Die Textgrundlage des Neuen Testaments (3)
Wie kam es zu verschiedenen Lesarten?

Martin Arhelger

© M. Arhelger, online seit: 26.09.2006, aktualisiert: 14.02.2024

Vor der Sichtung der vielen verschiedenen Lesarten muss die Frage geklärt werden, wie sie überhaupt entstehen konnten. Nur eine systematische Untersuchung lässt eine zuverlässige Schlussfolgerung über die allgemeine Güte einer einzelnen Handschrift zu. Allgemein ist anzunehmen, dass eine ältere Handschrift die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass bei ihr der ursprüngliche Text besser bewahrt worden ist als bei einer jüngeren.[1] Natürlich gibt es auch für diese Regel Ausnahmen.

Beim Abschreiben konnten verschiedenste Änderungen auftreten, die teilweise bewusst, teilweise unbewusst vorgenommen wurden.

1) Lese-, Schreib- und Hörfehler

Die Abschreiber von Handschriften haben ihre Aufgabe mit sehr unterschiedlicher Treue und Zuverlässigkeit ausgeführt. Manchmal wurden Schreiber nach der geleisteten Wortzahl entlohnt und haben dann oft wenig Sorgfalt auf ihre Abschrift verwendet. Andere Schreiber haben sehr sorgfältig gearbeitet, ja sich sogar erlaubt, vermeintliche Fehler zu verbessern.

Ein Abschreiber konnte den Text seiner Vorlage falsch gelesen (und dann auch falsch hingeschrieben) haben. Ebenso konnte er einen richtig gelesen Text versehentlich falsch hinschreiben (z.B. wenn er sich zu viele Wörter aus seiner Vorlage merken wollte und dann versehentlich ein Wort ausließ oder hinzufügte). Texte wurden manchmal auch vorgelesen und dann von einer größeren Zahl von Schreibern mitgeschrieben. Dabei konnten Textänderungen durch Hörfehler entstehen. Das war besonders in späteren Jahrhunderten möglich; in der späteren griechischen Sprache gab es zum Beispiel sechs verschiedene Vokale oder Doppelvokale (e, i, u, ei, oi und ui), die alle wie „i“ ausgesprochen wurden, während man diese Vokale früher alle noch verschieden aussprach.

Lesefehler konnten auch dann vorkommen, wenn ein Schreiber eine Abkürzung (die damals besonders bei Namen verwendet wurden) nicht als Abkürzung verstand.

Ein häufiger Lese-/Schreibfehler trat dann auf, wenn ein Abschreiber einen Satz geschrieben hatte und dann den Anschluss in seiner Vorlage suchte, dabei aber nicht an die ursprüngliche Stelle zurückgeriet, sondern an eine spätere Stelle, die zufällig dasselbe Schlusswort enthielt. Beispielsweise fehlt in vielen Handschriften in 1. Johannes 2,23 „Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater.“ der letzte Satzteil „Wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater“, weil dieser Satzteil im Griechischen ebenso endet wie der vorhergehende Satz „Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht“.

2) Textänderungen

Es konnte passieren, dass ein Schreiber beim Abschreiben etwas in seiner Vorlage fand, was er so nicht abschreiben wollte, zum Beispiel dann, wenn seine Vorlage einen offensichtlichen Schreibfehler enthielt, oder wenn er den Text aus seinem theologischen Verständnis heraus für falsch hielt oder wenn er den Text für anstößig hielt. Wenn dem Schreiber keine andere Handschrift zur Kontrolle zur Verfügung stand, hat er möglicherweise einen (vielleicht nur vermeintlichen) Fehler verbessert. Ein jüngerer Abschreiber hielt dann vielleicht diese „Verbesserung“ für den wirklichen Text. Dadurch sind manche Textvarianten entstanden.

Zudem gab es schon zur Zeit der Apostel eine besonders schlimme Sorte von Fälschern, die ihre eigenen Briefe als Briefe von Paulus ausgaben (vgl. z.B. 2Thes 2,2 „dass ihr euch nicht schnell in der Gesinnung erschüttern noch erschrecken lasst, weder durch Geist noch durch Wort, noch durch Brief, als durch uns, als ob der Tag des Herrn da wäre.“). So gab es später sogar Abschreiber, die beim Abschreiben den Text hier und da nach ihrem Gutdünken verändert oder vermeintlich „verbessert“ haben. Auch heute kennen wir Übersetzungen, die bewusst der eigenen Lehre angepasst werden.

a) Späte Formen und Wörter

Eine Sprache bleibt nie starr, sondern sie entwickelt sich weiter. Das gilt auch für die griechische Sprache: Sie hat sich im Laufe der Zeit verändert, weiterentwickelt. Als das Neue Testament immer wieder abgeschrieben wurde, haben die Abschreiber hier und da den Text an die Sprachform ihrer (späteren) Zeit angepasst oder Dialektformen verwendet, die sie selbst benutzten. Ungebräuchliche alte Wörter wurden dann ersetzt. Solche Ersetzungen sind sicherlich teilweise bewusst, teilweise aber auch unabsichtlich geschehen. Späte Sprach- oder Grammatikformen machen eine Lesart immer als eine mögliche spätere Veränderung verdächtig. Je weniger späte Formen und Wörter eine Handschrift bietet, umso besser ist wahrscheinlich der ursprüngliche Originaltext darin erhalten geblieben.

b) Harmonisierungen

Bis heute halten manche Bibelleser die unterschiedlichen Angaben in den vier Evangelien für schwer nachvollziehbar. Sie verstehen nicht, dass Gott in den Evangelien das Leben des Herrn Jesus unter vier verschiedenen Blickwinkeln aufschreiben ließ. Viele Abschreiber hatten ebenfalls ihre Not damit und beseitigten dann die scheinbaren Widersprüche zwischen zwei Evangelien durch Textänderungen. Manchmal mag man auch Ergänzungen aus anderen Evangelien gemacht haben, um einen möglichst „vollständigen“ Text zu haben.

Beispiele für solche Änderungen (oder Ergänzungen) findet man in:

  • Matthäus 5,44 „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen,“ (Ergänzung aus Lukas 6,27.28 (27) Aber euch sage ich, die ihr hört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; (28) segnet die, die euch fluchen; betet für die, die euch beleidigen.“); Matthäus 8,15 „Und er rührte ihre Hand an, und das Fieber verließ sie; und sie stand auf und diente ihm.“ (Angleichung an Markus 1,31 „Und er trat hinzu und richtete sie auf, indem er sie bei der Hand ergriff; und das Fieber verließ sie [sogleich], und sie diente ihnen.“ und Lukas 4,39 „Und über ihr stehend, gebot er dem Fieber, und es verließ sie; sie aber stand sogleich auf und diente ihnen.“)
  • Matthäus 17,21 „[Diese Art aber fährt nicht aus als nur durch Gebet und Fasten.]“ (Ergänzung aus Markus 9,29 „Und er sprach zu ihnen: Diese Art kann durch nichts ausfahren als nur durch Gebet [und Fasten].“)
  • Matthäus 20,22 „Jesus aber antwortete und sprach: Ihr wisst nicht, was ihr erbittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie sagen zu ihm: Wir können es.“ (Ergänzung aus Markus 10,39 „Sie aber sprachen zu ihm: Wir können es. Jesus aber sprach zu ihnen: Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden;“)
  • Matthäus 23,14 „“ (Angleichung an Markus 12,40 „die die Häuser der Witwen verschlingen und zum Schein lange Gebete halten. Diese werden ein schwereres Gericht empfangen.“ und Lukas 20,47 „die die Häuser der Witwen verschlingen und zum Schein lange Gebete halten. Diese werden ein schwereres Gericht empfangen.“)
  • Matthäus 25,31 „Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen;“ (Angleichung an Stellen wie z.B. Markus 8,38 „Denn wer irgend sich meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.“; Lukas 9,26 „Denn wer irgend sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommt in seiner Herrlichkeit und der des Vaters und der heiligen Engel.“; Apostelgeschichte 10,22 „Sie aber sprachen: Kornelius, ein Hauptmann, ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, der auch ein gutes Zeugnis hat von der ganzen Nation der Juden, ist von einem heiligen Engel göttlich gewiesen worden, dich in sein Haus holen zu lassen und Worte von dir zu hören.“ und Offenbarung 14,10 „so wird auch er trinken von dem Wein des Grimmes Gottes, der unvermischt in dem Kelch seines Zorns bereitet ist; und er wird mit Feuer und Schwefel gequält werden vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm.“)
  • Markus 1,24 „und sprach: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus, Nazarener? Bist du gekommen, um uns zu verderben? Ich kenne dich, wer du bist: der Heilige Gottes.“ (Ergänzung aus Lukas 4,34 „Ha! Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus, Nazarener? Bist du gekommen, um uns zu verderben? Ich kenne dich, wer du bist: der Heilige Gottes.“)
  • Markus 6,11 „Und welcher Ort irgend euch nicht aufnimmt und wo sie euch nicht hören, von dort geht hinaus und schüttelt den Staub ab, der unter euren Füßen ist, ihnen zum Zeugnis.“ (Ergänzung aus Matthäus 10,15; 11,24 (10:15) Wahrlich, ich sage euch, es wird dem Land von Sodom und Gomorra erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als jener Stadt.“ „(11:24) Doch ich sage euch: Dem Land von Sodom wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als dir.“; Lukas 10,12 „Ich sage euch, dass es Sodom an jenem Tag erträglicher ergehen wird als jener Stadt.“)
  • Markus 10,19 „Die Gebote kennst du: „Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst kein falsches Zeugnis ablegen; du sollst nichts vorenthalten; ehre deinen Vater und deine Mutter.““ (Ergänzung aus Lukas 18,29 „Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlassen hat um des Reiches Gottes willen,“)
  • Markus 13,14 „Wenn ihr aber den Gräuel der Verwüstung stehen seht, wo er nicht sollte – wer es liest, beachte es –, dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen;“ (Ergänzung aus Matthäus 24,15 „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, beachte es –,“)
  • Lukas 8,48 „Er aber sprach zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich geheilt; geh hin in Frieden.“ (Ergänzung aus Matthäus 9,22 „Jesus aber wandte sich um, und als er sie sah, sprach er: Sei guten Mutes, Tochter; dein Glaube hat dich geheilt. Und die Frau war geheilt von jener Stunde an.“)
  • Lukas 8,54 „Er aber ergriff sie bei der Hand und rief und sprach: Kind, steh auf!“ (Ergänzung aus Markus 5,40 „Und sie verlachten ihn. Als er aber alle hinausgeschickt hatte, nimmt er den Vater des Kindes und die Mutter und die, die bei ihm waren, mit und geht hinein, wo das Kind lag.“ und Matthäus 9,25 „Als aber die Menge hinausgeschickt war, ging er hinein und ergriff ihre Hand; und das Mädchen stand auf.“)
  • Lukas 11,44 „Wehe euch! Denn ihr seid wie die verborgenen Grüfte; und die Menschen, die darüber hingehen, wissen es nicht.“ (Anpassung an Matthäus 23,13.15.23.25.27.29 „Wehe aber euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr verschließt das Reich der Himmel vor den Menschen; denn ihr geht nicht hinein, noch lasst ihr die hineingehen, die hineingehen wollen.“ „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr zieht über das Meer und das trockene Land, um einen Proselyten zu machen; und wenn er es geworden ist, macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr.“ „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr verzehntet die Minze und den Dill und den Kümmel und habt die wichtigeren Dinge des Gesetzes beiseite gelassen: das Gericht und die Barmherzigkeit und den Glauben. Diese aber hättet ihr tun und jene nicht lassen sollen.“ „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr reinigt das Äußere des Bechers und der Schüssel, innen aber sind sie voll von Raub und Unenthaltsamkeit.“ „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr gleicht übertünchten Gräbern, die von außen zwar schön scheinen, innen aber voll von Totengebeinen und aller Unreinigkeit sind.“ „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten“)
  • Johannes 6,69 „und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist.“ (Angleichung an Matthäus 16,16 „Simon Petrus aber antwortete und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“)
  • Apostelgeschichte 9,5.6 (5) Er aber sprach: Wer bist du, Herr? Er aber sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. (6) Steh aber auf und geh in die Stadt, und es wird dir gesagt werden, was du tun sollst.“ (Erweiterungen nach Apostelgeschichte 22,7-10; 26,14 (22:7) Und ich fiel zu Boden und hörte eine Stimme, die zu mir sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich? (22:8) Ich aber antwortete: Wer bist du, Herr? Und er sprach zu mir: Ich bin Jesus, der Nazaräer, den du verfolgst. (22:9) Die aber bei mir waren, sahen zwar das Licht [und wurden von Furcht erfüllt], aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht. (22:10) Ich sprach aber: Was soll ich tun, Herr? Der Herr aber sprach zu mir: Steh auf und geh nach Damaskus, und dort wird dir von allem gesagt werden, was dir zu tun verordnet ist.“ „(26:14) Und als wir alle zur Erde niedergefallen waren, hörte ich eine Stimme in hebräischer Mundart zu mir sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Es ist hart für dich, gegen den Stachel auszuschlagen.“)
  • 1. Korinther 10,28 „Wenn aber jemand zu euch sagt: Dies ist als Opfer dargebracht worden, so esst nicht, um dessentwillen, der es anzeigt, und um des Gewissens willen,“ (Ergänzung nach Vers 26)

Andere Harmonisierungen entstanden dadurch, dass man an neutestamentlichen Stellen, die Zitate aus dem Alten Testament enthalten, die Form mehr an die Schreibweise des Alten Testaments anpassen wollte, um die neutestamentlichen Schreiber von dem vermeintlichen Vorwurf zu reinigen, sie hätten ungenau zitiert. Solche späteren „Verbesserungen“ findet man zum Beispiel in:

  • Matthäus 2,18 „„Eine Stimme ist in Rama gehört worden, Weinen und viel Wehklagen: Rahel beweint ihre Kinder, und sie wollte sich nicht trösten lassen, weil sie nicht mehr sind.““ (siehe Jer 31,15 „So spricht der HERR: Eine Stimme wird in Rama gehört, Wehklage, bitteres Weinen. Rahel beweint ihre Kinder; sie will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder, weil sie nicht mehr sind.“)
  • Matthäus 15,8 „„Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir.“ (siehe Jes 29,13 „Und der Herr hat gesprochen: Weil dieses Volk sich mit seinem Mund naht und mich mit seinen Lippen ehrt und sein Herz fern von mir hält und ihre Furcht vor mir angelerntes Menschengebot ist:“)
  • Johannes 2,17 „Seine Jünger aber erinnerten sich daran, dass geschrieben steht: „Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren.““ (siehe Ps 69,9 „Entfremdet bin ich meinen Brüdern und ein Fremder geworden den Söhnen meiner Mutter.“)
  • Römer 13,9 „Denn das: „Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren“, und wenn es irgendein anderes Gebot gibt, ist in diesem Wort zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.““ (siehe 2Mo 20,16 „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten.“ und 5Mo 5,20 „Und du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten.“)

c) Angleichungen an Bekanntes

Eine häufige Form der Veränderung entstand dann, wenn ein Schreiber (bewusst oder unbewusst) eine seltene Form an eine gewohnte, häufige Form anpasste. Zum Beispiel wurde in späteren Handschriften manchmal der ungewohnte Name „Christus Jesus“ in die gewohnte Reihenfolge „Jesus Christus“ verändert.

d) Vermeintliche Beseitigung von Fehlern

Wenn der Abschreiber einer Handschrift einen Fehler in seiner Vorlage zu finden glaubte, konnte er leicht der Versuchung erliegen, eine „Verbesserung“ durchzuführen.

Ein bekanntes Beispiel für diesen Fall findet man in Johannes 1,28 „Dies geschah in Bethanien, jenseits des Jordan, wo Johannes taufte.“. Dort heißt der Ort, an dem Johannes taufte, in fast allen Handschriften „Bethanien“. Einige Handschriften lesen jedoch „Betharaba“ oder „Bethabara“[2]. Der alte Kirchenschriftsteller Origines (ca. 185–254 n.Chr.) schrieb einen Kommentar zum Johannesevangelium, in dem er Folgendes anmerkte[3]:

Wir wissen wohl, dass fast in allen Handschriften steht: „Dies geschah in Bethania“; es scheint dies auch früher der Fall gewesen zu sein, und auch bei Herakleon[4] haben wir „Bethanien“ gelesen. Wir haben uns aber überzeugt, dass nicht „Bethanien“ zu lesen ist, sondern „Bethabara“, als wir nämlich an Ort und Stelle waren und den Spuren Jesu und Seiner Jünger und der Propheten nachgingen. Bethanien nämlich, die Heimat des Lazarus, der Martha und Maria, ist, wie derselbe Evangelist sagt, von Jerusalem 15 Stadien entfernt;[5] von ihm ist der Jordanfluss wohl 180 Stadien weit abliegend. Es gibt aber auch kein zweites, gleichnamiges Bethanien am Jordan; dagegen zeigt man am Ufer des Jordan den Ort Bethabara, wo Johannes, wie man erzählt, getauft hat.

Origines (oder schon Schreiber vor ihm) ließen sich also durch eine vermeintliche geographische Ungenauigkeit dazu bewegen, das sehr gut bezeugte „Bethanien“ in „Bethabara“ zu ändern. Dabei sind die Beanstandungen von Origines beim näheren Hinsehen nicht stichhaltig: Der Evangelist Johannes meinte mit dem Ort „Bethanien“, an dem Johannes der Täufer wirkte, nicht dasselbe „Bethanien“, in dem Maria, Martha und Lazarus wohnten. Das geht aus einem Vergleich von Johannes 10,40-42 (40) Und er ging wieder weg auf die andere Seite des Jordan an den Ort, wo Johannes zuerst taufte, und er blieb dort. (41) Und viele kamen zu ihm und sagten: Johannes tat zwar kein Zeichen; alles aber, was Johannes von diesem gesagt hat, war wahr. (42) Und viele glaubten dort an ihn.“ und Johannes 11,1.18 „Es war aber ein Gewisser krank, Lazarus von Bethanien, aus dem Dorf der Maria und ihrer Schwester Martha.“ „Bethanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien weit;“ hervor. Heute wird allgemein angenommen, dass es zwei verschiedene Orte namens „Bethanien“ gab, von denen Origines nur den einen kannte.

Ein ähnlicher Fall scheint in Lukas 24,13 „Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tag in ein Dorf, mit Namen Emmaus, sechzig Stadien von Jerusalem entfernt.“ vorzuliegen. Dort haben einige Handschriften aus den „60 Stadien“ Entfernung zwischen Emmaus und Jerusalem „160 Stadien“ gemacht. Es gab mehrere Orte mit Namen Emmaus, aber diese Schreiber kannten wohl nur das weiter entfernte und wollten eine scheinbare Ungenauigkeit verbessern.

e) Verbesserung der Eindeutigkeit

Um die Eindeutigkeit eines biblischen Textes zu erhöhen, wurden manchmal Personalpronomen ersetzt. Besonders oft geschah das am Anfang von Bibelabschnitten, die im Gottesdienst vorgelesen wurden. Es war für die Zuhörer nicht sehr angenehm, wenn eine Vorlesung mit einem unbestimmten „er“ oder „sie“ anfing. Auch sonst sollte durch „Ergänzungen“ dieser Art der Text eindeutiger gemacht werden. Man findet deshalb zum Beispiel einige Stellen in den Evangelien, bei denen die alten Handschriften „Und er sprach“ lesen, in jüngeren Handschriften jedoch oft steht: „Und Jesus sprach“. Heute wird manchmal den alten Handschriften der Vorwurf gemacht, sie hätten den Namen Gottes oder des Herrn Jesus bewusst ausgelassen. Aber diese Anschuldigungen sind leicht widerlegbar. Denn auch bei anderen Personen als dem Herrn findet man solche späteren Verdeutlichungen, zum Beispiel in Matthäus 8,25; 17,26; 27,23 (8:25) Und [die Jünger] traten hinzu, weckten ihn auf und sprachen: Herr, rette uns, wir kommen um!“ „(17:26) Petrus sagt zu ihm: Von den Fremden. Jesus sprach zu ihm: Demnach sind die Söhne frei.“ „(27:23) Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien übermäßig und sagten: Er werde gekreuzigt!“; Markus 5,12 „Und sie baten ihn und sprachen: Schicke uns in die Schweine, dass wir in sie fahren.“; Lukas 1,28; 22,62 (1:28) Und er kam zu ihr herein und sprach: Sei gegrüßt, Begnadete! Der Herr ist mit dir.“ „(22:62) Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“; Johannes 1,29 „Am folgenden Tag sieht er Jesus zu sich kommen und spricht: Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“; Apostelgeschichte 9,19.26; 11,25; 12,13.20; 18,1; 23,34; 28,17 (9:19) Und nachdem er Speise zu sich genommen hatte, wurde er gestärkt.Er war aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus.“ „(9:26) Als er aber nach Jerusalem gekommen war, versuchte er, sich den Jüngern anzuschließen; und alle fürchteten sich vor ihm, da sie nicht glaubten, dass er ein Jünger sei.“ „(11:25) Er zog aber aus nach Tarsus, um Saulus aufzusuchen;“ „(12:13) Als er aber an die Tür des Hoftores klopfte, kam eine Magd, mit Namen Rhode, herbei, um zu horchen.“ „(12:20) Er war aber sehr ergrimmt gegen die Tyrer und Sidonier. Sie kamen aber einmütig zu ihm, und als sie Blastus, den Hofbeamten des Königs, überredet hatten, baten sie um Frieden, weil ihr Land von dem königlichen ernährt wurde.“ „(18:1) Danach schied er von Athen und kam nach Korinth.“ „(23:34) Als er es aber gelesen und gefragt hatte, aus welcher Provinz er sei, und erfahren, dass er aus Zilizien sei,“ „(28:17) Es geschah aber nach drei Tagen, dass er die, welche die Ersten der Juden waren, zu sich zusammenrief. Als sie aber zusammengekommen waren, sprach er zu ihnen: Brüder! Ich, der ich nichts gegen das Volk oder die väterlichen Gebräuche getan habe, bin gefangen aus Jerusalem in die Hände der Römer überliefert worden,“.

Überhaupt ist es ein Trugschluss, dass der Text, der den Namen des Herrn Jesus häufiger oder ausführlicher erwähnt, der zuverlässigere Text ist. Die Verwendung von Namen und Titeln Gottes und des Herrn Jesus geschieht in der Heiligen Schrift nach einem göttlich vollkommenen System: Niemals wird ein Name oder Titel ausgelassen, aber es wird auch niemals einer zu viel verwendet. Allein das Zählen, in welchem Text der Name „Jesus“ öfter vorkommt, kann überhaupt nicht helfen, den „wahren“ von dem „falschen“ Text zu scheiden. Es kommt sogar vor, dass in einzelnen Bibelbüchern der Name Gottes selbst (fast) unerwähnt bleibt (z.B. im Buch Esther[6] oder im Hohelied) – aber das alles geschieht immer mit göttlich vollkommener Ordnung, mit Plan und System. Welche Textvariante die korrekte ist, kann nicht durch Zählen, sondern durch Abwägen ermittelt werden.[7]

f) Vermeidung von Anstößigem

Texte, die man für anstößig oder zu gewagt hielt, hat man natürlich leicht verändert. So hat man zum Beispiel aus dem „Leichnam“ von Johannes dem Täufer lieber den „Leib“ von Johannes gemacht (Mt 14,12 „Und seine Jünger kamen herzu, hoben den Leichnam auf und begruben ihn. Und sie kamen und berichteten es Jesus.“) usw.

g) Erklärende Zusätze oder Änderungen

Manchmal wurden längere Ergänzungen hinzugefügt. Zuweilen wollte man offensichtlich den Bibeltext bewusst um eine biblische Lehre „bereichern“. Beispielsweise setzte man später hinter fast jedes neutestamentliche Buch das Wort „Amen“. Oder man erweiterte das „beten“ in 1. Korinther 7,5 „Entzieht euch einander nicht, es sei denn etwa nach Übereinkunft eine Zeit lang, um zum Beten Muße zu haben; und kommt wieder zusammen, damit der Satan euch nicht versuche wegen eurer Unenthaltsamkeit.“ zu „fasten und beten“.

Solche Zusätze führen nicht nur zu einer Verfälschung des Textes. Teilweise werden auch unbiblische Gedanken eingeführt. Zumindest stören diese Einfügungen den Zusammenhang. Beispielweise wurde das sogenannte Vaterunser in der alten Kirche als Gebetsformel verwendet. Es war nun sehr unpraktisch, dass das Gebet in Matthäus 6 eine andere Gestalt hatte als in der Parallelstelle in Lukas 11. Um das Gebet zu vereinheitlichen, hat man kurzerhand die (kürzere) Fassung von Lukas 11 mit Zutaten aus Matthäus 6 „bereichert“. Man hat nicht verstanden, dass das „Vaterunser“ kein formelhaftes Gebet sein sollte und deshalb gar nicht formal gleich sein musste, ja gar nicht sein durfte. Man hat nicht gesehen, dass die verschiedenen Fassungen bei Matthäus und Lukas in Wirklichkeit wichtige Aufschlüsse über den Charakter der beiden Evangelisten geben. Der Satz „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden“ steht zum Beispiel nur bei Matthäus, weil er eine treffende Schilderung der Verhältnisse des Tausendjährigen Reiches bietet.

Ein anderes bekanntes Beispiel steht in 1. Johannes 5,7.8: „Denn drei sind es, die Zeugnis ablegen im Himmel: der Vater, das Wort und der heilige Geist, und diese drei sind eins; und drei sind es, die Zeugnis ablegen auf der Erde: der Geist und das Wasser und das Blut.“ Die kursiv gedruckten Worte fehlen in fast allen griechischen Handschriften, nur ganz wenige (durchgehend sehr junge) Handschriften haben diesen Zusatz.[8] Offensichtlich wollte man die Stelle mit den „drei Zeugen“ nutzen, um die Lehre der Dreieinheit Gottes[9] hier zusätzlich einzufügen. Diese Lehre ist zwar an sich biblisch, hat jedoch an dieser Stelle keine Berechtigung.[10] Man erkennt das nicht nur an der schlechten Bezeugung dieser eingefügten Worte, sondern auch aus inneren Gründen. Die Bibel spricht nämlich nie in einem Atemzug von dem „Vater“ und dem „Wort“, sondern immer von „Gott“ und dem „Wort“. Außerdem ist es ein völlig unsinniger Gedanke, dass jemand oder etwas im Himmel „Zeugnis ablegen“ müsse. Dort gibt es keinen Unwissenden, dem etwas bezeugt werden müsste. Aus den drei Zeugen sind im erweiterten Text sechs Zeugen geworden, von denen der Heilige Geist sogar doppelt (im Himmel und auf der Erde) erwähnt wird.

Spätere Änderungen verraten sich also manchmal dadurch, dass sie einen unbiblischen Gedanken einführen. Manchmal zeigen solche Änderungen oder Zusätze auch, dass man den Bibeltext nicht verstanden hat. Die Schärfe der biblischen Aussagen wurde zum Beispiel gemildert, indem man aus Aussagen Aufforderungen oder Wünsche machte (z.B. in 2Tim 4,14 „Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses erwiesen; der Herr wird ihm vergelten nach seinen Werken.“; 1Pet 5,10 „Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus [Jesus], nachdem ihr eine kurze Zeit gelitten habt, er selbst wird [euch] vollkommen machen, befestigen, kräftigen, gründen.“ oder 1Joh 2,27 „Und ihr, die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehrt, sondern wie dieselbe Salbung euch über alles belehrt und wahr ist und keine Lüge ist und wie sie euch belehrt hat, so bleibt in ihm.“)

h) Streichungen

Abschreiber haben den Text nicht nur um Zusätze erweitert, sondern manchmal auch Wörter oder Sätze, die ihnen falsch zu sein schienen, aus dem Text entfernt. Ein Beispiel dafür findet man in 1. Korinther 9,20 „Und ich bin den Juden geworden wie ein Jude, damit ich die Juden gewinne; denen, die unter Gesetz sind, wie unter Gesetz (obwohl ich selbst nicht unter Gesetz bin), damit ich die, die unter Gesetz sind, gewinne;“. Dort lesen die alten Handschriften: „obwohl ich selbst nicht unter Gesetz bin“. Zur Zeit des Mittelalters, als die Rolle des Gesetzes nur selten richtig verstanden wurde, glaubten viele, das Gesetz sei die Lebensregel für den Christen. Der Satz von Paulus musste ihnen dabei unglaubhaft und unbequem sein und so wurde er kurzerhand weggelassen.

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Anmerkungen

[1] Das Alter von Handschriften ist manchmal durch Angabe des Schreibers bekannt. Oft muss es aber aus der Form und Art der Handschrift (Schreibmaterial, Tinte, besonders Buchstabenform) erschlossen werden.

[2] Die Lesart „Bethabara“ hat trotz ihrer schlechten Bezeugung auch Eingang in den Textus Receptus gefunden, jedenfalls in allen fünf Auflagen von Erasmus und in allen Ausgaben von Elzevir und von Beza. Stephanus hatte in seinen ersten beiden Auflagen (von 1546 und 1549) noch „Bethanien“, passte sich in den beiden letzten Auflagen (von 1550 und 1551) jedoch der Lesart „Bethabara“ an.

[3] Kapitel 6,24.

[4] Herakleon lebte Mitte des 2. Jahrhunderts und hatte einen Kommentar zum Johannesevangelium geschrieben, den Origines noch kannte, der heute aber verloren ist.

[5] Origines bezieht sich auf Johannes 11,18 „Bethanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien weit;“.

[6] Der Name Gottes kommt im gesamten Buch Esther nirgends vor. Bemerkenswert ist nun, dass die Juden offenbar schon früh an dieser Tatsache Anstoß nahmen und bei der Übersetzung des Buches Esther ins Griechische etliche Verse oder Versteile in das Buch Esther einfügten, die den Namen Gottes enthielten. Diese erweiterte (griechische) Fassung ist apokryph, ist aber trotzdem in die lateinische Bibel und bis heute in die katholischen Bibeln (z.B. die „Einheitsübersetzung“) eingedrungen. Welche Fassung ist nun die richtige? Nun, diejenige, die den Gottesnamen überhaupt nicht enthält, nämlich die hebräische Fassung ist die ursprüngliche – und die scheinbare Nichterwähnung Gottes passt auch ganz treffend zum Wesen des Buches Esther, in dem Gott nicht direkt, sondern sozusagen unsichtbar im Hintergrund wirkt.

[7] In den Anhängen findet man dazu auch einige Fälle. Beispielsweise ist in 2. Timotheus 2,19 „Doch der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die sein sind; und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!“ die Lesart „Herr“ (fast alle Handschriften) aus inhaltlichen Gründen der Lesart „Christi“ (Textus Receptus) vorzuziehen.

[8] Trotzdem ist diese äußerst schlecht bezeugte Lesart in den sogenannten Textus Receptus eingedrungen. Sie fehlte noch in den ersten beiden Ausgaben von Erasmus (und deshalb auch in den frühen Lutherbibeln), wurde aber in der dritten Ausgabe von Erasmus aufgenommen. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil die spärlichen handschriftlichen Bezeugungen des Zusatzes noch dazu untereinander vielfach verschieden sind. Keine einzige griechische Handschrift vor 1520 hat genau den Text, der später von Erasmus und den von ihm abhängigen Ausgaben gedruckt wurde. Detaillierte Hinweise und Nachweise über die Unechtheit des Zusatzes findet man bei M. Heide (Der einzig wahre Bibeltext?, Nürnberg (VTR) 2002, S. 42–70). In die Bibelausgaben Luthers sind zu dessen Lebzeiten die zusätzlichen Worte nicht aufgenommen worden. Erst seit 1581 wurden sie langsam in die Lutherbibeln aufgenommen.

[9] Im Himmel zeugten dann der Vater und der Heilige Geist, auf der Erde der Geist und der Sohn (Wasser und Blut als ein Symbol des dahingegebenen Lebens des Sohnes Gottes).

[10] Übrigens gab es in der alten Kirche sehr viele theologische Auseinandersetzungen über die Dreieinheit, man hat dazu aber die Verse aus 1. Johannes 5,7.8 (7) Denn drei sind es, die Zeugnis ablegen: (8) der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind einstimmig.“ nicht herangezogen – was doch völlig unverständlich ist, wenn diese Lesart damals schon bekannt gewesen wäre.


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

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