Der Prophet Amos (5)
Kapitel 5

Henry Allen Ironside

© SoundWords, online seit: 28.09.2019

Ein Klagegesang für Israel

Verse 1-5

Amos 5,1-5: 1 Hört dieses Wort, das ich über euch anhebe, ein Klagelied, Haus Israel! 2 Sie ist gefallen, die Jungfrau Israel, sie wird nicht wieder aufstehen; sie liegt hingeworfen auf ihrem Land, niemand richtet sie auf. 3 Denn so spricht der Herr, HERR: Die Stadt, die zu tausend auszieht, wird hundert übrig behalten, und die zu hundert auszieht, wird zehn für das Haus Israel übrig behalten. 4 Denn so spricht der HERR zum Haus Israel: Sucht mich und lebt. 5 Und sucht nicht Bethel auf und geht nicht nach Gilgal und geht nicht hinüber nach Beerseba; denn Gilgal wird gewiss weggeführt und Bethel zunichtewerden.

Traurig und ernst sind die Takte des einer Totenklage gleichenden Klageliedes, das der Prophet über die gefallene Nation anstimmt, die er so sehr liebt. Als Volk haben sie in ihrer Treue zu Gott völlig versagt, und auf der Grundlage ihrer Verantwortlichkeit konnten sie nicht einen einzigen Segen einfordern. Sollte Gott sie je wieder annehmen, dann wäre das nur aufgrund reiner Gnade möglich; andernfalls wäre nichts als Gericht ihr Teil.

Auf diese Weise ist auch alles fehlgeschlagen, was Gott den Menschen anvertraut hat, und das Zeugnis, das der Gemeinde anvertraut wurde, ist davon nicht ausgenommen. Aber Gott hat unendliche Quellen in sich selbst, die nur durch das Versagen des Gegenstandes seiner Gnade dargestellt werden können. Das mag den Geist all derer aufmuntern und erbauen, die stöhnen und weinen angesichts der unglücklichen Spaltungen und des Versagens dessen, was eigentlich zum Zeugnis für Christus und zur Ehre Gottes in diesen letzten Tagen sein sollte. Trotzdem braucht Mutlosigkeit und Dunkelheit die Seele nicht zu überwältigen. Vielleicht wird Gott von seinem Volk dennoch von seinem Volk gesucht werden. Wenn Zerbrochenheit und Buße sichtbar werden, ist Er in der Lage, über die Maßen mehr zu tun, als wir erbitten oder erdenken.

Die Jungfrau Israel war so tief gefallen, dass sie niemals mehr aufstehen konnte – jedenfalls nicht aus eigener Kraft heraus. Auch gab es unter ihren Führern niemand, der sie wieder aufrichten konnte. Und doch ruft und bittet Gott die, die es hören würden: „Sucht mich, und ihr werdet leben!“ Niemand konnte sie retten als nur der, von dem sie traurigerweise abgewichen waren. Bethel, Gilgal oder Beerseba aufzusuchen, wo die Höhen waren, die von götzendienerischem Eigenwillen zeugten, würde umsonst sein, wie Amos 4,5 ironischerweise beschreibt. Die Tatsache, dass es eine gewisse heilige Verbindung gab mit den eben genannten Orten, würde doch nicht verhindern, dass sie in die Gefangenschaft gehen müssten. Bethel war nicht länger das Haus Gottes, noch sprach Gilgal davon, dass ihre Schande weggetan war. Im Gegenteil, Bethel war ein Ort der Dämonen geworden und Gilgal selbst war eine Schande.

Nichts hat fortwährend Bestand, sei es der Traum der Apostolizität oder die moderne Idee, die bei manchen als der „ursprüngliche Grund des Zusammenkommens“ und „das Fortbestehen des Tisches des Herrn“ gelten. Was einmal eindeutig von Gott gegeben war, wird schnell verdorben, wo Stolz und Eigenwille am Werk sind. Manchmal muss man sich von solchen Dingen abwenden und sie ablehnen, weil man dem Herrn treu ist, trotz der Tatsache, dass sie in der Vergangenheit einmal in Verbindung mit Segen und der offensichtlichen Bestätigung Gottes standen.

Die Schrift muss uns leiten, nicht menschliche Regeln und Anmaßen von Macht. „Was von Anfang an war“ ist die ursprüngliche Grundlage – und nur das!

Verse 6-9

Amos 5,6-9: 6 Sucht den HERRN und lebt, damit er nicht wie ein Feuer in das Haus Josephs eindringe und es verzehre und für Bethel niemand da sei, der es lösche – 7 sie verwandeln das Recht in Wermut und werfen die Gerechtigkeit zu Boden –; 8 sucht den, der das Siebengestirn und den Orion gemacht hat und den Todesschatten in Morgen verwandelt und den Tag zur Nacht verfinstert, der die Wasser des Meeres ruft und sie über die Fläche der Erde ausgießt: 9 HERR ist sein Name; der Verwüstung losbrechen lässt über den Starken, und Verwüstung kommt über die Festung.

So wird Israel aufgefordert, den Herrn zu suchen und zu leben, „damit er nicht wie ein Feuer in das Haus Josephs eindringe und es verzehre und für Bethel niemand da sei, der es lösche”. Leider wurde die Warnung in den Wind geschlagen, und so wurde ein paar Jahre später das angekündigte Gericht ausgeführt, und das Haus Joseph wurde verzehrt und wird nicht wieder gesammelt werden bis zum Tag der kommenden Herrlichkeit.

Der Hirte von Tekoa schwingt sich in Amos 5,7-9 zu inspirierten poetischen Höhen auf. Die Sterne in ihren Bahnen waren zweifellos schon oft der Inhalt seiner Gedanken gewesen, als er seine Herden des Nachts auf den Hügeln weidete. Auch hatte er offensichtlich das Buch Hiob studiert, denn Amos 5,8 ist eng verbunden mit Hiob 9,9 und Hiob 38,31.

Er ruft aus: „Sie verwandeln das Recht in Wermut und werfen die Gerechtigkeit zu Boden –; sucht den, der das Siebengestirn und den Orion gemacht hat und den Todesschatten in Morgen verwandelt und den Tag zur Nacht verfinstert, der die Wasser des Meeres ruft und sie über die Fläche der Erde ausgießt: HERR ist sein Name; der Verwüstung losbrechen lässt über den Starken, und Verwüstung kommt über die Festung.“ „Siebengestirn“ (Kimah) und „Orion“ (Kesil) können nicht mit Bestimmtheit benannt werden. Aber es steht fest, dass es sich um einige der größeren Konstellationen handeln muss. An allen Stellen, wo diese Worte vorkommen, sowohl in Hiob als auch hier, werden sie gewöhnlich mit „die sieben Sterne“ oder auch „Siebengestirn“ und „Orion“ übersetzt. Im Allgemeinen betrachteten die Hebräer sie als eine Gruppe von hell glänzenden Sternengruppen, welche die Majestät und Herrlichkeit ihres Schöpfers zur Schau stellen.

Der Prophet ruft die, die Unrecht tun, dazu auf, den zu betrachten, der die Himmelskörper dirigiert und sie ins Dasein rief; der der Sonne befiehlt, in ihrer Herrlichkeit aufzugehen und die Dunkelheit zu vertreiben; dessen Hand gleichermaßen die Planetenlaufbahn lenkt, so dass es wieder Nacht wird; und der dem dürstenden Boden Regen schenkt.

Vers 10

Amos 5,10: Sie hassen den, der im Tor Recht spricht, und verabscheuen den, der Unsträflichkeit redet.

Mit Ihm haben die Menschen es zu tun, ob sie es wollen oder nicht. Seine Augen sehen all die unheiligen Wege derer, die bei seinem Namen genannt sind. Willentlich verwerfen sie das Licht, indem sie „den hassen, der im Tor Recht spricht, und den verabscheuen, der Unsträflichkeit redet“. Sie haben viele Nachfolger. Am häufigsten sind es diejenigen, die unachtsam oder sündig wandeln, die voll Empörung gegen diejenigen auftreten, die ihre unheiligen Wege tadeln. Man erfreut sich an unbekümmerten, menschengefälligen Predigern und Lehrern, aber man verabscheut und verschmäht die treuen und gottesfürchtigen Männer. Aber diejenigen, die sich für Gott einsetzen, müssen Widerstand und böse Reden von den Ungeistlichen und weltlich Gesinnten erwarten.

Verse 11-13

Amos 5,11-13: 11 (Darum, weil ihr den Geringen niedertretet und Getreideabgaben von ihm nehmt, habt ihr Häuser von behauenen Steinen gebaut und werdet nicht darin wohnen, liebliche Weinberge gepflanzt und werdet deren Wein nicht trinken. 12 Denn ich weiß, dass eurer Übertretungen viele und eure Sünden zahlreich sind.) Sie bedrängen den Gerechten, nehmen Lösegeld und beugen das Recht der Armen im Tor. 13 Darum schweigt der Einsichtige in dieser Zeit, denn es ist eine böse Zeit.

Wohl wissend, dass man ihn für seine Zurechtweisung im Tor hassen würde, verkündet Amos trotzdem ohne Entschuldigung und ohne Zögern seine ernste Botschaft. Mit Nachdruck weckt er das Gewissen über die Sünden, die bald das kommende Gericht über die schuldig gewordene Nation bringen würden. Sie unterdrückten die Armen, dachten nur an ihre eigene Behaglichkeit, quälten die Gerechten, nahmen Bestechungsgelder an, behandelten die Bedürftigen im Gericht – im Tor – ungerecht. Obendrein waren sie so anmaßend und frech, dass es klug erschien, ihre Bosheit nicht aufzudecken. So böse waren die Zeiten.  

Verse 14.15

Amos 5,14.15: 14 Trachtet nach dem Guten und nicht nach dem Bösen, damit ihr lebt; und der HERR, der Gott der Heerscharen, wird so mit euch sein, wie ihr sagt. 15 Hasst das Böse und liebt das Gute und richtet das Recht auf im Tor; vielleicht wird der HERR, der Gott der Heerscharen, dem Überrest Josephs gnädig sein.

Doch Gottes treuer Diener verhüllt nichts und benutzt keine schmeichelnden Worte. Er offenbart ihre Heuchelei und ruft sie auf, das Gute zu suchen und nicht das Böse, damit sie leben möchten und damit der Herr der Heerscharen wieder mit ihnen sei. Sollten diese Worte beachtet werden, würde Gott dem Überrest Josephs vielleicht noch einmal gnädig sein.

Verse 16.17

Amos 5,16.17: 16 Darum, so spricht der HERR, der Gott der Heerscharen, der Herr: Auf allen Plätzen Wehklage! Und auf allen Gassen wird man sagen: Wehe, wehe! Und man wird den Ackerbauern zur Trauer rufen und die des Klageliedes Kundigen zur Wehklage; 17 und in allen Weinbergen wird Wehklage sein. Denn ich werde durch deine Mitte ziehen, spricht der HERR.

Männer wie Amos sind niemals beliebt bei der Mehrheit. Aber wie viel besser ist es, die Zustimmung des Einen zu haben als den Beifall der Massen. Wie Paulus, sprach auch Amos, „nicht um Menschen zu gefallen, sondern Gott, der die Herzen prüft“. Dennoch schmäht er nicht und verwendet keine herabsetzende oder beleidigende Sprache gebraucht; er legt ihnen ernst und aufrichtig ihre Schuld dar und ruft sie innig und liebevoll zur Buße auf.

Würde dieser Ruf nicht beachtet werden, so würden Klagegesänge ihre hohlen Lieder ablösen, wie es dann auch bald geschah, als die Freude erlosch und sogar in den Weinbergen der Freude die Wehklage der Verwüsteten gehört wurde.

Verse 18-20

Amos 5,18-20: 18 Wehe denen, die den Tag des HERRN herbeiwünschen! Wozu soll euch der Tag des HERRN sein? Er wird Finsternis sein und nicht Licht: 19 Wie wenn jemand vor dem Löwen flieht, und es begegnet ihm ein Bär; und er kommt nach Hause und stützt seine Hand an die Mauer, und es beißt ihn eine Schlange. 20 Wird denn nicht der Tag des HERRN Finsternis sein und nicht Licht, und Dunkelheit und nicht Glanz?

Es ist erstaunlich, wie tief Menschen fallen können und wie sie dennoch sehr fromm und religiös daherreden. So erbärmlich und widerwärtig war Israels Zustand, dass man unter ihnen noch solche fand, die vorgaben, sich den Tag des Herrn herbeizuwünschen, um dadurch, wie sie hofften, von ihren Schwierigkeiten befreit zu werden, die ja die Frucht ihres Eigensinns waren. Ein Wehe wird über solche Leute ausgerufen. Was würde ihnen der Tag des Herrn denn nützen? Es wäre so, als würde ein Mensch vor einem Löwen fliehen und einen Bären treffen. Und um dieser zweiten Gefahr zu entgehen, flieht er in sein Haus; aber als er dort seine Hand an die Wand lehnt, kommt eine giftige Schlange, die sich in einer Ecke oder hinter einem Vorhang verborgen hat, und beißt ihn mit ihrem Giftzahn. Es gibt kein Entkommen vor dem Gericht. Der Tag des Herrn wird der Tag des Offenbarwerdens sein und deshalb wird dieser Tag für den Bösen ein Tag des Dunkels und nicht des Lichtes sein. „Er wird Finsternis sein und nicht Licht.“

Verse 21-24

Amos 5,21-24: 21 Ich hasse, ich verschmähe eure Feste, und eure Festversammlungen mag ich nicht riechen: 22 Denn wenn ihr mir Brandopfer und eure Speisopfer opfert, habe ich kein Wohlgefallen daran; und das Friedensopfer von eurem Mastvieh mag ich nicht ansehen. 23 Tu den Lärm deiner Lieder von mir weg, und das Spiel deiner Harfen mag ich nicht hören. 24 Aber das Recht wälze sich einher wie Wasser, und die Gerechtigkeit wie ein immer fließender Bach!

Die Unwirklichkeit ihrer Feste und Festversammlungen war im Einklang mit diesem angeblichen Wunsch, den Tag des Herrn zu sehen. Während der Regierungszeit Jerobeams II. hatte es den Schein, dass Jahwe geehrt würde, aber in Wahrheit wurde Er durch die unheiligen Praktiken, in denen die Leute schwelgten, entehrt. Deshalb hasste Er ihre Festtage und wollte Er ihre Opfer nicht annehmen. Er suchte nach Gerechtigkeit, die wie ein mächtiger Strom durch das Land fließt, nicht nach äußeren Formen und Festen.

Verse 25-27

Amos 5,25-27: 25 Habt ihr mir vierzig Jahre in der Wüste Schlachtopfer und Speisopfer dargebracht, Haus Israel? 26 Ja, ihr habt den Sikkut, euren König, und den Kijun, eure Götzenbilder, getragen, das Sternbild eures Gottes, die ihr euch gemacht hattet. 27 So werde ich euch über Damaskus hinaus wegführen, spricht der HERR, Gott der Heerscharen ist sein Name.

Doch ihr gegenwärtiger unaufrichtiger Weg war leider von Anfang an charakteristisch für sie. Sogar in den Tagen der Wüstenwanderung hatten sie neben dem Heiligtum des HERRN ein Zelt für ihre Götzen aufgestellt und ihnen in diesen vierzig denkwürdigen Jahren Opfer dargebracht. „So werde ich euch über Damaskus hinaus wegführen, spricht der HERR, Gott der Heerscharen ist sein Name.“

Das ist außerordentlich wichtig und wert, dass wir es ernsthaft betrachten. Der Herr verkündet hier, dass die assyrische Gefangenschaft das Ergebnis ihres sündhaften Götzendienstes „in der Wüste“ war! Über siebenhundert Jahre waren seit diesem ersten Abfall vergangen; aber da er bisher eigentlich noch nie gerichtet worden war, müssen sie jetzt dafür gerichtet werden! Wie sehr ermahnt doch dieser Abschnitt solche, die es ablehnen, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass Sünde, die nicht gerichtet wird, wie Sauerteig immer weiter arbeitet und den ganzen Teig durchsäuert! Und wieder wird uns dieselbe Lektion mit Nachdruck erteilt, die wir schon ausgiebig in Hosea 7,4-7 betrachtet haben. Oh, dass sich doch unsere Herzen der Wahrheit beugten, die uns die Schrift immer wieder bezeugt, damit wir dadurch vor Verunreinigung von nicht gerichtetem Bösen bewahrt bleiben!

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Originaltitel: „Notes on the Prophecy of Amos“
aus Notes on the Minor Prophets, 1909

Übersetzung: Anne Brust


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