahren war. J.N. Darby sagt:

Der Kolosserbrief schildert den auferstandenen Menschen noch auf Erden – der Zustand, in dem wir sind –, was sich auf den Himmel bezieht, aber noch nicht dort ist, wie Christus selbst vierzig Tage war – man ist über den Jordan gezogen, aber Kanaan ist noch nicht in Besitz genommen.[3]

Zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen des fleischlichen Menschen in den Paulusbriefen

Der gefallene Zustand des Menschen wird in den Paulusbriefen auf zwei verschiedene Arten betrachtet:

  • Im Kolosserbrief und im Epheserbrief wird der Mensch als tot in seinen Sünden gesehen (Eph 2,1-3 (1) auch euch, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden, (2) in denen ihr einst wandeltet nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem Fürsten der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams; (3) unter denen auch wir einst alle unseren Wandel führten in den Begierden unseres Fleisches, indem wir den Willen des Fleisches und der Gedanken taten und von Natur Kinder des Zorns waren wie auch die Übrigen.“; Kol 2,13 „Und euch, als ihr tot wart in den Vergehungen und der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat;“).
  • Im Römerbrief und im Galaterbrief wird der Mensch als lebendig in seinen Sünden gesehen (Röm 1,32 „die, obwohl sie Gottes gerechtes Urteil erkennen, dass die, die so etwas tun, des Todes würdig sind, es nicht allein ausüben, sondern auch Wohlgefallen an denen haben, die es tun.“; Gal 1,4 „der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters,“).

Im Römerbrief wird Christus selbst als der Lebendige auf der Erde betrachtet, der „aus dem Geschlecht Davids gekommen ist dem Fleisch nach und erwiesen ist als Sohn Gottes in Kraft“ (Röm 1,3.4). Im Kolosserbrief und im Epheserbrief hingegen wird Christus als tot betrachtet, und die Macht Gottes ist auf Ihn angewendet worden, indem Gott Ihn aus den Toten auferweckt und zu seiner Rechten gesetzt hat (Eph 1,19-21 (19) und welches die überragende Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, (20) in der er gewirkt hat in dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte; (und er setzte ihn zu seiner Rechten in den himmlischen Örtern, (21) über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen,“; Kol 1,18; 2,12 (1:18) Und er ist das Haupt des Leibes, der Versammlung, der der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe.“ „(2:12) mit ihm begraben in der Taufe, in dem ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus [den] Toten auferweckt hat.“).

Das Heilmittel für den Zustand des Menschen, der auf zweierlei Weise gefallen ist, findet sich in Christus in zweierlei Hinsicht: in seinem Tod und in seiner Auferstehung. Der Römerbrief sieht den Menschen anders: Dort lebt er als schuldiger Sünder auf der Erde. Er ist so sehr von der Verderbnis seiner Sünden und der Herrschaft seiner sündigen Natur bedrängt, dass er keine Macht hat, seinen sündigen Lebenswandel zu beenden. Gottes Weg, ihn aus seinem bedauernswerten Zustand zu befreien, besteht darin, ihn in den Tod zu schicken. Dies ist die Linie der Wahrheit, die im Römerbrief entwickelt wird: Der Tod Christi (und die Einsmachung des Gläubigen mit Ihm) wird als Heilmittel für diesen Zustand dargestellt. Christus ist gestorben und hat sein Blut vergossen (Röm 3,25; 4,25; 5,6-8 (3:25) den Gott dargestellt hat als ein Sühnmittel durch den Glauben an sein Blut, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden“ „(4:25) der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist.“ „(5:6) Denn Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. (5:7) Denn kaum wird jemand für einen Gerechten sterben; denn für den Gütigen könnte vielleicht noch jemand zu sterben wagen. (5:8) Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.“), um die Sünden des Gläubigen wegzunehmen, aber auch, um dem Sünder vor Gott richterlich ein Ende zu setzen und so seine Verbindung zu lösen mit dem Zustand, in dem er lebt (Röm 6,1-11; Gal 2,20 „und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“).

Der Epheserbrief sieht den Menschen jedoch anders: Der Mensch ist tot in Vergehungen und Sünden (Eph 2,1 „auch euch, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden,“), und das Heilmittel für ihn liegt in der Kraft Gottes, die Christus aus den Toten auferweckt hat und ihn zusammen mit Christus lebendig macht (Eph 2,5 „hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht – durch Gnade seid ihr errettet –“). Auf diese Weise wird der Mensch aus dem Zustand des geistlichen Todes befreit, in dem er festgehalten war. Der Brief an die Kolosser enthält sogar beide Aspekte (Kol 2,11-13 (11) in dem ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus, (12) mit ihm begraben in der Taufe, in dem ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus [den] Toten auferweckt hat. (13) Und euch, als ihr tot wart in den Vergehungen und der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat;“).

Die Abfassung des Briefes

Paulus war nicht das Werkzeug, durch das die Versammlung in Kolossä gebildet worden war. Viele Gläubige in Kolossä hatten ihn nie gesehen (Kol 2,1 „Denn ich will, dass ihr wisst, welch großen Kampf ich habe um euch und die in Laodizea und so viele mein Angesicht im Fleisch nicht gesehen haben,“). Wie die Versammlung in Rom, so war auch die Versammlung in Kolossä durch die Arbeit anderer Diener des Herrn entstanden. Sie war wahrscheinlich die Frucht der Arbeit von Epaphras (Kol 1,7; 4,12.13 (1:7) so wie ihr gelernt habt von Epaphras, unserem geliebten Mitknecht, der ein treuer Diener des Christus für euch ist,“ „(4:12) Es grüßt euch Epaphras, der von euch ist, ein Knecht Christi Jesu, der allezeit für euch ringt in den Gebeten, damit ihr vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes steht. (4:13) Denn ich gebe ihm Zeugnis, dass er viel Mühe hat um euch und die in Laodizea und die in Hierapolis.“), der vielleicht schon früher durch Paulus errettet worden war (Apg 19,10 „Dies aber geschah zwei Jahre lang, so dass alle, die in Asien wohnten, sowohl Juden als auch Griechen, das Wort des Herrn hörten.“).

Wir erfahren nicht, warum Epaphras mit Paulus in Rom gewesen war. Er könnte dorthin gegangen sein, um Paulus darüber zu informieren, dass es ein Problem mit der neuen, falschen Lehre gab, die in der Gegend von Kolossä im Umlauf war. Vielleicht wollte er Paulus auch um Rat fragen. Wir wissen nur, dass Epaphras irgendwie als Gefangener in Rom landete und ein „Mitgefangener“ von Paulus war (Phlm 23 „Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus,“). Das erklärt, warum Tychikus den Brief an die Kolosser überbrachte und nicht Epaphras (Kol 4,7.8 (7) Alles, was mich angeht, wird euch Tychikus kundtun, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn, (8) den ich ebendeshalb zu euch gesandt habe, damit er eure Umstände erfahre und eure Herzen tröste,“). Offenbar schrieb Paulus den Brief als Antwort auf Epaphras’ Bitte um Hilfe. Da Paulus wusste, dass Epaphras in der Wahrheit gegründet war, empfahl er ihn und seinen Dienst den Kolossern von Herzen als etwas, das sie beachten sollten (Kol 1,7 „so wie ihr gelernt habt von Epaphras, unserem geliebten Mitknecht, der ein treuer Diener des Christus für euch ist,“).

Wie im Philipperbrief, so gibt es auch in diesem Brief kein Zitat aus dem Alten Testament. Vielleicht vermied Paulus solche Zitate, weil die Gemeinde in Kolossä hauptsächlich aus bekehrten Heiden bestand, die natürlich nicht mit dem Alten Testament vertraut waren. Oder möglicherweise gab es unter den Mystikern, die versuchten, unter den Kolossern Fuß zu fassen, eine starke jüdische Gruppierung, und diese Juden hätten alttestamentliche Zitate so verstehen können, dass Paulus das Halten des Gesetzes befürwortet hätte.


Übersetzt aus The Epistle of Paul to the Colossians. The Mystery – „Christ in You The Hope of Glory“
Hamer Bay, Kanada (Christian Truth Publishing) 2018
E-Book, Juli 2018 (Version 3.2)

Übersetzung: Stephan Isenberg

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Anmerkungen

[1] W. Kelly, Lectures on the Epistle of Paul, the Apostle, to the Ephesians with a new translation, Anmerkungen zu Epheser 1 und 3, S. 25, 114.

[2] Anm. d. Red.: Dass der Mensch nach dem Gleichnis Gottes (s. 1Mo 1,26: „nach unserem Gleichnis“) geschaffen war, bedeutet, dass er Gott ähnlich oder Gott gleich geschaffen worden war, wie das hebräische Wort damah sagt.

[3] J.N. Darby, Betrachtung über das zweite Buch Mose (Synopsis), Fußnote zu 2. Mose 14. Online auf www.bibelkommentare.de.

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Hinweis der Redaktion:

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