Die sogenannten wissenschaftlichen Ausgaben der Textforschung gehen anders als der Mehrheitstext und der Textus Receptus vor. Vertreter dieser Methode erklären nicht einfach einen von vielen Texten zum autoritativen Text, wie es die Vertreter des Textus Receptus tun. Sie haben auch nicht die Überzeugung, dass die Mehrheit der Handschriften notwendigerweise richtig sein muss, wie es – vereinfacht gesagt – die Verteidiger des Mehrheitstextes tun. Sie versuchen vielmehr, bei der Suche nach dem „ursprünglichen Text“ eine ganze Anzahl von Kriterien zu berücksichtigen, die in den Kapiteln (3)–(8) kurz skizziert wurden. Herausgeber von wissenschaftlichen Ausgaben prüfen jede einzelne Bibelstelle für sich. Denn ihrer Ansicht nach gibt es keine allgemeine Regel, die man immer anwenden könnte.
Heute ist die mit Abstand bedeutendste wissenschaftliche Ausgabe die Textausgabe von Nestle-Aland, die von einem Stab von zahlreichen Mitarbeitern und Experten durchgeführt wird. Das „Institut für neutestamentliche Textforschung“ in Münster besitzt Originale oder Fotos (meistens Mikroverfilmungen) aller bekannten Handschriften und geht Einzelfragen in mühsamer Kleinarbeit nach.
Aufgrund der besonderen Sorgfalt von wissenschaftlichen Textausgaben wie zum Beispiel der Textausgabe von Nestle-Aland muss diesen schon vom Grundsatz her viel Beachtung geschenkt werden. Umfangreiche Fußnoten im Nestle-Aland geben dem Leser beispielsweise selbst die Möglichkeit, Entscheidung über die jeweils bevorzugte Lesart zu treffen.
Es ist nicht zutreffend, wie oft behauptet wird, dass Nestle-Aland immer die Bezeugung der ältesten Handschriften vorzieht und den jüngeren Handschriften kaum Beachtung schenkt. Ein bekanntes Gegenbeispiel findet man in Römer 5,1. Dort lesen die meisten ältesten Handschriften: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so sollten (oder: mögen) wir Frieden mit Gott haben.“ Die unbestimmte Formulierung des zweiten Satzteils passt aber offensichtlich nicht in den Zusammenhang des ersten Satzteils, der eine triumphierende Glaubensgewissheit ausstrahlt. Nestle-Aland hat sich deshalb gegen das Zeugnis der meisten alten Handschriften für die Lesart „so haben wir Frieden mit Gott“ entschieden. Die Wahl wird vornehmlich mit inneren Gründen erklärt.[1]
Kritik am Nestle-Aland
Leider hat man oftmals den inneren Gründen bei vielen Entscheidungen von Nestle-Aland kein solches Gewicht geschenkt. Anderen Gründen wurde häufig mehr Gewicht beigemessen. Es gibt deshalb eine ganze Reihe von Stellen, bei denen die Textauswahl von Nestle-Aland in Frage gestellt werden muss. Allerdings muss bei dieser Textkritik Nestle-Alands beachtet werden, dass diese Ausgabe insofern einen Vorzug vor dem Textus Receptus und dem Mehrheitstext aufweist, als auf andere Lesarten einzelner Handschriften in den Fußnoten hingewiesen wird. Dadurch kann sich jeder wissenschaftliche oder auch interessierte Leser selbst ein Bild der Entscheidung von Nestle-Aland machen und zugleich eine eigene Entscheidung treffen.
Es folgen zwei Fälle, die beispielhaft klarmachen sollen, weshalb man in einigen Fällen nicht der Textauswahl von Nestle-Aland gefolgt ist. Der interessierte Leser findet im Anhang noch einige weitere solche kommentierte Fälle.
In Apostelgeschichte 16,12 sind die Herausgeber der Elberfelder 2003 nicht der Textfassung gefolgt, die Nestle-Aland vertritt, weil dieser Text in keiner einzigen griechischen Handschrift vertreten ist! Lediglich einige wenige lateinische Handschriften haben sie. Eine solche Textauswahl ist nicht zulässig. In Apostelgeschichte 16,28 und 17,3 ist Nestle-Aland dem Zeugnis von nur einer einzigen griechischen Handschrift gefolgt, was ebenfalls sehr fragwürdig ist.[2] Die Heilige Schrift betont immer wieder, dass zum ausreichenden Bezeugen einer Tatsache zwei oder drei Zeugen notwendig sind (4Mo 35,30; 5Mo 17,6; 19,15; Mt 18,16; Joh 8,17; 2Kor 13,1; 1Tim 5,19). Das ist in diesen Fällen des Nestle-Aland jedoch nicht gegeben. Es muss andererseits betont werden, dass solche Stellen in Nestle-Aland sehr selten sind, und moderne Textkritiker haben sich schon dagegen ausgesprochen.[3]
In 2. Korinther 5,3 liest die große Mehrheit der älteren und neueren Handschriften: „Sofern wir allerdings, wenn wir auch bekleidet sind, nicht für nackt befunden werden.“ Eine griechische Handschrift und zwei lateinische Handschriften lesen hier jedoch „entkleidet“ statt „bekleidet“. Diese äußerlich sehr schlecht bezeugte Lesart hat trotzdem Eingang in den Nestle-Aland gefunden, weil man die Lesart „bekleidet“ für eine spätere Verbesserung hielt. In Wirklichkeit ist die Lesart „entkleidet“ hier jedoch nicht nur äußerst schlecht bezeugt. Sie zerstört auch den Sinn der Stelle, den die Herausgeber von Nestle-Aland möglicherweise nicht intensiv untersucht haben.
Ungläubige Wissenschaftler
Wenn man einerseits nicht leugnen kann, dass die theologische Grundlegung der modernen Textforscher hinterfragt werden sollte, so ist es doch andererseits irreführend, wenn man Nestle-Aland und dem Institut für neutestamentliche Textforschung vorwirft, dass dort ungläubige Wissenschaftler freiherrliche Entscheidungen über den heiligen Text des Wortes Gottes treffen. Es kann zwar nicht grundsätzlich bezeugt werden, dass alle Mitarbeiter (und von Anfang an) dieses wissenschaftlichen Teams Jesus Christus als ihren persönlichen Retter angenommen haben. Aber gleiches ließe sich ebenfalls gegen alle anderen zuvor besprochenen Grundtextvarianten einwenden.
Hinzu kommt, dass bei Nestle-Aland zunächst einmal eine relativ wertneutrale Lesartensammlung vorliegt.[4] Das ist der große Verdienst dieser wissenschaftlichen Ausgabe. Erst im zweiten Schritt – und für den Leser nachvollziehbar – werden dann Entscheidungen über den vermuteten ursprünglichen Text getroffen, die zweifellos interpretatorischen Charakter tragen. Das trifft jedoch auch auf Textus Receptus und Mehrheitstext zu. Allerdings hat Nestle-Aland, wie erwähnt, den Vorzug, dass die Entscheidungen und insbesondere andere Lesarten transparent gemacht worden sind, so dass eigene Entscheidungen möglich sind. Das ist bei den beiden anderen genannten Grundtextversionen nicht in gleichem Maß möglich.
Anmerkungen
[1] Siehe B.M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994, S. 452.
[2] Siehe auch die Anmerkungen zu 2. Korinther 5,3.
[3] So schreibt zum Beispiel der berühmte Textforscher Bruce M. Metzger in seinem bekannten A Textual Commentary on the Greek New Testament zu Apostelgeschichte 16,12, dass man schlecht beraten sei, die gewöhnliche Lesart aufzugeben. Apostelgeschichte 16,12 scheint übrigens die einzige Stelle zu sein, in der Nestle-Aland keine einzige griechische Handschrift für die Auswahl angeben kann.
[4] Das gilt besonders für die Großausgaben der Editio Critica Major, die die Lesart aller bekannten Handschriften aufzulisten sucht, während sich die bekannten Handausgaben aus Platzgründen auf eine Auswahl an Handschriften (und Lesartvarianten) beschränken müssen. (Aus diesem Grund sollte man sich auch davor hüten, aus dem Fehlen einer Lesartvariante in den Fußnoten von Nestle-Aland den Schluss zu ziehen, eine solche Variante habe es nicht gegeben, oder sie sei mit keinen Handschriften zu belegen.)