Der Prophet Micha (1)
Kapitel 1

Henry Allen Ironside

© SoundWords, online seit: 20.08.2021, aktualisiert: 14.09.2022

Die Aufforderung, zu hören

Obwohl die Prophezeiung Michas einfach aufgebaut und größtenteils verständlich ist, enthält sie einige Abschnitte, die kompliziert erscheinen. Wenn wir dieses Bibelbuch studieren, spüren wir mehr denn je, wie sehr wir göttliche Erleuchtung brauchen, um die vielen unverständlichen Aussprüche richtig zu verstehen. Doch das Thema des Buches ist leicht verständlich: Es geht um den beklagenswerten Zustand ganz Israels wegen ihrer Sünde und um die wunderbare Befreiung durch den, dessen „Ursprünge von der Urzeit sind, von den Tagen der Ewigkeit her“ (Mich 5,1), der jedoch aus Bethlehem-Ephrata hervorgehen würde, um Rettung für sein Volk zu erwirken. Obwohl das erste Kapitel „wegen der Übertretung Jakobs und wegen der Sünden des Hauses Israel“ (Mich 1,5) mit einer ernsten Anklage beginnt, endet das Buch dennoch mit der kostbaren Verheißung, dass Er, den sie so sehr beleidigt hatten, „alle ihre Sünden in die Tiefen des Meeres werfen“ wird (Mich 7,19). In all dem bewegen wir uns auf vertrautem Boden, der bisher oft betreten wurde und von „Mose und allen Propheten“ (vgl. Lk 24,27) gleichsam zur befestigten Straße ausgebaut worden ist. Die Schwierigkeiten bestehen nur in Einzelheiten und in nichts Grundsätzlichem.

Vers 1

Mich 1,1: Das Wort des HERRN, das an Micha, den Moraschtiter, erging in den Tagen Jothams, Ahas’ und Jehiskias, der Könige von Juda, das er schaute über Samaria und Jerusalem.

Micha wird „der Moraschtiter“ genannt, das heißt ein Mann aus Morescha oder, wie er den Ort selbst nennt, Moreschet-Gat oder Marescha (Mich 1,14.15), ein Ort südwestlich von Jerusalem, also im Land Juda.

Hundert Jahre später, in den Tagen Jeremias, wird Micha von den Ältesten Jerusalems als Beispiel angeführt für jemand, der immer wieder gegen Jerusalem geweissagt hatte, vom gottesfürchtigen König Hiskia jedoch nicht gefangen genommen wurde (Jer 26,16-19).

Micha könnte seine Prophezeiung am Stück verkündet haben, da es in ihrem Verlauf keine eindeutigen Unterbrechungen gibt. Doch es ist wahrscheinlicher, dass sie aus drei Reden und einem Gebet besteht. Alle Reden beginnen mit einer Aufforderung, zu hören. In diesem Fall würde der erste Teil die Kapitel 1 und 2 umfassen, der zweite die Kapitel 3 bis 5, der dritte das Kapitel 6, während Kapitel 7 den vierten und letzten Teil bildet.

Micha trat ein wenig später auf als Jesaja und war während der meisten Zeit seines Dienstes dessen Zeitgenosse. Aus Vers 1 sowie auch aus dem gesamten Buch sehen wir, dass sein Dienst ganz Israel umfasste, nicht nur Juda, wo der Seher wohnte.

Vers 2

Mich 1,2: Hört, ihr Völker alle, höre zu, du Erde [oder: Land] und ihre Fülle! Und der Herr, HERR, sei zum Zeugen gegen euch, der Herr aus seinem heiligen Palast!

Das Volk wird im Geiste zurückversetzt in die Tage von 3. Mose 1,1, als die Stimme des HERRN aus dem Heiligtum ertönte und die Heiligkeit derer kundtat, unter denen Er wohnte. Jetzt spricht Er wieder aus dem Heiligtum, doch diesmal, um sie davon zu überführen, dass sie sein Wort in jeder Hinsicht übertreten hatten. Damit hatten sie jegliches Anrecht auf die Segnungen unter dem Bund der Werke verwirkt, in den sie am Sinai eingetreten waren und den sie in den Ebenen von Moab erneuert hatten. Sie werden aufgerufen, Adonai Jahwe[1] „zum Zeugen gegen sich“ auftreten zu lassen. Damit würden sie Gott rechtfertigen, das heißt Ihm Recht geben und sich selbst verurteilen; das ist der Weg des Segens für ein Volk, das versagt hat.

Es ist wunderbar, sich dem ganzen Wort Gottes zu beugen, sogar wenn es mich richtet und meine Wege verurteilt. Sich dem Wort unterzuordnen, ist die Vorstufe zu etwas Besserem; sich jedoch auf Kosten der göttlichen Wahrheit herauszureden, verhärtet nur das Gewissen.

Verse 3.4

Mich 1,3.4: 3 Denn siehe, der HERR geht aus von seiner Stätte und kommt herab und schreitet einher auf den Höhen der Erde. 4 Und die Berge zerschmelzen unter ihm, und die Täler spalten sich wie das Wachs vor dem Feuer, wie Wasser, ausgegossen am Abhang.

Der Herr geht von seiner Stätte aus, um den Zustand Israels zu erforschen. Die verwendete Sprache ist sehr bildhaft und erhaben. Wie die Feuer eines Vulkans, die hervorbrechen und die Erde verzehren, so ist das Erwachen des HERRN, um sein Volk zu richten.

Verse 5-7

Mich 1,5-7: 5 Das alles wegen der Übertretung Jakobs und wegen der Sünden des Hauses Israel. Von wem geht die Übertretung Jakobs aus? Ist es nicht Samaria? Und von wem die Höhen Judas? Ist es nicht Jerusalem? 6 So werde ich Samaria zu einem Steinhaufen des Feldes, zu Weinbergpflanzungen machen, und ich werde ihre Steine ins Tal hinabstürzen und ihre Grundfesten entblößen. 7 Und alle ihre geschnitzten Bilder werden zerschlagen und alle ihre Hurengeschenke mit Feuer verbrannt werden, und ich werde alle ihre Götzenbilder zur Wüste machen; denn sie hat sie durch Hurenlohn gesammelt, und zum Hurenlohn sollen sie wieder werden.

Die Übertretung Jakobs und die Sünden des Hauses Israels sind der Anlass dafür, dass Gott seine Macht und seinen Zorn erweist. Die „Übertretung Jakobs“ – das ist Samaria, das den israelitischen Gottesdienst mit götzendienerischen Riten vermischt hatte. Die „Sünde Judas“ – das ist Jerusalem, das Verrat geübt hatte und abgefallen war. Deshalb sollte Samaria eine Wüste werden so wie ein Weinberg, der der Zerstörung preisgegeben ist. Alle geschnitzten Götzenbilder und Götzen sollten in Stücke gehauen werden, und ihr „Hurenlohn“[2] sollte im Feuer verbrannt werden. Nichts sollte am Tag des Zornes des HERRN bestehen bleiben.

Vers 8

Mich 1,8: Darum will ich klagen und heulen, will entblößt und nackt umhergehen; ich will eine Wehklage halten wie die Schakale und eine Trauer wie die Strauße.

Vers 8 scheint eine Sprache zu sein, die der verwüsteten Nation in den Mund gelegt wird. Oder vielleicht drückt er den bitteren Kummer des Propheten aus über das Schicksal, das Samaria bald treffen würde. Dieser Vers ist eine der Bibelstellen in diesem Buch, die sehr schwer auszulegen sind.

Vers 9

Mich 1,9: Denn ihre Schläge sind tödlich; denn es kommt bis Juda, es reicht bis an das Tor meines Volkes, bis an Jerusalem.

Nichts würde nun die vergeltende Hand aufhalten können, „denn ihre Schläge sind tödlich“[3]. Es ist wirklich ernst, wenn Gott auf diese Weise über die Krankheit sprechen muss, die diejenigen befallen hat, die seinen Namen tragen. Wie eine sich ausbreitende Seuche „kommt sie bis Juda, sie reicht bis an das Tor meines Volkes, bis an Jerusalem“. Der ganze Körper war befallen und das ganze Haupt krank (vgl. Jes 1,5.6).

Vers 10

Mich 1,10: Berichtet es nicht in Gat, weint nur nicht! In Beth-Leaphra wälze ich mich im Staub.

Leider mussten die Philister, die Feinde Israels, davon hören, welch ein verdorbener Zustand unter denen herrschte, die „Erlöste des HERRN“ (Jes 62,12; Ps 107,2) genannt wurden! „Berichtet es nicht in Gat, weint nur nicht!“ Doch „in Beth-Leaphra {= „im Haus des Staubes“} wälze ich mich im Staub“. Der Prophet spielt auf das Wort Aphra an, das „Staub“ bedeutet. Ja, dorthin könnte das gefallene Israel wohl Zuflucht nehmen und sich wegen seiner Sünde im Staub wälzen.

Vers 11

Mich 1,11: Zieh hin, Bewohnerin von Schaphir, in schimpflicher Blöße; die Bewohnerin von Zaanan ist nicht ausgezogen; die Wehklage Beth-Ezels wird dessen Rastort von euch wegnehmen.

Über eine Stadt nach der anderen wird nun Verwüstung und Wehe ausgerufen. Schaphir, „die Schöne“, sollte der „schimpflichen Blöße“ preisgegeben werden. In Zaanan[4] sollte niemand mehr aus den Toren ausziehen. „Die Wehklage Beth-Ezels[5] wird dessen Rastort von euch wegnehmen.“ Auch hier spielt der Prophet mit dem Namen. Beth-Ezel war offensichtlich ein Ort, wo man auf halbem Weg zum Ziel einen Zwischenstopp einlegen konnte. Er sollte nicht länger ein Rastplatz für Reisende auf ihrem Weg zur Stadt des großen Königs sein.

Vers 12

Mich 1,12: Denn die Bewohnerin von Marot zittert wegen ihrer Habe; denn vonseiten des HERRN ist Unglück zum Tor Jerusalems herabgekommen.

Die Bewohner von Marot („Bitterkeiten“) finden nur Bitteres und beklagen das Gute, das nicht kommt. Unheil strömt herab wie eine Flut bis vor die Tore Jerusalems, und das Ernste daran ist, dass es „vonseiten des HERRN“ kommt. Er ist es, der sein Volk wegen ihrer Sünde richtet.

Verse 13-15

Mich 1,13-15: 13 Spanne die Renner an den Wagen, Bewohnerin von Lachis! Der Anfang der Sünde war es für die Tochter Zion; denn in dir sind die Übertretungen Israels gefunden worden. 14 Darum wirst du Moreschet-Gat ein Entlassungsgeschenk geben. Die Häuser von Achsib werden zu einem trügerischen Bach für die Könige von Israel. 15 Noch werde ich den Besitznehmer dir bringen, Bewohnerin von Marescha. Bis Adullam wird die Herrlichkeit Israels kommen.

Vers 13 ist schwierig auszulegen. Aus irgendeinem Grund wird Lachis „der Anfang der Sünde der Tochter Zions“ genannt. Deshalb sollten ihre Einwohner vor dem heranrückenden Feind fliehen.

Auch die beiden folgenden Verse sind nicht klar genug, als dass man sie lehrmäßig erklären könnte. Sie scheinen anzudeuten, dass man erfolglos versucht, sich mit den Philistern zu verbünden, um sich vor dem heranrückenden Feind zu schützen. Doch Achsib („Trug“) wird den Königen Israels tatsächlich zu einem solchen Feind werden. Als Vorschattung könnte dieser Abschnitt durchaus auf die Endzeit hindeuten, wenn man dem Betrug des Antichristen glaubt und ihm vertraut, dass er das abtrünnige Volk vor dem Angriff des letzten Assyrers rettet. Doch das wird alles vergeblich sein, denn der Assyrer wird sich in Wirklichkeit als die Rute des Zornes des HERRN erweisen.

Vers 16

Mich 1,16: Mache dich kahl und schere dich um der Kinder deiner Wonne willen, mache deine Glatze breit wie die des Geiers; denn sie sind von dir weggeführt.

Das unglückliche Israel ist so tief gefallen, dass sein Gewissen nicht mehr beunruhigt ist. Es könnte gut sein, dass es sich kahlschert und in großem Schmerz seine Kinder beweint, die durch die Sünde der Väter umgekommen sind: „Sie sind von dir weggeführt.“

Das ganze Kapitel ist ein einziges Klagelied voller Kummer, der nicht gestillt werden kann, weil das Volk den HERRN verlassen hat. Er hätte sie so reich gesegnet, wenn sie nur in seinen Wegen gewandelt wären. Möge in uns ein anderer Geist gefunden werden! Sonst müssen auch wir in bitterer Seelennot lernen, wie töricht es ist, den lebendigen Gott zu verlassen.


Originaltitel: „Notes on the Prophecy of Micah“
aus Notes on the Minor Prophets, 1909
Quelle: http://www.plymouthbrethren.org/article/4846

Übersetzung: Christa Kern

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Anmerkungen

[1] Adonai Jahwe ist der göttliche Titel, der hier mit „Herr, HERR“ wiedergegeben wird.

[2] Isaak Leeser (1806–1868), ein amerikanischer Jude, übersetzt in seiner Leeser’s 1953 Jewish Translation: „ihr Lohn der Sünde“.

[3] Anm. d. Red.: Oder: „Ihre Wunde ist unheilbar“, wie die King-James-Bibel und Schlachter 2000 übersetzen.

[4] Anm. d. Red.: Zaanan bedeutet laut englischer Übersetzung „der Ort der Herden“.

[5] Anm. d. Red.: Oder: Beth-Haezel = „Das Haus zur Hand“, KJV.


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