Kritisches zur postevangelikalen Bewegung

Jochen Klein

© J. Klein, online seit: 23.06.2020, aktualisiert: 30.10.2022

In den Artikeln „Kritisches zur Philosophie der Aufklärung“, „Kritisches zur 1968er-Bewegung“ und „Kritisches zu kirchlichen Entwicklungen“ sahen wir unter anderem,

  • dass im Laufe der abendländischen Geschichte der Verstand des Menschen immer mehr in den Vordergrund rückte,
  • dass die Aufklärung eine weitgehend christentumsfeindliche Bewegung war, so dass Theologen bis heute zum Beispiel behaupten, nach der Aufklärung könne man nicht mehr an Wunder glauben und vieles in der Bibel sei nicht wahr,
  • dass auch die vermeintliche Gegensätzlichkeit von Glaube und Wissen auf diesem Denkschema beruht,
  • dass die damals neu erfundene Theologie die einer neuen Religion oder Weltanschauung ist und mit dem biblischen Christentum nicht mehr viel Zentrales gemeinsam hat,
  • dass die 1968er-Bewegung Wertelosigkeit, Gottlosigkeit und Ratlosigkeit zur Folge hatte,
  • dass sich selbst aktive Kirchenmitglieder mit zentralen christlichen Lehren schwertun und auch Theologen weder an Wunder noch an die leibliche Auferstehung Jesu glauben,
  • dass viele Kirchenmitglieder nicht mehr an Gott glauben,
  • dass in der Kirche beliebige, relativistische Positionen vertreten werden, so dass Konfirmanden öfter Aussagen wie folgende formulieren: „Ich bin froh, evangelisch zu sein, denn evangelisch sein bedeutet zu glauben, was man will“[1],
  • dass Menschen, die sich zum Christentum bekennen, keinen Gott mehr zu brauchen meinen,
  • dass die spirituelle Sehnsucht in Deutschland heute oft mit Esoterik oder fernöstlichen Weisheitslehren bedient wird, aber auch Sozialstaat, Versicherungen, Medizin und Psychotherapie als Vertrauensbasis herhalten müssen,
  • dass sich diese Einflüsse mittlerweile auch in evangelikalen Gemeinden breitmachen.

Postevangelikal

Die Bewegung, die mit dafür verantwortlich ist, dass obengenannte bedenkliche Aspekte zum Teil in evangelikalen Gemeinden Einzug gehalten haben, nennt man „postevangelikal“. Markus Till [*1970] schreibt dazu:

Schon der Begriff macht deutlich, was diese Christen charakterisiert: Sie haben eine bedeutende Zeit ihres Lebens im evangelikalen Umfeld verbracht. Dabei hat der Begriff „evangelikal“ natürlich viel mit der individuellen Biographie zu tun. Aus Sicht des postevangelikalen Blogautors Christoph Schmieding „lässt sich der Evangelikalismus eigentlich sehr gut als ein deutlich bekenntnisorientierter christlicher Glaube beschreiben, der vor allem die Bibel als wesentliche Offenbarung Gottes an den Menschen versteht und diese auch als Autorität für ein Gott gerechtes Leben anführt“ … Die Vorsilbe post (lateinisch für „nach“) macht aber auch deutlich: Aus irgendeinem Grund haben sie zumindest teilweise die evangelikale Art des Glaubens hinter sich gelassen.[2]

Und Berthold Schwarz [*1963] konkretisiert:

„Post-evangelikal“ bedeutet, dass die vertretenen „neuen“ Thesen aus den Reihen der pietistischen, evangelikalen und reformatorisch-konservativen Frömmigkeitsformen kommen – also nicht direkt aus der humanistisch gesinnten, aufklärerisch-bibelkritischen Szene in Theologie und Kirche. Denn dort werden seit gut 200 Jahren unterschiedliche theologische und exegetische Thesen propagiert. Neu ist, dass die fromm-pietistisch-evangelikale Szene sich nun anschickt, diese Thesen in inhaltlicher Verdünnung wie ein trockener Schwamm aufzusaugen.[3]

Worthaus

Zentral für diese Entwicklung ist die Veranstaltungsreihe „Worthaus“. Till schreibt:

Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen. Eine Analyse der Worthaus-Vorträge zeigt: Die evangelikale Bewegung steht vor einer grundlegenden Entscheidung, wenn sie nicht in den Abwärtsstrudel der liberal geprägten Kirchen mit hineingezogen werden möchte.[4]

Till weiter:

Worthaus ist eine frei zugängliche, sich ständig erweiternde Mediathek mit theologischen Vorträgen … Etwa zwei Drittel der Vorträge werden vom emeritierten Professor für evangelische Theologie Siegfried Zimmer gehalten … Fast alle Referenten bei Worthaus kommen aus der universitären evangelischen und katholischen Theologie. Eine Ausnahme ist der zweithäufigste Worthaus-Sprecher Prof. Thorsten Dietz. Er lehrt an der Evangelischen Hochschule Tabor, die sich dem Pietismus verpflichtet fühlt, zum Gnadauer Gemeinschaftsverband gehört und sich bis zum Jahr 2018 noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten zählte … Worthaus-Referenten sind auch auf evangelikalen Großveranstaltungen … anzutreffen. Schon die Gründung von Worthaus ist auf Vorträge von Prof. Zimmer auf dem evangelikalen Spring-Ferienfestival zurückzuführen. Prof. Zimmer berichtet, Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“ … Sein Eindruck ist: „Die Pastorenfortbildung läuft eigentlich über Worthaus.“ Worthaus ist also auch unter Evangelikalen angekommen – obwohl Prof. Zimmer selbst ausdrücklich warnt: „Auf keinen Fall evangelikal.“[5]

Was kennzeichnet Worthaus?[6]

  • Positive Grundeinstellung zur universitären Theologie und der damit zusammenhängenden „modernen Bibelwissenschaft“.
  • Darauf basierend: Kritik an der Bibel auf der Basis von außerbiblischen Denkvoraussetzungen.
  • Häufige Abwertung konservativer bzw. „fundamentalistischer Frömmigkeit“.
  • Betonung der eigenen Bibeltreue.
  • Historischen Texten in der Bibel sprechen Worthaus-Referenten die Historizität ab; folgerichtig enthalte die Bibel theologische Fehler und Widersprüche.
  • Ein Worthaus-Referent trennt zwischen dem Jesus der Evangelien und dem „historischen Jesus“. Es müsse geprüft werden, welche historischen Jesus-Zitate wirklich von ihm stammen, und es sei unklar, ob er sich selbst als Messias sah.
  • Zahlreiche Kernsätze des Glaubens werden abgeräumt: Jesu Tod am Kreuz sei eindeutig kein stellvertretendes Sühneopfer für die Schuld der Menschheit gewesen, „sondern an sich sinnlos“ (Thomas Breuer); Himmelfahrt und Pfingsten seien keine historischen Ereignisse gewesen; das Heil sei nicht exklusiv in Jesus Christus zu finden; der Himmel sei kein fassbarer Ort und es gebe keine Hölle. Der Teufel sei (sehr wahrscheinlich) keine reale Person.
  • Ohne theologische Kenntnisse könne die Bibel nicht richtig verstanden werden.
  • Die typisch evangelikalen Begriffe werden zwar nicht unbedingt verworfen, aber oft ganz anders gefüllt.
  • In strittigen sexualethischen Fragen wird ein Bild gezeichnet, nach dem klare biblische Positionen angeblich auf Missverständnissen beruhen, die sich leicht ausräumen lassen.
  • Das Muster sieht oft folgendermaßen aus: Zur Begründung wird auf vermeintliche geschichtliche Entwicklungen zurückgegriffen, eine Geschichte erzählt, wie es zu den Missverständnissen kam, die nun die großen Probleme bereiten, und dann wird gezeigt, wie sich diese Geschichte zur heutigen höheren und überlegeneren Erkenntnis weiterentwickelt habe.

Fazit

Thomas Jeising [*1963] fasst zusammen:

Wer sich die Entwicklungen des post-evangelikalen Glaubens anschaut, der kommt nicht an der Behauptung vorbei, dieser lese die Bibel genauer, nicht weil er sie wörtlich nehme, sondern weil er sie ernst nehme. Aber „zufällig“ führt diese Art von „Ernstnehmen“ der Bibel fast durchweg zu einer Anpassung des Glaubens an die Überzeugungen der gegenwärtigen, kulturell gängigen Denk- und Wertesysteme (dem sog. „Zeitgeist“). Man „entdeckt“ dabei, dass die Bibel gar nicht prinzipiell gegen homosexuelle Lebenspraxis sei, sondern wolle, dass diese Beziehung vielmehr liebevoll gestaltet werde. Die Bibel habe nichts gegen Sex vor der Ehe. Sie vertrete eigentlich gar keine blutige Sühnetheologie. Ihre Schöpfungsbotschaft sei ganz im Einklang mit dem Glauben an die Entstehung des Lebens  in evolutionären Prozessen über mehr als 100 Millionen Jahre. Eigentlich sei die Bibel auch nicht intolerant gegenüber anderen Religionen, soweit diese die Menschenrechte achten … Man will oder kann sich an bestimmte ethische Maßstäbe der Bibel nicht mehr halten. Aber statt zu sagen: „Das steht zwar in der Bibel, aber wir machen es jetzt anders“, wird so lange an den Aussagen der Bibel herumgedeutet, bis sie mit der selbstgewählten Moral übereinstimmen. Man will Gott auf seiner Seite wissen und sich sagen können, dass man doch alles richtig macht.[7]

Das Ganze ist an keiner Stelle eine neue Botschaft. Wer die Theologiegeschichte der vergangenen 100 Jahre überschaut, weiß, dass die Art von Glauben, für die Thorsten Dietz wirbt, der Glaube ist, der nach dem Siegeszug der historisch-kritischen Theologie aufgerichtet wurde und dessen Spitze darin liegt, dass man an die Auferstehung glauben will, auch wenn der Körper von Jesus Christus im Grab geblieben ist. Nur kommt die Werbung jetzt von einem Professor der Evangelischen Hochschule Tabor, die über Jahrzehnte für ein konservatives, bibelorientiertes Christsein stand … Das Ziel ist letztlich die Überwindung eines „prämodernen“, bibelgebundenen Kinderglaubens, der auf das historische Heilshandeln Gottes aufbaut, wie es in der Bibel bezeugt ist, hin zu einer aufgeklärt mystischen Frömmigkeit als einem postmodernen „Glaubensstil“ … Man muss sich vor Augen halten, dass hier [in dem Buch Weiterglauben: Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann von Thorsten Dietz] kein Vermittler spricht, sondern jemand, der für Bibelkritik wirbt.[8]

Till kommt zu dem Fazit:

Worthaus kann die evangelikale Bewegung vielleicht ein wenig aus der Schusslinie des Zeitgeistes holen. Aber der Preis ist hoch. Worthaus ist ein Spaltpilz, weil viele der dort vertretenen Thesen mit evangelikaler Theologie und Frömmigkeit grundsätzlich unvereinbar sind … Meine feste Überzeugung ist deshalb: Wenn sich die evangelikale Bewegung den bei Worthaus vertretenen theologischen Standpunkten weiter öffnet, wird sie letztlich das Schicksal der liberal geprägten Kirchen in der ganzen westlichen Welt teilen.[9]

Wie das konkret aussieht, sahen wir im Artikel „Kritisches zu kirchlichen Entwicklungen. Möge Gott uns vor diesen falschen Wegen bewahren, und mögen wir uns auch bewahren lassen![10]


Quelle: www.jochenklein.de > Allgemeine Artikel > Aktuelle Themen

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Anmerkungen

[1] ideaSpektrum 21/2019, S. 19.

[2] Markus Till, Zeit des Umbruchs. Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen, Holzgerlingen (SCM R.Brockhaus) 2019, S. 9.

[3] Berthold Schwarz, „Ein Wort zur Einführung“ in: Thomas Jeising (Hrsg.), Knapp daneben ist auch vorbei. Holzwege post-evangelikalen Glaubens, Dillenburg (CV) 2019, S. 16.

[4] Till, „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?“ in Knapp daneben ist auch vorbei, S. 19.

[5] Till, „Worthaus“, S. 20f.

[6] Vgl. dazu Till, „Worthaus“, S. 21ff., und Jeising, „Mutig antworten. Die Herausforderung durch eine post-evangelikale Theologie konstruktiv annehmen“, ebd., S. 172ff. Till, Zeit des Umbruchs. Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen.

[7] Jeising, „Mutig antworten“, S. 174 u. 180.

[8] Jeising, „Weiterglauben – doch nicht so. Ein Beitrag zur Debatte darüber, wie der Glaube weit wird, ohne seine Bindung zu verlieren“ in Knapp daneben ist auch vorbei, S. 50 u. 70.

[9] Till, „Worthaus“, S. 34.

[10] Anm. d. Red.: Vgl. zu diesem Thema auch den Artikel von Jochen Klein „Das moderne Denken und die Bibelkritik“.

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