Der Prophet Sacharja (5)
Kapitel 5

Henry Allen Ironside

© SoundWords, online seit: 15.12.2021, aktualisiert: 29.04.2023

Die fliegende Rolle und das Epha

Auf die Visionen der Herrlichkeit, die wir in den letzten beiden Kapiteln betrachtet haben, folgen nun andere – ganz andere. Wenn Juda und Jerusalem gesegnet werden sollen, dann nur aufgrund souveräner Gnade. Denn es gibt keinerlei Verdienst; das Gegenteil ist der Fall. Das macht die „fliegende Rolle“ deutlich. Sie spricht von einem schonungslosen Gericht „nach ihren Werken“, das über alle kommen muss, die sich weigern, sich selbst nach dem Wort des lebendigen Gottes zu beurteilen und zu richten. Aber sie lässt uns auch wissen, dass Er, der Heilige, gegen den so schwer gesündigt wurde, einen Weg gefunden hat, wie Er alle, die sich an Ihn wenden und seinen Namen anrufen, in Gerechtigkeit erretten kann. Denn sonst wäre es unabwendbar, dass alle ausgerottet würden.

Da ist kein Wort und keine erkennbare Andeutung von irgendetwas anderem als einem gewaltigen Zorn. Und doch erhebt sich – im Licht der vorangehenden Symbole betrachtet – unser Herz in heiligem Jubel zum Lob der Gnade, die uns rettet.

Verse 1-4

Sach 5,1-4: 1 Und ich erhob wiederum meine Augen und sah: Und siehe, eine fliegende Rolle. 2 Und er sprach zu mir: Was siehst du? Und ich sprach: Ich sehe eine fliegende Rolle, ihre Länge zwanzig Ellen und ihre Breite zehn Ellen. 3 Und er sprach zu mir: Dies ist der Fluch, der über die Fläche des ganzen Landes ausgeht; denn jeder, der stiehlt, wird entsprechend dem, was auf dieser Seite der Rolle geschrieben ist, weggefegt werden; und jeder, der falsch schwört, wird entsprechend dem, was auf jener Seite der Rolle geschrieben ist, weggefegt werden. 4 Ich habe ihn ausgehen lassen, spricht der HERR der Heerscharen; und er wird in das Haus des Diebes kommen und in das Haus dessen, der bei meinem Namen falsch schwört; und er wird in seinem Haus herbergen und es vernichten, sowohl sein Gebälk als auch seine Steine.

Diese Vision ist von höchst ernstem Charakter und sollte recht deutlich zu allen Herzen sprechen, sowohl zu den Sündern aus den Nationen als auch zu denen des Volkes Israel. Doch in erster Linie bezieht sich diese Vision unverkennbar auf Juda. Sie wird ihre Erfüllung finden, wenn das Volk im Unglauben in sein Land zurückkehrt. Wenn wir die siebzehn Bücher studieren, die den letzten Teil des Alten Testaments ausmachen, dann ist es außerordentlich wichtig, dass wir uns an etwas erinnern: Gott hat durchweg Israel als Volk und Palästina als ihr Land vor Augen. Dieser scheinbar unbedeutende Streifen Land ist für Gott das Zentrum der Erde und all seiner Wege mit den Menschen auf der Erde. Gott hat dieses Land Abraham und seinen Nachkommen in einem unverbrüchlichen Bund gegeben. Dort wurde sein gesegneter Sohn geboren; dort lebte und starb Er. Von dort aus ist Er in den Himmel aufgefahren. Und zu ebendiesem Land wird Er höchstpersönlich zurückkehren, um das lange angekündigte Reich aufzurichten.

Dieses Land wurde jahrhundertelang von den Füßen hochmütiger heidnischer Eroberer zertreten, während seine rechtmäßigen Bewohner wegen ihrer Sünden unter die Nationen zerstreut worden waren. Aber sie werden dorthin zurückkehren. Ja, sie kehren sogar jetzt schon in großer Zahl in ihr Land zurück, wenn auch in der Finsternis der Seele und im Unglauben.[1] In ebendiesem Land wird Gott sie durch eine unvergleichlich harte Prüfung führen, die „eine Zeit der Drangsal für Jakob“ (Jer 30,7) oder „die große Drangsal“ (Mt 24,21) genannt wird. Dabei wird Er das Wertvolle vom Schändlichen trennen, die Sünder und Übertreter inmitten des Volkes vernichten und die Bußfertigen durch seine Gnade erretten. Diese Menschen werden am Tag seiner Macht den Kern seines Reiches bilden.

Von diesem vorbereitenden Gericht spricht die Vision, die jetzt unsere Aufmerksamkeit verlangt. Sacharja sieht am Himmel eine gewaltige Schriftrolle, die sich majestätisch und doch ziemlich rasch am Himmel fortbewegt, und zwar über das gesamte Land Kanaan. Bei näherer Betrachtung sieht er, dass die Rolle auf beiden Seiten mit Flüchen und Gerichten beschrieben ist. Auf der einen Seite befindet sich Gottes Wort gegen die, die ihrem Nächsten – gemäß der zweiten Gesetzestafel – Unrecht getan haben. Sie wird zuerst erwähnt, weil der Mensch die Bosheit der Sünde gegen seine Mitmenschen am besten nachvollziehen kann. Die andere Seite der Rolle spricht von dem Verderben, das über die beschlossen ist, die sich gemäß der ersten Gesetzestafel schuldig gemacht haben.

Das Gesetz Gottes, das „heilig und gerecht und gut“ ist (Röm 7,12), verurteilt sie: „Denn so viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch; denn es steht geschrieben: ,Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!‘“ (Gal 3,10). Der Jude rühmt sich dieses Gesetzes, und das, obwohl das Gesetz letztendlich nur von seiner Verurteilung redet.

Die fliegende Rolle ist die Antwort auf die Vermessenheit des Volkes, das am Sinai gerufen hatte: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun!“ (2Mo 19,8). Nach einer Prüfung, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende hingezogen hat, offenbart das Zeugnis gegen sie eine sehr ernste Tatsache: Das Volk hat in jedem Punkt versagt und muss folglich im Gericht ausgerottet werden.

Der Fluch liegt auf jedem Haus, in dem ein Dieb oder jemand, der bei Gottes Namen falsch schwört, gefunden wird, und bringt völlige Zerstörung mit sich. Das ist alles, was das Gesetz für einen Sünder tun kann; es kann den Übertreter nur verurteilen und verfluchen.

Und wer ist der Mensch, der das Gesetz nicht übertreten hat? Wo immer es verkündet worden ist, habe viele versprochen, es zu halten, doch keiner hat es jemals erfüllt. Kein aufrichtiger Mensch kann von sich behaupten, das Gesetz gehalten zu haben. Weil somit kein Mensch gerecht ist, kann es auch keine Errettung geben.

Doch Gott sei gepriesen, denn Er hat einen Weg gefunden, wie Männer und Frauen erlöst werden können, die jeden Anspruch auf seine Gunst verwirkt haben: „Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist (denn es steht geschrieben: ,Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!‘)“ (Gal 3,13). Weil das Erlösungswerk vollbracht ist, fließt nun die Gnade zu jedem Gesetzesübertreter, der seinen verlorenen Zustand anerkennt und sein Vertrauen auf den Erretter der Sünder setzt. Auf derselben Grundlage wird die fliegende Rolle in den letzten Tagen von den Häusern des gesamten Überrestes von Juda abgewendet werden. Denn dieser Überrest wird in Buße zu Gott umkehren und – so wie seine Vorfahren in der Passahnacht in Ägypten – unter dem Sühnungsblut Schutz finden. Dies hat bereits die wundervolle Vision in Kapitel 3 deutlich gemacht.

Verse 5-11

Sach 5,5-11: 5 Und der Engel, der mit mir redete, trat hervor und sprach zu mir: Erhebe doch deine Augen und sieh: Was ist dies, das da hervorkommt? 6 Und ich sprach: Was ist es? Und er sprach: Dies ist ein Epha, das hervorkommt; und er sprach: Das ist ihr Aussehen im ganzen Land. 7 Und siehe, eine Scheibe aus Blei wurde aufgehoben; und da war eine Frau, die mitten in dem Epha saß. 8 Und er sprach: Dies ist die Gottlosigkeit; und er warf sie mitten in das Epha hinein und warf das Bleigewicht auf dessen Öffnung. 9 Und ich erhob meine Augen und sah: Und siehe, da kamen zwei Frauen hervor, und Wind war in ihren Flügeln, und sie hatten Flügel wie die Flügel des Storches; und sie hoben das Epha empor zwischen Erde und Himmel. 10 Und ich sprach zu dem Engel, der mit mir redete: Wohin bringen diese das Epha? 11 Und er sprach zu mir: Um ihm im Land Sinear ein Haus zu bauen; und ist dies aufgerichtet, so wird es dort auf seine Stelle niedergesetzt werden.

Ab Vers 5 wird ein anderes, noch seltsameres Symbol erwähnt. Sacharja, der offensichtlich mit gesenktem Blick über das schreckliche Vorzeichen nachdenkt, das wir gerade betrachtet haben, wird von dem Engel, der die Vision deutet, geweckt und aufgefordert, die nächste bemerkenswerte Vision zu betrachten. Er sieht ein großes Epha, ein Gefäß zum Abmessen von Handelswaren, auf dem ein schweres unedles Metallstück, gleich einem Bleideckel, liegt. Als dieser Deckel angehoben wird, sieht er, wie eine Frau in das Epha geworfen wird. Nachdem das Epha wieder mit dem Bleigewicht bedeckt wird, erscheinen zwei andere Frauen mit Flügeln wie die eines Storches. Sie heben das Maß zwischen sich empor und fliegen damit Richtung Norden. Auf die Frage des Propheten: „Wohin bringen diese das Epha?“, erwidert der Engel: „Um ihm im Land Sinear ein Haus zu bauen; und ist dies aufgerichtet, so wird es dort auf seine Stelle niedergesetzt werden.“ Das ist das seltsame Vorzeichen, das der Prophet sieht. Doch was hat das Ganze zu bedeuten?

Auffällig ist, dass die letzten Visionen immer weniger gedeutet werden. Es ist, als ob der Herr über die ersten Visionen bereits genug Informationen gegeben und damit bereits eine solide Grundlage gelegt hat, damit die letzten Visionen verstanden werden können. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir das, was uns hier mitgeteilt wird, sorgfältig mit den Informationen vergleichen, die wir bereits erhalten haben.

Man hat verschiedene Auslegungen vorgeschlagen, was wohl das Epha bedeutet; viele von ihnen erscheinen äußerst phantasievoll. Eine der gängigsten ist diese: Das Epha sei das Symbol für den Handel und stehe für das besonders ausgeprägte Merkmal des jüdischen Volkes, das eine Nation eifriger Händler ist. Die Frau stelle die Ungerechtigkeit im Geschäftsleben dar, die nun ausgereift ist. Dass die Frau im Epha in das Land Sinear gebracht wird, weise darauf hin, dass die alte Stadt Babel wiederbelebt werde in großer Pracht als das zukünftige Handelszentrum des kommenden Tages. Ausleger, die dieser Ansicht sind, verweisen auf bestimmte Verhandlungen, die derzeit [Anfang des 20. Jh.] geführt werden über die Erschließung Mesopotamiens und die Ausweitung des Eisenbahnbetriebs. Ihrer Ansicht nach seien dies sichere Hinweise darauf, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden. Aber unserer Ansicht nach ist das Ganze reine Spekulation und wird in keiner Weise durch die Heilige Schrift gestützt. Meines Erachtens machen sowohl Jeremia als auch Jesaja deutlich, dass Babel gefallen ist und sich nicht mehr erheben wird.[2] Die Stadt ist buchstäblich mit Feuer verbrannt und völlig zerstört worden. Gott selbst hat deutlich erklärt, dass es für diese böse Stadt weder Heilung noch Erweckung geben wird.

Außerdem gibt es keinen überzeugenden Grund, anzunehmen, das Epha an sich sei zwangsläufig ein Symbol für große Handelsbestrebungen. Ist es nicht vielmehr das anerkannte Symbol für das Messen? Als ein solches Symbol spricht es davon, dass Gott die Sünde Judas und die Sünde des ganzen Hauses Israel mit unfehlbarer Genauigkeit wiegen und messen wird. Wenn ihre Missetat ausgereift ist, wird Gott in wundervoller Gnade die Gottlosigkeit von dem Überrest trennen, der bewahrt worden ist. Er wird an der Gottlosigkeit in Verbindung mit dem Ort ihres Ursprungs, dem Land Sinear, handeln. Denn die Frau im Epha spricht, wie ich meine, unmissverständlich von der Bosheit in religiöser Hinsicht, so wie auch die Frau, die den Sauerteig böser Lehre in der Speise des Volkes Gottes versteckt (Mt 13,33). Oder denken wir an die Frau Jesabel, die die Versammlung in Thyatira verdirbt, was in der entsetzlichen Gottlosigkeit der Frau, die „mit Purpur und Scharlach bekleidet“ ist, in Offenbarung 17 gipfeln wird.

Israels große religiöse Sünde war der Götzendienst. Sie waren von den Nationen abgesondert worden, Zeugen um des HERRN für den einen wahren Gott zu sein. Doch anstatt auf dem ihnen gegebenen Platz des Zeugnisses zu bleiben, wandten sie sich den Praktiken der Nationen zu. Dadurch reizten sie ihren Felsen und veranlassten Ihn, im Zorn gegen sie vorzugehen. Babel ist die Mutter des Götzendienstes. Es ist die Heimat von allem, was in religiöser Hinsicht falsch ist. In der Zeit des Endes wird dieser Geist der Gottlosigkeit von Juda getrennt und in das Land Sinear getragen werden von Frauen, die Flügel wie Störche haben. In den Frauen mit ihren Flügeln können wir ganz sicher ein Symbol der unreinen Kraft des menschlichen Geistes sehen, der zwar weiblich und reizend ist, jedoch von der Kraft des Fürsten der Gewalt der Luft angetrieben wird. In Sinear wird dem Geist der Gottlosigkeit ein Haus gebaut werden, das heißt, dort wird die Behausung der Gottlosigkeit sein und dort wird sie gerichtet werden.

Es handelt sich um eine moralische Kontinuität: Das buchstäbliche Babel findet seine Identität in dem „Geheimnis Babylon“ fortgesetzt, mit dessen Sünde sich Gott in vollem Umfang beschäftigen wird. Durch ihre Zauberei sind alle Nationen verführt worden, „und in ihr wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden und von all denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind“ (Off 18,24).

Auf diese Weise wird Israel geläutert, und jede Form des Götzendienstes wird seinem gerechten und endgültigen Gericht zugeführt werden. Dies ist die Vorbereitung dafür, damit das weltweite Reich unseres Gottes und seines Christus aufgerichtet wird.


Originaltitel: „Notes on the Prophecy of Zechariah“
aus Notes on the Minor Prophets, 1909

Übersetzung: Andreas Albracht

Vorheriger Teil Nächster Teil

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: Als Ironsides Buch Notes on the Minor Prophets („Anmerkungen zu den kleinen Propheten“) im Jahr 1909 erschien, waren in einer ersten Einwanderungswelle (Alija) ab den 1880er Jahren bis 1903 bereits 30.000 Juden nach Palästina eingewandert.

[2] Ich gehe an dieser Stelle nicht im Detail auf diesen Punkt ein, da ich dies bereits in meinem Kommentar zu Jeremia 50 und 51 getan habe. Der interessierte Leser möge hierzu mein Buch über die Prophezeiung Jeremias, den „weinenden Propheten“, und über die Klagelieder zur Hand nehmen: Notes on the Prophecy and Lamentations of Jeremiah „The Weeping Prophet“.


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen