Praktische Lehren aus dem Buch Hiob (5)
Einer aus Tausend

William Kelly

© CSV, online seit: 27.10.2005, aktualisiert: 18.12.2018

Leitverse: Hiob 32–33

Mit Kapitel 32 beginnt im Buch Hiob ein ganz neuer Abschnitt. In dem, was vorausging, wurde die Frage nach der Ursache des Leidens des Gläubigen gestellt. Das war keine „theoretische Frage“. Es war die abschreckendste „Praxis“ in der Person des schwer geprüften Hiob. Die Frage war nicht durch den suchenden Menschenverstand, sondern durch die lebendige Wirklichkeit aufgekommen. Daher werden die dabei beteiligten Menschen so ganz und gar davon in Beschlag genommen. Mit allem, was in ihnen ist, ringen sie um die Lösung. Sie sprechen ihre tiefsten Überzeugungen aus; alles, was sie in ihrem langen Leben erfahren, gesehen, erlebt, überdacht haben, werfen sie in die Waagschale, um einander ihre Überzeugung deutlich zu machen. In der Hitze ihres Wortgefechts wird selbst die Freundschaft, die sie verbindet, vergessen. Und dazu kommen von den Lippen des Leidenden selbst bange Klagen, Verzweiflung, auflehnende Worte gegen Gott, aber auch zuweilen Worte innigen, kindlichen Gottvertrauens.

Jetzt sind alle diese Worte verstummt. Alles was die drei Freunde wussten, haben sie ausgesprochen. Vergebens! Sie konnten Hiob nicht überzeugen. Auch er hat sein ganzes Herz Gott und den Menschen gegenüber ausgeschüttet. Und nun ist Gottes Augenblick gekommen. Zuerst wird Er durch einen Menschen zu Hiob und den Freunden sprechen. Danach kommt Gott selbst. Und das Ende ist, dass in Seinem Licht alle Herzen offenbar werden.

Zuerst also ein Mensch, von Gott gesandt. Aber hatten Menschen nicht schon genug gesprochen? Hatte sich nicht deutlich gezeigt, dass sie ohnmächtig waren, eine Lösung für das Rätsel um Hiobs Leiden zu finden? Waren sie nicht jeder auf seinem eigenen Standpunkt stehen geblieben? Wir haben gesehen, dass die drei Freunde unrecht hatten. Aber auch Hiob hatte nicht recht. Da nun bei diesen vier alten, weisen Männern die Schwachheit des Menschen so deutlich ans Licht getreten war, sollten wir doch geneigt sein zu sagen: Nun keinen Menschen mehr, mit Mangel an Einsicht wie andere, mit der Möglichkeit einer verkehrten Gesinnung; nun Gott selbst!

Aber es ist gut und lehrreich für uns, dass Gott in der Geschichte Hiobs anders gehandelt hat, als wir es getan hätten; auch hier zeigt sich wieder die Wahrheit des Wortes, das Jesaja sprach: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken … sind höher als eure Gedanken“ (Jes 55,8.9). Gut und lehrreich, weil auch jetzt unter Gläubigen häufig Streit vorkommt, wobei es wohl manchmal darum geht, die Wahrheit zu verstehen, aber dadurch, dass auf beiden Seiten Verkehrtheit, Einseitigkeit, Eigenliebe vorhanden sind, eine Lösung unmöglich wird. Wie kann man in einem solchen Streit manchmal verwirrt werden, nicht wissen, welche Seite man wählen soll! Aber wie herrlich, wenn Gott dann inmitten der Gläubigen einen aus Tausend schenkt, der recht zu unterscheiden weiß, sich nicht durch Für- oder Widersprechende verblenden lässt, sondern zu Gottes Zeit Gottes Wort redet, das dann immer ein erlösendes Wort ist, ein Wort, das wirklich eine Lösung aus den Schwierigkeiten enthält. Wie wird den Gläubigen durch einen solchen gedient, wie werden sie, die vorher gegeneinander standen, beschämt, aber gleichzeitig zueinander gebracht!

Solch einer war Elihu. Sein Name bedeutet „Mein Gott ist Er“. Ja, er war ein wahrhaftiger, getreuer Zeuge Gottes. Er war der rechte Mittler, der Hiobs Freunde auf ihre Verkehrtheiten hinwies und der Hiob den Weg des Heils und des Lebens zeigte.

Über die Person des Elihu hat man sehr viele Vermutungen angestellt. Allerlei Schwierigkeiten sind aufgeworfen worden, die eine rechte Einsicht in den Platz, den er im Buch Hiob einnimmt, unmöglich machen. Man hat an der historischen Echtheit von Elihu gezweifelt. Aber warum? Es gibt keinen einzigen Grund, dem geschichtlichen Wert seiner Person weniger Glauben zu schenken als der von Eliphas oder Hiob selbst. Man hat in ihm, ebenso wie in Melchisedek, ein übernatürliches Wesen sehen wollen. Aber dazu liegt kein Grund vor. Es ist wahr, dass eine Gestalt wie Melchisedek ganz unerwartet in der Geschichte der Schrift erscheint. Ohne Vater, ohne Mutter, ohne Geschlechtsregister, weder Anfang der Tage, noch Ende des Lebens habend (Heb 7,3). Aber das gibt uns nicht das Recht, in seiner Person etwas Übernatürliches zu sehen. All die genannten Dinge gelten nicht seiner Person, sondern seiner Priesterschaft. Die Schrift selbst gibt uns denn auch die rechte Lösung: Es war so mit Melchisedek, weil Gott ihn als Hinweis auf Christus gebrauchen wollte. So haben auch wir nicht die geringste Veranlassung, von Elihu etwas anderes zu denken, als dass er einer der Bekannten Hiobs und seiner drei Freunde war. Wohl aber geben die plötzliche, unerwartete Weise, in der er erscheint, der Augenblick, da dies geschieht, und der Inhalt seiner Worte uns einen Fingerzeig, in ihm, wenn nicht ein Vorbild im eigentlichen Sinne, so doch einen Hinweis auf Christus zu sehen. Er war einer der Gläubigen des Altertums, in denen der Geist Christi wirkte. Das zeigt sich in der Art und Weise, wie er die Gewissen zu treffen wusste und den Charakter Gottes aufrechterhielt.

Elihu war in vieler Hinsicht ein Vorbild von Christus. Aber wir wollen zuerst auf einen wichtigen Unterschied hinweisen. Der Herr Jesus sprach, obwohl Er auf der Erde einen niedrigen Platz einnahm, stets mit Autorität. Nicht wie die Schriftgelehrten, sondern wie einer, der die Worte Gottes, die Worte des Vaters, besaß, um sie Menschen kundzutun. Das war Seine Sendung. Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, musste auch den Vater kundmachen (Joh 1,18).

Eine ganz andere Haltung schickte sich für Elihu. Er trat wohl als ein Mann Gottes auf, aber doch auch als ein Mensch, mit Schwachheiten wie andere Menschen. Er bemüht sich sehr, den Nachdruck darauf zu legen, dass er sich in dieser Hinsicht nicht höherstellt als die vier Freunde (Hiob 33,6). Er selbst gibt eine Erklärung, warum er nicht eher gesprochen hat. Er war ein verhältnismäßig junger Mann, und in jenen Tagen würde es als sehr unschicklich gegolten haben, wenn ein Jüngerer den Älteren nicht alle Ehrerbietung erwies. Unter Gläubigen wurde diese gute Gewohnheit noch mehr in Ehren gehalten. Elihu war, im Vergleich zu Eliphas und den anderen, tiefer in Gottes Gedanken eingeführt, tiefer vielleicht auch als Hiob selbst. Aber bis sie sich vollkommen ausgesprochen haben, bis die Freunde Hiobs nichts mehr zu sagen haben und auch dieser mit seinen Worten ganz zu Ende ist, bleibt Elihu im Hintergrund. Als er endlich zum Vorschein kommt, hat er eine ziemlich lange Vorrede nötig, um sich zu entschuldigen, dass er als verhältnismäßig junger Mann seine Meinung äußert. Doch zeigt sich göttliche Weisheit in seinen Worten. Dies lässt uns erkennen, wie man in jener Zeit auf das achtete, was sich geziemte, auch im Verhältnis der Menschen untereinander. Und wenn der Geist Gottes in jemand wirkte – weit davon entfernt, solche äußere Ehrerbietung außer Acht zu lassen –, hielt er sich noch strenger daran, gerade weil das eigene Ich in der Gegenwart Gottes gerichtet war.

Aber als Elihu dann zu sprechen beginnt, gibt er dem Ernst Ausdruck, der ihn erfüllt, wenn er auf der einen Seite drei Männer sieht, voller Irrtum anstelle von Demütigung vor Gott, da sie die Frage, die sie beschäftigte, nicht im Licht Gottes untersucht hatten; und wenn er auf der anderen Seite Hiob findet, der bis zu diesem Augenblick immer noch nicht gelernt hatte, sein Herz völlig Gott zu unterwerfen, obwohl Gott solch einen schrecklichen Weg mit ihm ging.

Doch wenn auch die volle Demütigung noch nicht zu sehen war, so hatte Hiob viel gelernt, und die Prüfung war schon jetzt nicht ohne Frucht für sein Glaubensleben geblieben. Wir sehen hieraus aufs Neue, wie keine der Bemühungen Gottes mit uns, wo oder wann auch, für die Seele verloren geht. Es scheint manchmal, als sei die Züchtigung ohne Wirkung, aber im Herzen wird bereits ein Segen vorbereitet. Das Wichtigste in den Prüfungen eines Gläubigen ist nicht das, was wir davon sehen, sondern was im Herzen gewirkt wird. So ist es auch mit den Segnungen. Nicht die Wohltaten, mit denen Gottes Gnade die Seinen reich beschenkt, sind das vornehmste, sondern der Segen, den das Herz dabei erfährt, das sich in seinem Gott erfreut. Und sein Zustand vor Gott ist zugleich der beste Segen und die Voraussetzung für alle äußeren Segnungen.

So war auch Hiob wohl gründlich dabei, sich selbst kennenzulernen. Weder seine Klagen gegenüber Gott, noch den Konflikt mit den Freunden, die er hoch achtete, hätte er früher für möglich gehalten. In allem, was er vorher erfahren hatte, waren solche Gedanken und Gefühle niemals aufgekommen. Und was die Freunde betrifft: Musste ihre Unfähigkeit, Hiob zu überzeugen, sie nicht veranlassen zu fragen, ob vielleicht bei ihnen etwas fehle? War nicht vielleicht ein Balken in ihrem eigenen Auge, wodurch sie den Splitter im Auge Hiobs nicht sahen? Gewiss, die Erkenntnis von alledem war in dem Augenblick, als Elihu auftrat, weder bei ihnen noch bei Hiob zu finden. Aber das Bewusstsein war geweckt durch alles, was vorgefallen war. Und in diesem Augenblick tritt dann Gott ins Mittel, zuerst durch den Dienst des Elihu, um die Lösung zu bringen.

Elihu nimmt also, wobei er sich für sein Sprechen entschuldigt, den letzten Platz ein. Diese Haltung aber entspringt einem Grundsatz, den der Mensch sich fortwährend weigert zu verstehen, nämlich dass die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein sollen. Hierin stimmt dieses Buch mit der ganzen Schrift und mit allen Wegen Gottes mit dem Menschen überein. Er bringt im rechten Augenblick Menschen nach vorn, die bis dahin gänzlich unbekannt waren; so wie wir von Elihu nicht einmal den Namen gehört haben, ehe Gottes Zeit, zu sprechen, für ihn da ist. Wir hätten es anders gemacht. Wenn wir ein Buch wie das über Hiob hätten schreiben müssen, würden wir unsere Leser vom ersten Anfang an auf eine Gestalt wie Elihu vorbereitet haben, die doch solch eine wichtige Rolle spielen würde. Aber Gott handelt mit vollkommener Weisheit. Gerade durch den bescheidenen Platz, den Elihu bis zu dem Augenblick seines Sprechens eingenommen hatte, macht seine Erscheinung einen so großen Eindruck.

In Verbindung mit dem Charakter Elihus wollen wir noch mit einem Wort darauf hinweisen, dass, wenn er von dem Odem des Allmächtigen (Hiob 32,8; 33,4) spricht, hiermit etwas anderes gemeint ist als das, was wir unter der Inspiration der Schrift zu verstehen pflegen. Das Buch Hiob selbst gehört zu „aller Schrift, die von Gott eingegeben ist“ (2Tim 3,16), das heißt, dass darin – so wie wir es kennen – alles nach Gottes Plan aufgezeichnet ist. Aber eben so wie wir in den Ausführungen Hiobs und seiner Freunde ganz gewiss verkehrte Dinge finden, so sind auch die Worte Elihus nicht vollkommen, nicht unfehlbar, nicht das inspirierte Wort Gottes. Als Gläubiger ließ er sich durch den Geist Gottes leiten und belehren und entnahm seine Ansichten und Gefühle dem Odem des Allmächtigen, wie es die Gläubigen auch heute noch in Wort und Schrift tun können. Aber das ist etwas anderes als Inspiration, durch die eine vollkommene und unfehlbare Wiedergabe der Gedanken Gottes gewirkt wird. Diese finden wir in den Briefen von Paulus zum Beispiel, und es ist sehr lehrreich festzustellen, dass, wenn Paulus ein einziges Mal seine eigenen Gefühle als Gläubiger wiedergibt, er dies dann ausdrücklich dabei erwähnt, meinend, wie er sagt, doch auch den Geist Gottes zu besitzen (1Kor 7,10.12.25.40). Zu Recht aber ist durch viele Schriftausleger darauf hingewiesen worden, dass wir darum doch wohl ganz bestimmt diesen Aussprüchen des Paulus großen Wert beimessen müssen.

Aus dem Zusammenhang, in dem sie vorkommen, geht ja deutlicher hervor, dass es gute Gedanken waren, in Übereinstimmung mit Gottes Geist. Und so geziemt es uns, Elihus Rede zu würdigen; wir können von dem Guten und Schönen, das er sagt, viel lernen. Dennoch ist der allgemeine Charakter seiner Aussprüche der eines Gläubigen, der sich – ohne direkte Inspiration – durch den Geist Gottes leiten lässt. Er ist darin treu gewesen, und so konnte Gott ihn als einen aus Tausend gebrauchen, um in der Sache, die durch Hiob und seine Freunde so sehr getrübt war, mehr Klarheit zu bringen. Und gerade weil er darin mit den Gläubigen dieser Zeit ganz auf einer Linie steht, ist er für uns solch ein treffendes Vorbild.

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Originaltitel: „Praktische Lehren aus dem Buch Hiob. (6) Einer aus Tausend“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 47, 1993, S. 207ff.

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