Geistliches Wachstum (5)
Der Weg zum geistlichen Erwachsenwerden

Willem Johannes Ouweneel

© Bode, Online începând de la: 02.05.2002, Actualizat: 24.01.2018

Leitverse: Lukas 18,18-26; Philipper 3,7-14; Galater 4,19

Einleitung

In gewisser Weise gehen wir in dieser Artikelserie einen umgekehrten Weg. In den vorangehenden Artikeln haben wir auf das Endresultat des Erwachsenwerdens gesehen, während wir erst jetzt auf den Weg sehen wollen, der dorthin führt. Doch scheint mir dies ein logischer Ansatz zu sein. Wer eine Reise unternimmt, muss sich erst fragen, wo sein Zielpunkt liegt, bevor er festlegen kann, welcher Route er folgen soll. Wer „erwachsen“ werden will, muss zuerst eine Idee davon haben, wie Erwachsensein aussieht. Wer wachsen will, muss wissen, „wohin“ er wachsen soll. Umgekehrt ist damit natürlich auch nicht alles gesagt. Es ist unabdingbar, dass man das Endziel kennt; aber es ist ebenso unabdingbar, dass man die Route dorthin kennt. Wer das Ziel nicht kennt, kann die Route nicht festlegen. Aber wer die Route nicht weiß, wird nie an seinem Ziel ankommen. Die vorigen Artikel waren wichtig, um das Endziel des Prozesses des Erwachsenwerdens kennenzulernen. Aber das Lesen solcher Artikel kann auch sehr frustrierend und entmutigend wirken. Wer einen Bergpass erreicht und von dort aus das Gebirge überblicken kann, kann sehr entmutigt werden, wenn er sieht, wie weit sein Zielort noch entfernt ist. Doch war das Ziel der vorigen Artikel keineswegs Entmutigung, im Gegenteil. Wir würden eher sagen, dass diese Artikel ein Endziel vorstellen wollten, das so anziehend ist, dass der Gläubige nichts anderes will, als sich danach auszustrecken.

Sehen ist folgen

Wie oft wäre Abraham auf seinem Glaubensweg wohl entmutigt gewesen, wenn er nicht an dessen Beginn den „Gott der Herrlichkeit“ gesehen hätte (Apg 7,2)? Jeder Schritt auf seinem Glaubensweg war schwierig, aber jeder Schritt bedeutete auch, einen Schritt näher zu der Herrlichkeit zu sein, die er am Anfang gesehen hatte. Das Gleiche finden wir beim Apostel Paulus. Zu Beginn seines Glaubensweges hatte er die Herrlichkeit von Christus gesehen (Apg 22,17.18; 26,13,16; 1Kor 9,1), und das war so gewaltig, dass er davon später schrieb: „Alles, was irgend mir Gewinn war, habe ich um Christus willen für Verlust geachtet. Ja, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis von Christus Jesus, meinem Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, auf dass ich Christus gewinne …; um ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden … Ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möge, indem ich auch von Christus Jesus ergriffen bin. … Eines aber tue ich: Indem ich vergesse, was dahinten liegt und mich ausstrecke nach dem, was vorne ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3,7-14). Die Herrlichkeit, die Paulus zu Beginn gesehen hatte, war das große Ziel, nach dem er sich in seinem ganzen Leben ausstreckte: „auf dass ich Christus gewinne“; „um Ihn zu erkennen“; „ich jage ihm nach, ob ich es auch ergreifen möge“; „ich jage, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“.

Ein Grund, warum manche Christen nicht wachsen wollen, ist der, dass sie von dieser Herrlichkeit wenig oder nichts „gesehen“ haben. Sie rechnen sich aus, was sie das Wachsen eventuell kosten könnte, und weil sie wenig Ahnung haben von dem riesigen Nutzen, sind die Kosten ihnen einfach zu hoch. Und deshalb wachsen sie nicht, umso mehr, „weil sie doch sicher in den Himmel kommen“. Der reiche junge Mann wollte Jesus nicht folgen, weil ihm die Kosten buchstäblich zu hoch waren (Lk 18,18-26), und das kam daher, dass er zwar etwas von Jesus gesehen hatte – sonst wäre er nicht zu Ihm gekommen, um Ihn nach dem Weg zu fragen, den er doch in Wirklichkeit schon kennen sollte –, aber er hatte nicht genug gesehen. Erstaunlich ist es, dass das Gleiche eigentlich unmittelbar danach auch für Petrus zu gelten scheint; auch er berechnet die Kosten und findet dabei eigentlich, dass auf der Habenseite zu wenig im Vergleich zu den aufgewendeten Kosten steht (Lk 18,28-30). Merkwürdigerweise scheint der Herr dann noch direkt einen draufzusetzen, indem Er erzählt, wohin die Nachfolge hinter Ihm her führt: Es ist der Weg von Verfolgung, Leiden und Kreuzigung (Lk 18,31-34)! Was nicht allein der reiche junge Mann, sondern sogar die Jünger nötig brauchten, wird in dem gleich darauf folgenden Geschehen deutlich: Ihre Augen mussten geöffnet werden (Lk 18,35-43). Der Blinde vor Jericho wurde sehend, und unmittelbar danach lesen wir: „Er folgte Ihm nach, indem er Gott verherrlichte“ (Lk 18,43). Direkt danach folgt wieder eine Geschichte über das „Sehen“: Zachäus versteckte sich in einem Baum, und „er suchte Jesus zu sehen, wer er wäre“ (Lk 19,3). Darum dreht sich alles. Wer einmal wirklich gesehen hat, wer Jesus ist, gibt alles für Ihn weg. Darum sagt Zachäus: „Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen; und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, so erstatte ich es vierfach“ (LK 19,8).

Der Unterschied zwischen den Jüngern in Lukas 18 und Paulus in Philipper 3 ist, dass Paulus „hinter“ dem Kreuz steht. Markus 10,32 sagt von den Jüngern: „Sie waren aber auf dem Weg hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging vor ihnen her; und sie entsetzten sich, und indem sie nachfolgten, fürchteten sie sich.“ Aber in Philipper 3 ist Paulus überhaupt nicht ängstlich, Jesus zu folgen, ja er war sogar bereit, Ihm gleichförmig zu werden in seinem Tod! Wie kann das sein? Indem Paulus das weiß, was die Jünger in Markus 10 noch nicht wussten: Die Auferstehung und Verherrlichung des Christus! Paulus hatte den auferstandenen und verherrlichten Herrn persönlich gesehen. Von diesem Moment an will er auf Ihn zuwachsen, was es auch kosten möge, selbst bis hin zum Tod. Denn Paulus weiß, dass ihn das alles schließlich bei dem verherrlichten Christus ankommen lassen wird. Wer etwas von dem verherrlichten Christus geschaut hat, ist nicht damit zufrieden, einmal bei Ihm in der Herrlichkeit zu sein. Nein, er will schon jetzt diesen Christus besser kennenlernen, Ihm nachfolgen, Ihm dienen und Ihn verehren, Ihm gleichen, sich mit Ihm füllen und sein Bild in dieser Welt darstellen.

Wachsen

„Christus immer ähnlicher werden“ ist das Gleiche wie „geistlich wachsen“. Wir sind diesem Wort „wachsen“ schon verschiedene Male begegnet, so in Epheser 4,15.16 und 2. Petrus 3,18. In beiden Texten ist Christus eindeutig das Vorbild und das Endziel des Wachstums. Buchstäblich bedeutet das griechische Wort für „wachsen“ so viel wie „zunehmen, vermehren“. Ein Kind, das wächst, nimmt zu an Körpergröße. Ein Christ, der wächst, nimmt zu an geistlicher Einsicht, an der Frucht des Geistes, an Unterscheidungsvermögen, am Vermögen, Verantwortung zu tragen, im Kennenlernen von Gottes Willen, usw. Aber vor allem: Christus „vermehrt“ sich in ihm. Es wird immer mehr von Christus in ihm sichtbar. Oder wie Paulus es so schön für die Galater wünscht: „Meine Kinder, um die ich von neuem Geburtswehen habe, bis Christus in euch gestaltet worden ist“ (Gal 4,19).

Paulus wendet hier einen sehr bemerkenswerten Wechsel in der Bildersprache an. Im ersten Teil des Satzes sind es die Galater, die von neuem durch den Apostel „geboren“ werden sollen, aber im zweiten Teil ist es Christus, der in (oder unter, inmitten von) den Galatern gestaltet werden soll. Paulus gebraucht hier nicht das Wort „gebären“, sondern „Gestalt bekommen“; dieses Wort verweist jedoch auf die Entwicklung vom Embryo zum Baby im Mutterleib. Streng genommen sind es also die Galater, durch die Christus schließlich „geboren“ wird, aber es ist Paulus, der dadurch die Geburtswehen durchmacht! „Christus gestalten“ in (oder unter) den Galatern bedeutet, dass die Galater anfangen, das Bild des Christus zu zeigen (vgl. Kol 3,10). „Christus bekommt Gestalt in uns“ bedeutet tatsächlich: „Wir bekommen die Gestalt von Christus.“

Ich werde wieder etwas technisch, aber das ist wohl der Mühe wert. In Römer 8,29 („diese hat er auch zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein“) ist das Wort „gleichförmig“ (griech. symmorphos) verwandt mit „Gestalt bekommen“ (morphousthai) in Galater 4,19. Es ist Gottes Absicht, dass die Gläubigen die gleiche „Gestalt“ oder „wesentliche Form“ (morphè) haben sollen wie Jesus Christus; natürlich nicht, was seine Gottheit betrifft, sondern was sein Menschsein betrifft. Philipper 2,6.7 sagt: Er war in der „Gestalt Gottes“ und hat die „Gestalt eines Knechtes (oder Sklaven)“ angenommen. Praktisch bedeutet das: „Wir alle aber, indem wir mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauen, werden verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2Kor 3,18). Hier bedeutet der Ausdruck „wir werden verwandelt“ (metamorphoumetha) buchstäblich „in der Gestalt (morphè) verändern“.

Indem sie sich den Lügen auslieferten, drohten die Galater Christus zu verlieren (vgl. Gal 5,2,4). Christus war für sie geboren unter dem Gesetz (Gal 4,4) und hatte sich für sie hingegeben (Gal 1,4; 2,20), um sie freizukaufen aus der Sklaverei der Welt, der Sünde, des Gesetzes, des Todes und der Weltgeister. Das alles drohte nun, was die Galater betraf, umsonst gewesen zu sein, indem sie Gefahr liefen, sich unter die Gesetzlichkeit zu stellen. Wenn Christus aufs Neue in ihnen Gestalt bekommen sollte, würde das bedeuten, dass das Evangelium von Christus von neuem Einfluss auf sie gewinnen und Er selbst sie wieder losmachen würde aus den Stricken der Gesetzlichkeit. Unsere Probleme sind wahrscheinlich völlig anders als die der Galater. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Christus in jedem von uns „Gestalt“ bekommen will und muss. Das ist der Kern des geistlichen Wachstums.

Jemand soll einmal den berühmten Bildhauer Michelangelo gefragt haben, wie er es denn schafft, aus einem Block Marmor so etwas Prächtiges wie ein Pferd herauszuhauen. Er gab darauf die schöne Antwort: „Oh, das ist ganz einfach; wenn ich anfange, an einem solchen Block Marmor zu arbeiten, haue ich einfach alles weg, was nicht Pferd ist.“ Es bewegte mich, was für eine hübsche Illustration dies für die biblische Wahrheit ist, dass Christus in den Gläubigen „Form“ bekommen soll. Um das zu erreichen, schneidet Gott in unserem Leben „einfach“ alles weg, was „nicht Christus“ ist.

Es gibt noch andere Texte, in denen der Begriff „Wachstum“ vorkommt. Einen davon erwähnen wir nur kurz, weil er eigentlich ein Paralleltext von Epheser 4,15.16 ist, nämlich Kolosser 2,19: „… festhaltend das Haupt, aus dem der ganze Leib, indem er durch die Gelenke und Bänder Darreichung empfängt und zusammengefügt ist, das Wachstum Gottes wächst.“ Ein anderer Text in Kolosser erfordert etwas mehr Aufmerksamkeit: „Deshalb hören wir auch nicht auf, … für euch zu beten und zu bitten, auf dass ihr erfüllt sein möget mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, indem ihr in jedem guten Werk Frucht bringt und durch die Erkenntnis Gottes wachst“ (Kol 1,9.10). Der Nebensatz, der mit „indem“ beginnt, enthält im Grundtext zwei Mittelworte (Partizipien); wörtlich übersetzt: „in jedem guten Werk fruchtbringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes“. Diese zwei Mittelworte bilden in gewisser Weise eine Zusammenfassung der guten Kennzeichen, die Paulus direkt vorher aufzählt: „erfüllt mit der Erkenntnis seines Willens, in aller Weisheit und geistlichem Verständnis, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen“.

Würdig des Herrn zu wandeln – darum geht es. Das ist das letztendliche Ergebnis des geistlichen Wachstums. So zu wandeln, dass Er daran Wohlgefallen finden kann. Wandeln aus der Erkenntnis seines Willens heraus, das heißt dessen, was Er von uns erwartet. Wandeln in aller Weisheit und geistlichem Verständnis (oder: Einsicht), das heißt das „Denken von Christus“ zu haben (1Kor 2,16). Paulus betet dafür, dass dies bei den Kolossern in Erfüllung gehen möge. Er zeigt sich dessen bewusst, dass ein solches Fruchttragen nur möglich ist „nach der Macht seiner [Gottes] Herrlichkeit“. Aber indem er diese Dinge an die Kolosser schreibt, legt er diese Zielsetzung zugleich in ihre Verantwortung. Ohne ein Verständnis der eigenen Verantwortlichkeit, aber auch der Abhängigkeit von Gott, ist kein echtes Wachstum möglich. Es ist der Mühe wert, anzumerken, dass Paulus hier nicht die Bildersprache gebraucht, dass wir von Gott „getragen“ werden – obwohl das auch wahr ist –, sondern dass wir wandeln sollen. Dazu müssen wir selbst den einen Fuß vor den anderen setzen. Alle Kraft dazu kommt von oben, gewiss; aber wir müssen wandeln. In gewissem Sinn bringt Gott die Frucht in uns hervor; aber von unserer Verantwortlichkeit her gesehen müssen wir die Frucht tragen. Gott offenbart uns seinen Willen, wie wir handeln und wandeln sollen, und Er bewirkt den Willen und die Energie in uns, um dieses Handeln und Wandeln möglich zu machen (Phil 2,13). Aber wir müssen handeln, wir müssen wandeln. Und wer das nicht will, ist und bleibt ein Christ, aber doch einer, der geistlich ein Baby bleibt. Das ist weder zum Segen für ihn selbst noch zur Ehre Gottes.

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Übersetzt aus Bode van het heil in Christus, Vaassen, NL, Jg. 140, Nr. 11, Nov. 1997, S. 221–225

Übersetzung: Frank Schönbach


Nota redacţiei:

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